Zum Hauptinhalt springen
Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Rede auf dem 14. Waldai-Forum am 19. Oktober 2017

Wladimir W. Putin, Präsident der Russischen Föderation

Wladimir Putin nahm an der abschließenden Plenarsitzung des 14. Jahrestreffens des Waldai-Forums mit dem Titel »Die Welt der Zukunft: Über Konflikte zur Harmonie« teil. Wir dokumentieren seine Rede in deutscher Sprache, weil Putins Darlegungen über die dringendsten Fragen der globalen Politik und Wirtschaft von prinzipieller Bedeutung sind und unseren Leserinnen und Lesern zugänglich sein sollen. Selbstredend teilen wir nicht alle geäußerten Positionen, etwa die zur Oktoberrevolution. Zugleich beeindruckt uns die klare Analyse gegenwärtiger Entwicklungen und der Wille, um den Erhalt der Zivilisation zu ringen.

Ich weiß nicht, wie optimistisch das klingen wird, aber ich weiß, Sie hatten in den letzten drei Tagen eine sehr aktive Diskussion. Ich werde versuchen, wie es jetzt üblich geworden ist, mit Ihnen zu teilen, was ich über einige der Fragen denke. Bitte nehmen Sie es nicht übel, wenn ich etwas wiederhole, was bereits gesagt worden ist, wie ich nicht alle Diskussionen verfolgt habe.

Zu Beginn möchte ich Herrn Karzai und Herrn Ma, Herrn Toje, alle unsere Kollegen und Freunde begrüßen, und ich sehe viele vertraute Gesichter in diesem Raum. Es ist eine Freude, Sie alle auf dem Treffen des Waldai Klubs begrüßen zu dürfen.

Traditionell ist dieses Forum den Diskussionen über die dringendsten Fragen der globalen Politik und Wirtschaft gewidmet. Dieses Mal schlugen die Organisatoren, wie bereits erwähnt, eine sehr schwierige Aufgabe vor – über den Tellerrand hinauszuschauen, darüber nachzudenken, was die kommenden Jahrzehnte für Russland und die gesamte internationale Gemeinschaft bringen werden. Natürlich ist es unmöglich, die Chancen und Risiken, denen wir begegnen werden, vollständig vorherzusehen und zu berücksichtigen. Aber wir müssen die wichtigsten Trends verstehen und fühlen, nichttriviale Antworten auf die Fragen suchen, die die Zukunft stellt und uns sicherlich noch stellen wird. Und die Dynamik der Ereignisse ist derart, dass es notwendig ist, ständig und schnell auf diese zu reagieren.

Balance von Zusammenarbeit und Wettbewerb

Die Welt ist in eine Epoche rapider Veränderungen eingetreten. Was vor kurzem noch als Phantasie oder als unrealisierbar angesehen wurde, ist Realität, ist alltäglich geworden. Qualitativ neue Prozesse entfalten sich simultan in allen Bereichen. Die angespannte Dynamik des öffentlichen Lebens in verschiedenen Ländern, die technologische Revolution – all das ist mit Veränderungen in der internationalen Arena verbunden. Die Konkurrenz um einen Platz in der globalen Welthierarchie verschärft sich. Gleichzeitig sind viele der bisherigen Rezepte für Global Governance, Überwindung von Konflikten und natürlichen Widersprüchen nicht mehr anwendbar, sie scheitern häufig und neue sind noch nicht ausgearbeitet.

Natürlich sind die Interessen der Staaten weit davon entfernt, gleich zu sein. Das ist normal, das ist natürlich, das war immer so. Die führenden Mächte haben unterschiedliche geopolitische Strategien und Vorstellungen von der Welt. Dies ist die unveränderliche Essenz der internationalen Beziehungen, die auf der Balance von Zusammenarbeit und Wettbewerb beruhen.

Es stimmt, wenn diese Balance verletzt wird, wenn deren Einhaltung infrage gestellt wird, und sogar die Existenz allgemein akzeptierter Verhaltensregeln, wenn die eigenen Interessen um jeden Preis forciert werden, werden die Widersprüche unvorhersehbar und gefährlich und führen zu gewaltsamen Konflikten.

Kein reales internationales Problem kann unter solchen Bedingungen und bei einer solchen Infragestellung gelöst werden, und die Beziehungen zwischen den Ländern verschlechtern sich nur noch. Die Sicherheit in der Welt wird geringer. Anstatt Fortschritt und Demokratie voranzutreiben, erhalten radikale Elemente die freie Hand, extremistische Gruppen, die die Zivilisation verleugnen und versuchen, sie in Archaismus und Chaos zu stürzen, in die Barbarei.

