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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Rückblick auf die Asyl-Debatte im Deutschen Bundestag vor 15 Jahren

Ulla Jelpke, MdB

Am 26. Mai 1993 ereignete sich eine denkwürdige Debatte im Deutschen Bundestag. Sie dauerte von 9 Uhr morgens bis 22.53 Uhr abends und hatte eigentlich nur einen Tagesordnungspunkt: Verhandelt wurde über die Änderung des Grundrechts auf Asyl nach Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG, sowie über begleitende Gesetzesverschärfungen im Bereich Asyl, darunter die Einführung eines eigenständigen Sozialgesetzes für Asylsuchende, das Asylbewerberleistungsgesetz. Außerhalb des Parlaments hatten sich zehntausende Menschen – von ParlamentarierInnen der CDU/CSU in Zwischenrufen kurzerhand als "Chaoten" bezeichnet – zum Protest gegen diesen tiefen Einschnitt in das Grundgesetz versammelt. NATO-Draht und rund 4.000 Polizisten sicherten die Parlamentsdebatte ab.

Position der CDU/CSU

Der erste Redner der CDU/CSU war ein "alter Bekannter": Dr. Wolfgang Schäuble rechtfertigte die Änderung des Grundgesetzes als im Rahmen der "Harmonisierung des Asylrechts in Europa zwingend notwendig" und "wichtig für den inneren Frieden in unserem Land" (Plenarprotokoll 12/160, S. 13503 ff). Er sprach von "Mißbrauch", "Schlepperbanden" und davon, daß "auch in der Asylpolitik am deutschen Wesen die Welt nicht genesen sollte". Nein, Europa "schottet sich nicht ab", hieß es, und: "Wir verlagern … unsere Probleme auch nicht auf unsere Nachbarn in Europa. … Wir wollen … ja nichts anderes als eine faire Lastenverteilung in Europa …".

Heute wissen wir es besser. Wolfgang Schäuble sagte die Unwahrheit. Die deutsche Asylrechtsänderung war der Ausgangspunkt eines langen Prozesses der gemeinsamen europäischen Abschottung vor Flüchtlingen, die immer mehr Menschen auf der Flucht nach Europa das Leben kosten sollte. Die Verpflichtung zum Flüchtlingsschutz wurde durch die Drittstaatenregelung systematisch auf die Nachbarstaaten Deutschlands abgewälzt. Folgerichtig versuchen inzwischen die europäischen Länder, ihre Verantwortung außereuropäischen Transitstaaten, vor allem in Nordafrika und Osteuropa, aufzubürden. Von einer "fairen Lastenverteilung in Europa" kann schon gar keine Rede sein: gerade die Prinzipien der Lastenteilung in der EU (entsprechend der Dublin-Verordnung) sorgen für eine völlig einseitige Belastung insbesondere der südlichen und östlichen Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Einen fairen Ausgleichsmechanismus gibt es nicht. Die Bundesrepublik Deutschland mag Anfang der 90er Jahre überdurchschnittlich viele Asylanträge verzeichnet haben – inzwischen liegt die Zahl der Asylgesuche in Deutschland relativ zur Bevölkerungszahl bei lediglich einem Fünftel des EU-Durchschnitts!

Position der SPD

Der erste Redner der SPD, Hans-Ulrich Klose, sagte im Mai 1993 im Parlament: Entscheidend sei doch, daß Abs. 1 immer noch laute: "Politisch Verfolgte genießen Asylrecht" (a.a.O., 13507 ff) – und er unterschlug, daß die nachfolgenden Absätze des Art. 16a GG dieses vollmundige Asylversprechen systematisch wieder zurücknehmen. Schäuble hatte behauptet, wer von "Abschaffung des Asylrechts" spreche, sage "nicht die Wahrheit" – doch für die übergroße Mehrheit aller über die Landesgrenzen nach Deutschland einreisenden Flüchtlinge gibt es infolge der Drittstaatenregelung faktisch kein Grundrecht auf Asyl mehr. Realitätsblind behauptete Klose zur Rechtfertigung der Drittstaatenregelung, daß Polen und Tschechien "geordnete Verfahren und vergleichbare Standards" im Asylrecht böten. Nach dem selben Muster – weil nicht sein darf, was nicht sein soll – wird aktuell zum Beispiel auch Griechenland von der Bundesregierung als "sicherer Drittstaat" bezeichnet, obwohl es ernstzunehmende Berichte über massive Verstöße gegen die Menschenrechte und erhebliche Verstöße gegen den Grundsatz eines fairen Asylverfahrens in Griechenland gibt.

Anders als Schäuble verwies Klose in der Debatte allerdings auch auf die Zweifel in den Reihen der SPD, und in einem zentralen Punkt ging er sogar von der Verfassungswidrigkeit eines Teils des "Asylkompromisses" aus (kein vorläufiger Rechtsschutz im Rahmen der Drittstaatenregelung).

Ein anderer Bestandteil des so genannten "Asylkompromisses" vom November 1992 war die Schaffung einer Aufenthaltsregelung für Bürgerkriegsflüchtlinge außerhalb des Asylverfahrens. Klose erinnerte im Parlament daran, daß immer noch Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge "künstlich in das Asylverfahren hineingedrückt" und die Asylbewerberzahlen auf diese Weise "künstlich aufgebläht" würden. Und er versprach: "Wir, die SPD-Bundestagsfraktion, werden auf das Thema beharrlich und immer wieder zurückkommen". In Wirklichkeit aber blieb die Neuregelung für Kriegsflüchtlinge (§ 32a AuslG), die der SPD als Feigenblatt für ihre Zustimmung zur Asylrechtsänderung diente, ein Papiertiger: In den zwölf Jahren ihres Bestehens wurde der Paragraph nur ein einziges Mal angewandt (1999 bei der zeitlich befristeten Aufnahme von ca. 15.000 Flüchtlingen aus dem Kosovo). Daß sich die SPD "beharrlich" für die Aufnahme von Kriegsflüchtlingen – als "Kompensation" für die Verstümmelung des individuellen Grundrechts auf Asyl – eingesetzt hätte, kann im Rückblick niemand ernsthaft behaupten.

