Rezension: Florian Wilde – Revolutionäre Realpolitik
Tilman Rosenau, Hamburg
(UVK-Verlag) Florian Wilde: Revolution als Realpolitik. Ernst Meyer (1887–1930) – Biographie eines KPD-Vorsitzenden, 29,00 €, 1. Auflage, Konstanz 2018, 452 Seiten. Ernst Meyer war ein führender Akteur der Kommunistischen Partei Deutschlands in der Weimarer Republik.
Die Biographie von Ernst Meyer ist rundherum gelungen. Ein Buch zu schreiben, dass auf personenbezogenen Huldigungen und abschweifige Darstellungen verzichtet, ist bei der behandelten Materie ein schwieriges Unterfangen.
Außer der für die proletarische Geschichtsschreibung bedeutenden Lückenschließung und der überzeugend dargestellten Rolle Meyers im politischen Werden der KPD bis zu seinem Tode 1930 dient das Buch allen historisch Interessierten als gewissenhafte Recherchearbeit. Mehr noch als die Chronologie des Wirkens Meyers und seiner politischen Bewusstwerdung in einer von weltumspannenden revolutionären Prozessen gekennzeichneten Zeit spannt Wilde einen Bogen zur Gegenwart – nicht indem er eine wiederkehrende Ähnlichkeit der Ereignisse versucht zu konstruieren, sondern Grundfragen klassenbewussten Handelns herausschält.
Ausgehend von der zentralen Feststellung, dass sich schon in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts ein Integrationsprozess weiter Teile der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften in die bürgerliche Gesellschaft vollzog, der sich durch zunehmende ökonomische und rechtliche Besserstellung manifestierte, wird die Spaltung der deutschen Sozialdemokratie dargestellt. Der stärkste Ausdruck dieser Arbeiteraristrokratisierung fand sich in der Ablehnung der SPD, im Falle eines drohenden Krieges auf einen präventiven Massenstreik zu orientieren, wie von den englischen und französischen Genossen der Internationale gefordert wurde. (S. 31)
Die infolge der Bewilligung der Kriegskredite durch die SPD-Reichstagsfraktion entstandene Spartakusgruppe schlussfolgerte aus diesem Versagen der Partei: »In der Internationale liegt der Schwerpunkt der Klassenorganisation des Proletariats. … Die Pflicht zur Ausführung der Beschlüsse der Internationale geht allen anderen Organisationspflichten voran.« Im Buch wird herausgearbeitet, dass zum gegebenen Ort und Zeitpunkt die richtige Losung nur heißen konnte: »Klarheit vor Einheit als Voraussetzung zur Gewinnung der Massen.« (S. 56) Zwei Jahre später hatte sich das Kräfteverhältnis so weit verändert, dass auch die Losung sich ändern musste: »Getrennt marschieren, aber … gemeinsame Gegner vereint schlagen.« Dies ermöglichte den Aufbau einer handlungsfähigen Struktur der Gesamtopposition zur SPD-Führung. (S. 73)
Auf Seite 90 spricht Wilde eine Frage an, die sich über das ganze Buch hinstreckt; die Frage der zu wählenden Taktik. Nach Ansicht Liebknechts müsste die Arbeiterschaft ständig in Kampfhandlungen gehalten werden, was die gewerkschaftlichen Obleute für voluntaristisch hielten. Oder auf den Seiten 98/99 die Frage des Selbstverständnisses der Partei durch ein Luxemburg-Zitat: »Der Spartakusbund ist keine Partei, die über der Arbeitermasse oder durch die Arbeitermasse zur Herrschaft gelangen will. Der Spartakusbund ist nur der zielbewussteste Teil des Proletariats, der die ganze breite Masse der Arbeiterschaft bei jedem Schritt auf ihre geschichtlichen Aufgaben hinweist, der in jedem Einzelstadium der Revolution das sozialistische Endziel und in allen nationalen Fragen die Interessen der proletarischen Weltrevolution vertritt.«
Im Zuge der Vereinigung von KPD und USPD spricht Wilde die Entwicklung der Einheitsfrontpolitik an – in der erstmaligen Positionierung durch die Strömung um Paul Levi: »Die KPD dürfe in einer Situation, in der die Mehrheit der Arbeiterschaft ihr nicht folge, ihre Parolen nicht stur und möglichst radikal propagieren, sondern müsse positive Forderungen entwickeln, für die es sich zu kämpfen lohne …« (S. 122).
Auf den Seiten 185 ff. wird ein bedeutendes Kampffeld Meyers behandelt: die innerparteiliche Demokratie. Der demokratische Fortschritt der KPD (1923) zur SPD ist, dass alle Fragen schon im Vorfeld in der Mitgliedschaft kritisch diskutiert sind, so dass die Delegierten tatsächlich vorbereitet auf dem Parteitag entscheiden können. Auf Lenin sich berufend: Freiheit der Diskussion nach innen, Einheit in der Aktion nach außen, und bei der Aktion Unterordnung der Minderheit unter die Beschlüsse der Mehrheit. Drei Zitate von Ernst Meyer hierzu: »Die Wirkung der Kritik muss doch sein, die Organisation schlagkräftiger zu machen, sie innerlich zu festigen und nach außen ihre Position zu erleichtern.« »Das, was die Partei verlangt, ist nur, dass in der Zeit der Aktion alle verschiedenen Auffassungen zugunsten der Aktion schweigen oder zurücktreten, die von der gesamten Partei oder ihren Organen beschlossen ist.« »Wir können nur die Kritik begrüßen, die vom Boden des Kampfes aus geübt worden ist, und wir lehnen von vornherein jede Kritik ab, die abseits der Kämpfenden steht …«
Das von Florian Wilde verfasste Buch bleibt bis zu seinem Ende interessant, spannend und lehrreich.