Die Geschichte der letzten Jahre hat all das ausführlich demonstriert. Es genügt, sich anzuschauen, was im Nahen Osten passiert ist, den einige Spieler versucht haben, umzuformen und nach ihren Vorstellungen neu zu formatieren, ihm ein fremdes Entwicklungsmodell aufzuzwingen durch von außen gesteuerte Staatsstreiche oder einfach mit Waffengewalt. Anstatt die Situation gemeinsam zu korrigieren, dem Terrorismus einen echten Schlag zu versetzen und nicht den Kampf gegen ihn zu imitieren, tun einige unserer Kollegen alles, um das Chaos in der Region permanent zu machen. Einige glauben immer noch, dass man dieses Chaos managen kann.

Knoten entwirren

Gleichzeitig zeigen einige neuere Erfahrungen der letzten Zeit jedoch auch positive Beispiele, ich meine – wahrscheinlich haben Sie erwartet, dass ich das sagen werde – die syrische Erfahrung. Diese zeigt, dass es eine Alternative zu solch einer arroganten und destruktiven Politik gibt. Russland stellt sich Terroristen entgegen, gemeinsam mit der legitimen Regierung Syriens und mit anderen Staaten in der Region, handelt auf der Grundlage des Völkerrechts. Und ich möchte sagen, dass diese Aktionen, diese positive Bewegung, für uns nicht einfach sind. Es gibt viele Widersprüche in der Region. Aber wir haben uns mit Geduld gewappnet, und mit dieser Geduld wägen wir sorgfältig jeden Schritt und jedes Wort ab, arbeiten mit allen Teilnehmern dieses Prozesses, deren Interessen respektierend.

Und unsere Bemühungen, deren Effektivität einmal, noch in jüngerer Zeit, von Kollegen infrage gestellt wurden, ich sage es vorsichtig: sie wecken heute dennoch Hoffnung. Sie erwiesen sich als sehr wichtig, korrekt, professionell und zeitgerecht.

Oder ein anderes Beispiel – der Clinch um die koreanische Halbinsel, darüber haben Sie heute sicher auch schon ausführlich gesprochen. Ja, wir verurteilen mit Entschiedenheit die von der KDVR durchgeführten Nukleartests, befolgen dabei alle im UN-Sicherheitsrat angenommenen Beschlüsse über Nordkorea vollständig – Kollegen, ich möchte dies betonen, damit es hier keine zweideutige Interpretation gibt: Wir erfüllen alle Entscheidungen des UN-Sicherheitsrats. Jedoch um dieses Problem zu lösen, ist natürlich notwendig den Dialog zu führen und Nordkorea nicht in die Ecke zu drängen, nicht Gewalt anzuwenden, nicht in offene Grobheit und Beleidigungen zu verfallen. Ob jemand das nordkoreanische Regime mag oder nicht, wir dürfen nicht vergessen, dass die Demokratische Volksrepublik Korea ein souveräner Staat ist.

Alle Widersprüche müssen zivilisiert gelöst werden. Russland hat sich immer für einen derartigen Ansatz ausgesprochen. Wir sind fest davon überzeugt, dass selbst die kompliziertesten Knoten, sei es die Krise in Syrien oder in Libyen, auf der koreanischen Halbinsel oder, sagen wir, in der Ukraine, entwirrt und nicht zerschlagen werden müssen.

Wie fragil die Stabilität selbst in einer prosperierenden, gefestigten Gesellschaft sein kann, wird durch die Situation in Spanien deutlich illustriert. Wer hätte noch vor kurzem erwartet, dass die Debatte über den Status von Katalonien, die eine lange Geschichte hat, zu einer akuten politischen Krise führen würde?!

Russlands Position hierzu ist bekannt. Alles, was geschieht, ist eine innere Angelegenheit Spaniens und muss auf der Grundlage des spanischen Rechts in Übereinstimmung mit demokratischen Traditionen geregelt werden. Wir sind uns bewusst, dass die Führung des Landes Schritte in diese Richtung unternimmt.

Im Fall Kataloniens sahen wir eine einmütige Verurteilung der Anhänger der Unabhängigkeit durch die Europäische Union und eine Reihe anderer Staaten. Wissen Sie, in diesem Zusammenhang kann ich nicht umhin zu bemerken: Es wäre notwendig gewesen, früher darüber nachzudenken. Was, niemand wusste über solche Widersprüche, die jahrhundertelang innerhalb Europas existierten? Sie wussten es, nicht wahr? Sie wussten es. Gleichwohl begrüßten sie seinerzeit faktisch den Zerfall einer Reihe von Staaten in Europa, ohne ihre Freude darüber zu verbergen.