Position der PDS

Die PDS / Linke Liste lehnte – ebenso wie die Fraktion Bündnis 90 / Die Grünen – die Asylrechtsänderung als populistisches Vorhaben einer punktuellen Großen Koalition von CDU/CSU/SPD/FDP zur "Instrumentalisierung von Vorurteilen und latentem Rassismus" ab. Gregor Gysi rief die ParlamentarierInnen 1993 auf: "Sagen Sie nein zur Liquidierung einer der wichtigsten Konsequenzen aus dem mörderischen Naziregime!" (a.a.O., 13514 ff) – denn "Millionen Menschen, die aus Deutschland flüchten wollten, insbesondere Juden, hätten gerettet werden können, wenn es in anderen Staaten ein individuelles Recht auf Asyl gegeben hätte". Er erinnerte die Abgeordneten der SPD an die "Tradition der Sozialdemokratie", die "Internationalismus" und die Pflicht, "sich für sozial Schwache und Benachteiligte einzusetzen", enthalte, "aber nicht Nationalismus, nicht Abschottung, nicht Einschränkung von Grundrechten". Gregor Gysi wies in seiner auch nach 15 Jahren noch stimmigen Rede darauf hin, daß es "moralisch höchst fragwürdig [ist], vom Elend und Hunger in der sogenannten Dritten Welt zu profitieren und gleichzeitig Mauern gegen die Flüchtlinge aus ihr hochzuziehen". Und er beschrieb die mörderische Dynamik der damaligen hysterischen Asyldebatte, denn um eine Entsolidarisierung mit den Schutzsuchenden zu erreichen, "wurde den Menschen Angst gemacht …, und nachdem diese Angst erzeugt ist, begründet man seine Entscheidung mit dieser Angst. … Es waren Politikerinnen und Politiker, die die Begriffe von Scheinasylanten, von Flüchtlingsströmen, von Wirtschaftsflüchtlingen, vom Asylmißbrauch, von asylfreien Zonen, von Durchmischung und Durchrassung und das schlimme Wort vom Staatsnotstand in die Debatte brachten, und solche Worte zeigen Wirkung. All jene, die in der beschriebenen Art und Weise die Asyldebatte führten und führen, haben an rassistischen und ausländerfeindlichen Pogromen als intellektuelle Urheber ihren Anteil".

Selbst die folgende Provokation Gregor Gysis aus dem Jahr 1993 sollte sich bewahrheiten: "Sie werden es noch erleben: Wer heute der faktischen Abschaffung des Asylrechts zustimmt, muß wissen, daß er Mitverantwortung trägt, wenn eines Tages an den Grenzen auf Flüchtlinge geschossen wird."

Zwar ist es die Ausnahme, daß an den Grenzen auf Flüchtlinge geschossen wird – obwohl auch dies geschieht. Gregor Gysi wollte folgenden Zusammenhang zum Ausdruck bringen: daß die Beseitigung des subjektiven Rechts auf Asyl notwendigerweise einhergeht mit einer Abschottungsmentalität, die Tote an den Grenzen zur Durchsetzung dieser Abschottungspolitik zumindest billigend in Kauf nimmt. Deutschland trägt im Rahmen des europäischen Asylverhinderungssystems mit die Verantwortung dafür, daß in den letzten 15 Jahren vermutlich über 20.000 Menschen auf dem Weg nach Europa an den Außengrenzen der EU ums Leben gekommen sind.

Bewertung im Rückblick

Ich war vor 15 Jahren als Abgeordnete "Zeitzeugin" im Parlament: "Jeder halse seinem Hinterland oder Vorhof seine Probleme auf, damit das gemeinsame Haus der Reichen sauber bleibe. – Das ist der Kern der europäischen Lastenteilung, die vom deutschen Innenminister als neue Solidarität gepriesen wird. Diese westeuropäische Komplizenschaft gegen Süden und Osten besiegeln Sie mit der Zustimmung zu den Asylgesetzen" (a.a.O., 13539), faßte ich damals zusammen – und behielt leider Recht.

Die letzten Worte der über 13stündigen Aussprache im Plenarsaal des Deutschen Bundestages stammten übrigens von Werner Schulz (Bündnis90/Die Grünen). Sie erhielten auch den Beifall von Abgeordneten der PDS / Linke Liste: "Wenn dieses Asylpaket heute durchgeht, verliert das erste gesamtdeutsche Parlament für meine Begriffe seine politische Unschuld."

Der Asylgrundrechtsänderung folgten weitere mehr. Die Substanz eines Grundrechts zu zerstören und nur noch eine bloße Hülle wortreicher Paragraphen aufrechtzuerhalten – das war und ist das Schema einer Politik, die die Menschenrechte und die rechts- und sozialstaatlichen Verpflichtungen unserer Verfassung nur dem Schein nach ernst nimmt.

Vorabdruck aus der demnächst von der Bundestagsfraktion "Die Linke" veröffentlichten Broschüre "15 Jahre faktische Abschaffung Grundrechts auf Asyl – eine Bilanz". Die Broschüre erscheint im Juli und kann über die Fraktion bestellt werden,

Ulla Jelpke ist innenpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE. im Deutschen Bundestag