Aber warum mussten sie so gedankenlos sein, ausgehend von der aktuellen politischen Konjunktur und dem Wunsch, dem »älteren Bruder« aus Washington – offen gesagt – zu gefallen, bedingungslos die Abspaltung des Kosovo zu unterstützen und damit ähnliche Prozesse in anderen Regionen Europas und der Welt zu provozieren?

Ich erinnere mich, dass, als zum Beispiel die Krim auch ihre Unabhängigkeit verkündete, und danach im Ergebnis des Referendums auch den Beitritt zu Russland, das aus irgendeinem Grunde nicht gefiel. Und jetzt haben wir, bitteschön – Katalonien. In einer anderen Region – Kurdistan. Und das ist vielleicht bei weitem keine erschöpfende Liste. Und die Frage stellt sich: Was werden wir tun, wie sollen wir uns dazu verhalten?

Es stellt sich heraus, dass es nach Meinung einiger unserer Kollegen »richtige« Kämpfer für Unabhängigkeit und Freiheit gibt – und es gibt »Separatisten«, die ihre Rechte nicht verteidigen können, auch nicht mithilfe demokratischer Mechanismen.

Solcherart, wie wir die ganze Zeit sagen, doppelte Standards –  hier haben wir das deutlichste Beispiel für doppelte Standards – stellen eine ernste Gefahr für die stabile Entwicklung Europas und anderer Kontinente und für die Förderung von Integrationsprozessen in der Welt dar.

Strategische Gewinne nicht auf Kosten anderer

Seinerzeit versuchten die Apologeten der Globalisierung uns zu überzeugen, dass eine Garantie gegen Konflikte geopolitische Rivalität eine universelle wirtschaftliche Interdependenz sei. Ach, das ist nicht geschehen; darüber hinaus ist der Charakter der Konfrontationen komplizierter geworden, sie sind vielschichtig und nichtlinear geworden.

Ja, die Wechselbeziehung ist ein mäßigender, stabilisierender Faktor. Aber gleichzeitig sehen wir mehr und mehr Beispiele, dass die Politik grob in die Wirtschafts- und Marktbeziehungen eingreift. Erst kürzlich wurde gesagt, dass dies unmöglich, kontraproduktiv und nicht tolerierbar sei. Nun machen diejenigen, die das gesagt haben, das alles selbst. Einige verheimlichen nicht einmal, dass sie politische Vorwände und Anlässe nutzen, um ihre eigenen rein kommerziellen Interessen zu fördern. So zielt das jüngste Sanktionspaket, das vom amerikanischen Kongress verabschiedet wurde, offen darauf ab, Russland von den europäischen Energiemärkten zu verdrängen und zwingt Europa, auf teureres Flüssiggas aus den USA umzusteigen. Ja, und die verfügbare Menge – die reicht noch nicht.

Es wird versucht, den Bau neuer Energierouten, »South Stream« und »North Stream«, zu blockieren, obwohl eine solche Diversifizierung der Logistik kosteneffizient ist, vorteilhaft für Europa und der Verstärkung seiner Sicherheit dient.

Ich wiederhole, jeder Staat hat natürlich seine eigenen politischen, wirtschaftlichen und sonstigen Interessen – die Frage ist, wie, mit welchen Mitteln, man sie schützt und fördert.

In der heutigen Welt sind strategische Gewinne nicht auf Kosten anderer möglich. Eine solche Politik, die auf Selbstherrlichkeit, Egoismus und Ausschließlichkeitsansprüche beruht, wird weder Respekt, noch wahre Größe mit sich bringen, sondern notwendigerweise eine natürliche, gerechte Ablehnung und Widerstand hervorrufen. Und infolgedessen werden wir ein weiteres Anwachsen von Spannungen und Widersprüchen erleben, anstatt gemeinsam zu versuchen, eine feste, stabile Weltordnung zu bilden, um den technologischen, ökologischen, klimatischen und humanitären Herausforderungen zu begegnen, mit denen die gesamte Menschheit heute konfrontiert ist.

Verehrte Kollegen, wissenschaftlicher-technischer Fortschritt, Robotisierung und Digitalisierung führen bereits zu einem tiefgreifenden wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und Wertewandel. Uns eröffnen sich früher unvorstellbare Perspektiven und Möglichkeiten. Allerdings müssen wir dabei auch Antworten auf viele Fragen finden. Was wird der Platz des Menschen im Dreieck »Mensch – Technik – Natur« sein? Wie verhalten sich Staaten, in denen aufgrund klimatischer und ökologischer Veränderungen die Bedingungen für ein normales Leben einfach verschwinden können? Wie kann man im Zuge der Robotisierung Beschäftigung sichern? Wie wird der Eid des Hippokrates in einer Zeit interpretiert, in der der Arzt die Fähigkeiten eines fast allmächtigen Zauberers besitzt? Wird schließlich der menschliche Intellekt nicht die Fähigkeit verlieren, eine künstliche Intelligenz zu kontrollieren? Und wird nicht die künstliche Intelligenz zu einem eigenständigen Subjekt, das von uns unabhängig ist?

Bei der Beurteilung der Rolle und des Einflusses von Staaten sprach man früher über die Bedeutung des geopolitischen Faktors, die Größe des Territoriums, den Besitz von Streitkräften und natürlichen Ressourcen. Zweifellos sind das auch heute noch die wichtigsten Faktoren. Heute jedoch ist ein weiterer wichtiger Faktor zweifelsohne der wissenschaftlich-technologische Faktor, und dessen Bedeutung wird sich weiter erhöhen.

Genau genommen war das schon immer so, aber heute wird dieser Faktor einen bahnbrechenden Charakter haben und sehr bald die Sphären der Politik und der Sicherheit entscheidend beeinflussen. Damit erhält der wissenschaftlich-technische Faktor universelle politische Bedeutung.

Offensichtlich ist auch, dass keine der fortschrittlichsten Technologien allein eine nachhaltige Entwicklung gewährleisten wird. Eine harmonische Zukunft ist ohne soziale Verantwortung, ohne Freiheit und Gerechtigkeit, ohne Respekt gegenüber traditionellen ethischen Werten, für Menschenwürde unmöglich. Ansonsten kann sich die »schöne neue Welt« anstatt in Richtung Wohlstand und Perspektiven für alle in Richtung Totalitarismus, Kastengesellschaft, Konflikte und Zunahme von Widersprüchen entwickeln.

Revolution oder evolutionärer Weg?

Schon heute wächst die Ungleichheit unter Millionen von Menschen, ganze Nationen haben ein Gefühl von Ungerechtigkeit und Benachteiligung. Und infolgedessen – Radikalisierung, das Streben, den Stand der Dinge auf irgendeine Weise zu ändern, auch mit Gewalt.

Übrigens ist dies bereits in der Geschichte vieler Länder geschehen, auch in der Geschichte unseres Landes, der Geschichte Russlands. Als nach einem erfolgreichen technologischen und industriellen Durchbruch dramatische Umwälzungen folgten und revolutionäre Zusammenbrüche folgten, weil akkumulierte soziale Widersprüche nicht rechtzeitig gelöst wurden und offensichtliche gesellschaftliche Anachronismen nicht überwunden wurden.

Eine Revolution ist immer das Ergebnis eines Mangels an Verantwortung sowohl jener, die die obsolete Ordnung der Dinge, die offensichtlich eine Reorganisation erfordert, konservieren, einfrieren wollten, als auch jener, die versuchen, Veränderungen voranzutreiben, ohne vor zivilen Konflikten und zerstörerischer Konfrontation Halt zu machen.

Heute, wenn wir uns den Lehren aus einem Jahrhundert, wenn wir uns der russischen Revolution von 1917 zuwenden, so sehen wir, wie vieldeutig deren Ergebnisse waren, wie eng die negativen und – man muss das anerkennen – die positiven Folgen dieser Ereignisse miteinander verwoben sind. Und wir stellen uns die Frage: Könnte es nicht möglich sein, sich nicht durch Revolution weiterzuentwickeln, sondern auf evolutionärem Weg, nicht auf Kosten der Zerstörung der Staatlichkeit, rücksichtslos Millionen menschlicher Schicksale brechend, sondern durch stufenweise, konsequente Bewegung nach vorn?

Zur gleichen Zeit haben das weitgehend utopische Gesellschaftsmodell und die Ideologie, die in der Anfangsphase nach der Revolution von 1917 den neu entstandenen Staat zu verwirklichen suchten, einen starken Anreiz für Transformationen auf der ganzen Welt gegeben (dies ist eine offensichtliche Tatsache, dies muss auch anerkannt werden), eine ernsthafte Neubewertung von Entwicklungsmodellen, Rivalität und Konkurrenz hervorgerufen, von dessen Vorteilen, so würde ich sagen, größtenteils der sogenannte Westen profitiert hat.

Was meine ich damit? Es sind nicht nur die geopolitischen Siege nach dem sogenannten Kalten Krieg. Viele westliche Errungenschaften des zwanzigsten Jahrhunderts waren eine Antwort auf etwas ganz anderes, eine Antwort auf die Herausforderung seitens der UdSSR. Ich meine, den Lebensstandard zu heben, eine starke Mittelschicht zu bilden, den Arbeitsmarkt und den sozialen Bereich zu reformieren, Bildung zu entwickeln, die Menschenrechte einschließlich der Rechte von Minderheiten und Frauen zu garantieren, Rassentrennung zu überwinden, die, ich erinnere daran, noch vor einigen Jahrzehnten eine schändliche Praxis in vielen Ländern war, einschließlich der Vereinigten Staaten.

Zum Sieger im Kalten Krieg erklärt

Nach den radikalen Veränderungen, die in unserem Land und in der Welt an der Wende der 1980er – 1990er Jahre stattfanden, entstand eine wirklich einmalige Chance, eine wirklich neue Seite in der Geschichte zu öffnen. Ich meine die Zeit, nachdem die Sowjetunion aufgehört hatte zu existieren.

Leider haben die westlichen Partner, nachdem sie das geopolitische Erbe der UdSSR aufgeteilt hatten, an ihre eigene unleugbare Wahrheit geglaubt und sich zum Sieger im »Kalten Krieg« erklärt, wie ich gerade erwähnt hatte, sie fingen an, sich offen in die Angelegenheiten souveräner Staaten einzumischen, die Demokratie zu exportieren, so wie die sowjetische Führung zu ihrer Zeit versucht hatte, die sozialistische Revolution in die ganze Welt zu exportieren.

Wir wurden mit der Neuaufteilung von Einflusssphären und mit der NATO-Expansion konfrontiert. Aber Selbstherrlichkeit führt unweigerlich zu Fehlern. Das Ergebnis ist traurig. Es sind verlorene zweieinhalb Jahrzehnte, viele verpasste Gelegenheiten und eine große Last gegenseitigen Misstrauens. Das globale Ungleichgewicht hat sich dadurch nur verstärkt.

Ja, wir hören Bekenntniserklärungen zur Lösung von Weltproblemen, aber tatsächlich sehen wir eine zunehmende Manifestation von Egoismus. Internationale Institutionen, die darauf abzielen, Interessen zu harmonisieren und eine gemeinsame Agenda zu formulieren, sind Erosionen ausgesetzt, die grundlegenden multilateralen internationalen Verträge und die wichtigsten bilateralen Abkommen werden abgewertet. Mir wurde gerade gesagt, gerade vor ein paar Stunden habe sich der Präsident der Vereinigten Staaten in sozialen Netzwerken über die Zusammenarbeit von Russland und den Vereinigten Staaten auf einem der sehr wichtigen Gebiete, dem Gebiet der atomaren Zusammenarbeit geäußert. In der Tat ist dies der wichtigste Bereich der Zusammenarbeit zwischen Russland und den Vereinigten Staaten, wenn man bedenkt, dass Russland und die Vereinigten Staaten als die beiden größten Atommächte eine besondere Verantwortung gegenüber der Welt haben. Aber ich möchte diese Gelegenheit nutzen, noch genauer zu sagen, was in diesen Jahren, in diesen Jahrzehnten in diesem entscheidenden Bereich geschehen ist, um ein vollständigeres Bild zu geben. Ich benötige dafür nicht länger zwei Minuten.

Abrüstungsabkommen und wie damit umgegangen wurde

In den 1990-er Jahren wurden mehrere bedeutende bilaterale Abkommen geschlossen. Das erste, vom 17. Juni 1992, ist das Nunn-Lugar-Programm. Und das zweite, vom 18. Februar 1993, ist das HEU-LEU-Programm. Hochangereichertes Uran [HEU] wurde in ein schwach angereichertes Uran [LEU] umgewandelt, deshalb »HEU-LEU« [auch bekannt unter dem Namen »Megatonnen zu Megawatt«, Anm. d. Übers.].

Die Projekte im Rahmen des ersten Abkommens betrafen die Modernisierung der Kontroll-, Buchführungs- und physischen Schutzsysteme für Nuklearmaterial sowie die Demontage und Entsorgung von Unterseebooten und thermoelektrischen Radioisotop-Generatoren. Im Rahmen der Erfüllung der russischen Verpflichtungen führten die Amerikaner – ich bitte um Aufmerksamkeit, das ist keine geheime Information, sie ist nur wenigen bekannt – 620 Kontrollbesuche, darunter im Allerheiligsten des russischen Atomwaffenkomplexes durch: In Unternehmen, die an der Entwicklung von Atomwaffen und Munition und der Aufbereitung von waffenfähigem Plutonium und Uran beteiligt waren. Die USA erhielten Zugang zu allen streng geheimen Einrichtungen der Russischen Föderation. Dabei hatte das Abkommen einen faktisch einseitigen Charakter.

Im Rahmen des zweiten Abkommens unternahmen die Amerikaner 170 weitere Besuche, nunmehr in unseren Anreicherungsbetrieben, darunter in deren am stärksten geschlossenen Zonen: in Mischstationen und Lagereinrichtungen. In der mächtigsten Nuklearanreicherungsanlage der Welt, im Elektrochemischen Kombinat Ural, wurde sogar ein permanenter amerikanischer Beobachtungsposten eingerichtet. Und direkt in den Produktionsstätten dieses Kombinates wurden permanente Arbeitsplätze geschaffen, zu denen jeden Tag amerikanische Spezialisten wie zur Arbeit gingen – ja, nicht wie zur Arbeit, sie gingen zur Arbeit. Und in ihren Räumlichkeiten, wie in einem solchen Fall üblich, auf den streng geheimen russischen Einrichtungen gab es amerikanische Flaggen. Darüber hinaus  wurde eine Liste von 100 amerikanischen Spezialisten aus zehn verschiedenen US-amerikanischen Organisationen zusammengestellt, die das Recht erhielten, jederzeit und ohne jede Vorwarnung zusätzliche Inspektionen durchzuführen. Und das alles zog sich über zehn Jahre hin. Im Rahmen dieses Abkommens wurden in Russland 500 Tonnen waffenfähiges Uran dem Militärkreislauf entzogen, was etwa 20.000 nuklearen Sprengköpfen entspricht.

Das HEU-LEU-Programm ist zu einer der wirksamsten Maßnahmen einer realen Abrüstung in der Geschichte der Menschheit geworden, das kann aus voller Überzeugung sagen. Jeder Schritt der russischen Seite wurde dabei akribisch von amerikanischen Spezialisten kontrolliert, während sich die USA auf wesentlich bescheidenere Reduzierungen ihres Atomwaffenarsenals beschränkten, und dies rein auf freiwilliger Basis.

Unsere Spezialisten besuchten ebenfalls Einrichtungen des US-Atomwaffenkomplexes, allerdings nur auf Einladung und zu Bedingungen, die von der amerikanischen Seite selbst festgelegt wurden.

Von russischer Seite wurden, wie Sie sehen, absolut beispiellose Offenheit und Vertrauen demonstriert. Übrigens – wir werden wahrscheinlich noch darüber reden – ist auch wohl bekannt, was wir dafür erhalten haben: Völlige Missachtung unserer nationalen Interessen, Unterstützung des Separatismus im Kaukasus, Maßnahmen zur Umgehung des UNO-Sicherheitsrates mit Zwang, etwa die Bombardierung Jugoslawiens und Belgrads, die Entsendung von Truppen in den Irak und so weiter. Nun, es ist klar: Nachdem man sich den Zustand des Atomkomplexes, der Streitkräfte, der Wirtschaft angeschaut hatte, erschien das internationale Recht nunmehr unnötig.

In den 2000-er Jahren begann in unserer Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten eine neue Phase einer wirklich gleichberechtigten Partnerschaft. Sie war durch den Abschluss einer Reihe von strategischen Verträgen und Vereinbarungen im Bereich der friedlichen Nutzung der Kernenergie gekennzeichnet, die in den USA als »123 Agreement« bekannt sind [benannt nach Artikel 123 des Atomenergiegesetzes der USA von 1954, »Kooperation mit anderen Staaten«, Anm. d. Übers.]. Im Jahr 2014 jedoch hat die US-amerikanische Seite die Arbeit im Rahmen des Abkommens faktisch einseitig eingestellt.

Die Situation um das am 20. August und 1. September 2000 in Moskau und Washington unterzeichnete Abkommen über die Entsorgung von waffenfähigem Plutonium ruft Befremden und Besorgnis hervor. In Übereinstimmung mit dem Protokoll zu diesem Abkommen waren spiegelbildliche Schritte der Vertragsparteien vorgesehen, hin zu einem irreversiblen Transfer von waffenfähigem Plutonium in einen Zustand, der es nicht erlaubt, dieses für militärische Zwecke zu nutzen, durch Herstellung eines genannten Mox-Brennstoffs und dessen anschließende Verbrennung in Kernreaktoren. Irgendwelche Änderungen dieser Methode waren nur im Konsens der Vertragsparteien zulässig. So steht es in der Vereinbarung, in den Protokollen geschrieben.

Was hat Russland gemacht? Wir haben diesen Brennstoff entwickelt, eine Anlage zur Serienproduktion gebaut und, wie im Abkommen vereinbart, den Reaktor BN 800 gebaut, der es erlaubt, diesen Brennstoff sicher zu verbrennen. Russland hat, ich möchte dies unterstreichen, alle vertraglich übernommenen Verpflichtungen erfüllt.

Was haben unsere amerikanischen Partner gemacht? Sie begannen eine Fabrik im Savannah River zu bauen, geplante Kosten 4,86 Milliarden Dollar, tatsächliche Kosten fast 8 Milliarden Dollar, haben die Betriebsbereitschaft dieser Produktionsstätte, dieses Bauvorhabens, zu 70% hergestellt – und dann haben sie den Bau eingefroren. Aber, soweit uns bekannt ist, ist in der Budgetanforderung für das Jahr 2018 ein Betrag von 270 Millionen Dollar zur Stilllegung und Konservierung dieses Objektes vorgesehen. Wie üblich stellt sich die Frage: Wo ist das Geld? Gestohlen, wahrscheinlich. Oder irgendetwas wurde falsch berechnet, als das Bauvorhaben geplant wurde. So etwas passiert. Auch uns passiert das auf Schritt und Tritt. Aber nicht das interessiert und, das geht uns nichts an. Uns interessiert: Was ist mit dem Uran, was ist mit dem Plutonium, was ist denn mit der Entsorgung des Plutoniums selbst? Diese – so stellt sich heraus – soll mit der Methode der Verdünnung und geologischen Endlagerung erfolgen. Dies widerspricht jedoch sowohl dem Geist als auch dem Buchstaben des Abkommens und, was am wichtigsten ist, garantiert nicht die Unmöglichkeit der Rückgewinnung von waffenfähigem Material. All das stimmt sehr wehmütig und befremdlich.

Weiter. Russland hat vor mehr als 17 Jahren den Vertrag über das umfassende Verbot von Nuklearversuchen ratifiziert. Die USA haben das bis jetzt nicht getan.

Die kritische Masse von Problemen im Bereich der globalen Sicherheit wächst. Im Jahr 2002 haben sich die USA bekanntlich aus dem Vertrag zur Begrenzung von Raketenabwehrsystemen zurückgezogen. Und während sie seinerzeit die Initiatoren der Konvention über das Verbot chemischer Waffen und internationale Sicherheit waren, sie diese Übereinkunft also selbst initiiert hatten, erfüllen sie ihre Verpflichtungen nicht. Bis heute bleiben sie der einzige und mächtigste Besitzer dieser Art von Massenvernichtungswaffen. Darüber hinaus haben die Vereinigten Staaten die Frist für die Liquidation ihrer chemischen Waffen vom Jahr 2007 auf das Jahr 2023 verschoben. Für einen Staat, der sich als Champion im Bereich der Nichtverbreitung und Rüstungskontrolle ausgibt, ist das unsolide.

In Russland hingegen wurde dieser Prozess am 27. September dieses Jahres vollständig abgeschlossen. Damit hat unser Land einen wichtigen Beitrag zur Stärkung der internationalen Sicherheit geleistet. Übrigens, die führenden westlichen Medien zogen es vor, diese Tatsache zu verschweigen, sie bemerkten es nicht, irgendwo in Kanada gab es eine kurze Erwähnung – und das war’s dann, alles war still. Und doch hätte mit dem russischen, sowjetischen Arsenal an chemischen Waffen, das zuvor angehäuft worden war, mehrfach alles Leben auf unserem Planeten vernichtet werden können.

Ich bin überzeugt, es ist an der Zeit, eine veraltete Agenda konsequent aufzugeben. Ich spreche über das, was passiert ist. Aber wir müssen zweifellos nach vorne schauen, wir müssen aufhören, zurückzublicken, das ist klar. Ich sage das, um zu verstehen, woraus die gegenwärtige Situation erwächst.

Längst überfällig ist ein offenes Gespräch, dessen Teilnehmer nicht nur eine bestimmte Gruppe Auserwählter, vorgeblich der würdigsten und fortgeschrittensten, sein, sondern die gesamte globale Gemeinschaft, Vertreter unterschiedlicher Kontinente, kultureller und historischer Traditionen, politischer und ökonomischer Systeme. In einer sich wandelnden Welt können wir es uns nicht leisten, nicht flexibel und offen zu sein, nicht schnell und präzise reagieren zu können. Die Verantwortung für die Zukunft sollte uns vereinen, besonders in Zeiten wie heute, in denen sich tatsächlich alles schnell verändert.

Die Menschheit hat niemals eine solche Macht besessen wie jetzt, eine solche Macht über die Natur, den Raum, die Kommunikation, über ihre eigene Existenz. Aber diese Macht ist zerstreut: ihre Elemente sind in den Händen von Staaten, Konzernen, öffentlichen und religiösen Vereinigungen und sogar einzelnen Bürgern. Es ist klar, dass es nicht einfach ist, all diese Elemente in einer einzigen, effizienten und überschaubaren Architektur zusammenzufügen, es wird harte und mühsame Arbeit erfordern. Ich möchte anmerken: Russland ist bereit, gemeinsam mit allen interessierten Partnern an dieser teilzunehmen.

Die Repräsentativität der UNO

Verehrte Kollegen, wie sehen wir die Zukunft der Weltordnung und des globalen Managementsystems? Zum Beispiel im Jahr 2045, wenn die Vereinten Nationen ihr hundertjähriges Jubiläum feiern werden. Ihre Gründung ist zum Symbol dafür geworden, dass die Menschheit trotz allem in der Lage ist, gemeinsame Verhaltensregeln zu entwickeln und ihnen zu folgen. Als man diese Regeln aufgab, führte das unweigerlich zu Krisen, zu negativen Konsequenzen.

In den letzten Jahrzehnten gab es jedoch mehrere Versuche, die Rolle dieser Organisation herabzusetzen, sie zu diskreditieren oder schlicht und einfach Kontrolle über sie zu erlangen. Alle diese Versuche sind vorhersehbar gescheitert oder haben in eine Sackgasse geführt. Unserer Meinung nach müssen die Vereinten Nationen mit ihrer universellen Legitimität das Zentrum des internationalen Systems bleiben, und die universelle Aufgabe besteht darin, ihre Autorität und Wirksamkeit zu erhöhen. Zur UNO gibt es heute keine Alternative.

Im Hinblick auf das Vetorecht im Sicherheitsrat, das manchmal auch in Frage gestellt wird, erinnere ich daran, dass dieser Mechanismus konzipiert und geschaffen wurde, um einen direkten Zusammenstoß der mächtigsten Staaten zu vermeiden, als Garantie gegen Willkür und Abenteuer, damit niemand, auch nicht die einflussreichsten Länder, in der Lage sei, seinen aggressiven Handlungen den Anschein von Legitimität geben.

Natürlich, reden wir offen, hier sind alle Experten, sie wissen, dass einige der Aktionen derart waren, dass die UNO die Handlungen einzelner Teilnehmer in internationalen Angelegenheiten rückwirkend legitimierte. Nun, zumindest das, aber es führt auch zu nichts Gutem.

Reformen sind notwendig, das UN-System muss verbessert werden, aber Reformen können nur schrittweise und evolutionär erfolgen, und natürlich sollten sie von der überwältigenden Mehrheit der Teilnehmer am internationalen Prozess innerhalb der Organisation durch einen breiten Konsens unterstützt werden, wie unser Außenministerium sagt.

Die Garantie der Wirksamkeit der UNO liegt in ihrer Repräsentativität. In ihr ist die absolute Mehrheit der souveränen Staaten der Welt vertreten. Und in den kommenden Jahren, Jahrzehnten sollten die Grundprinzipien der UNO erhalten bleiben, da es keine andere Struktur gibt, die die gesamte Palette der Weltpolitik widerspiegeln könnte. Heute entstehen neue Einflusszentren und Wachstumsmuster, zivilisatorische Allianzen, politische und wirtschaftliche Vereinigungen nehmen Gestalt an. Diese Vielfalt lässt sich vereinheitlichen. Deshalb müssen wir eine Harmonisierung der Zusammenarbeit anstreben. Regionale Organisationen in Eurasien, Amerika, Afrika und im asiatisch-pazifischen Raum sollten unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen handeln und ihre Arbeit koordinieren. Gleichzeitig hat jeder Verband das Recht, nach seinen eigenen Vorstellungen und Prinzipien zu arbeiten, die seinen kulturellen, historischen und geographischen Merkmalen entsprechen. Es ist wichtig, globale Interdependenz und Offenheit mit der Erhaltung der einzigartigen Identität jedes Volkes und jeder Region zu verbinden. Wir müssen die Souveränität als Grundlage des gesamten Systems der internationalen Beziehungen respektieren.

Verehrte Kollegen, welch atemberaubende Gipfel die Technik auch erreichen möge, die Geschichte wird natürlich vom Menschen gemacht. Unsere Zukunft kann nur eine gemeinsame sein, eine getrennte Zukunft – für wen auch immer getrennt – gibt es nicht, jedenfalls nicht in der modernen Welt. Und die Verantwortung dafür, dass diese Welt konfliktfrei und wohlhabend ist, liegt heute in der gesamten Weltgemeinschaft.

Wie Sie wissen, findet in diesen Tagen in Sotschi das XIX. Weltfestival der Jugend und Studenten statt. Junge Menschen aus dutzenden von Ländern kommunizieren mit Gleichaltrigen, besprechen Probleme, die sie betreffen. Sie werden nicht durch kulturelle, nationale oder politische Unterschiede behindert, und sie alle träumen von der Zukunft, sie glauben, dass ihr Leben, das Leben neuer Generationen, besser, gerechter und sicherer sein wird. Und unsere Aufgabe, unsere Verantwortung heute, ist es, alles zu tun, damit diese Hoffnungen wahr werden.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

Quelle: kremlin.ru/events/president/news/55882, Übersetzung: Thomas Hecker