Querelen eines Juristen
Ein Interview mit Prof. Dr. Hermann Klenner, Berlin
Sind die Sicherheitsvorkehrungen des Herrn Schäuble im Vorfeld des Treffens von Heiligendamm wirklich eine Gefahr für den Bestand der Demokratie in der BRD, wie Kritiker warnen?
Um es vorab einzugestehen: Ich bin – glücklicherweise! – kein Politiker. Aber einem Juristen ist es versagt, lediglich "unpolitische Betrachtungen" anzustellen, es sei denn, er nimmt in Kauf, die Wirklichkeit völlig zu verfehlen. Das Recht ist nun einmal als Ord-nungsreglement herrschaftsförmig organisierter Gesellschaften Mittel und Maß von Macht, ist also von Politik infiziert. Zudem führt jede Untersuchung über irgend ein Recht, tief genug gebohrt, unweigerlich zu der Frage, warum es so geworden ist, wie es wurde, und vor allem: welches andere Recht wäre als das gegenüber dem gegenwärtigen bessere Recht mit welchen politischen Mitteln zu etablieren? Den Regularien der gesellschaftlichen Macht/Ohnmacht-Verhältnisse eignet kein Ewigkeitszertifikat.
Was nun das Verhältnis zwischen der normierten Demokratie der Deutschen und den tatsächlichen Sicherheitsvorkehrungen des Herrn Schäuble in Heiligendamm anlangt, so stellt eigentlich bereits dessen Wehklage vom September 1996 alles klar: Die Verfassung (womit er wohl das Grundgesetz meinte) sei immer mehr zu einer Kette geworden, die den Bewegungsspielraum der Politik lahmlegt. Das Volk, der laut Grundgesetz-Artikel 20 vorgebliche Souverän von Staat und Gesellschaft, wird zum Lahmleger der Politiker herabgewürdigt. Oder sollte man, andersherum, das Volk auffordern, solche Politiker lahmzulegen? – Soviel zum Demokratieverständnis des auf das Grundgesetz (Art. 64, 56) vereidigten Ministers.
Und warum eigentlich, tiefer gefragt, tagen die beteiligten Damen und Herren, darunter Völkerrechtsverbrecher und deren mehr oder weniger willige Vasallen, für die lediglich vier Stunden Arbeitssitzungen, eine Stunde Familienfotos und zehn Stunden Empfang nebst Essen hinter einem zwölf Kilometer langen und 2,5 Meter hohen Zaun unter dem Schutz von 16.000 Polizisten und 1.100 Soldaten mit Kosten von insgesamt einhundert Millionen Euro zu Lasten von uns deutschen Steuerzahlern am schönen Ostseestrand statt unter der Obhut der Vereinten Nationen in einem von deren Hochsicherheitstrakten?
Das weiß ich doch nicht.
Hab' ich mir gedacht. – Gewiß ist die Demonstrations-Sperrzone keine existentielle Gefahr für den Bestand der Demokratie; eine weitere Aufweichung von Bürgerrechten ist sie allerdings. Ein Dammbruch beginnt, wie man weiß, nicht mit dem großen Loch.
Aber wenn Rechtsgüter etwa die Versammlungsfreiheit und das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, der Politiker wie der Demonstranten, abgewogen werden müssen – was wiegt schwerer? Ist da nicht die Vorbeugung von Gewaltaktionen wichtiger?
Der Verursacher der Gefahr ist der letzte, der gegen diejenigen Gewalt einzusetzen oder die Rechte derjenigen zu beschneiden legitimiert ist, die gegen die Ursachen der Gefahren legalen Widerstand zu leisten gesonnen sind.
Dreißig Jahre vor Schäuble hat Helmut Schmidt den "starken Staat" demonstriert. Sind beide nicht nur konsequente Epigonen von Thomas Hobbes?
Obschon ich mich über den Gedankenhaushalt von Schmidt und Schäuble nicht äußern möchte, zumal deren Ideen im Zweifel interessen-, und nicht wahrheitsgesteuert sind, wie bei Machtpolitikern kaum anders zu erwarten, kommt mir diese Frage gelegen, um einen weitverbreiteten Irrtum auszuräumen. Ich hatte nämlich 1978 im Leipziger Reclam-Verlag und, in erheblich erweiterter Form, 1996 im Hamburger Meiner-Verlag des Thomas Hobbes "Leviathan" annotiert herausgegeben. Es ist eines der allerbedeutendsten Werke der politischen Weltliteratur, eines der am häufigsten fehlinterpretierten freilich auch. Es konnte 1651 im republikanischen England des Oliver Cromwell publiziert werden, während das darauf folgende monarchische England von King Charles eine Zweitauflage verweigerte. Bei Hobbes stand keineswegs, wie man häufig hört, die Ausübung der Macht im Mittelpunkt seiner Argumentation; was ihn am meisten bewegte, war die geradezu entgegengesetzte Frage, wie die Menschen eine vernunftgemäße Macht konstituieren können, um aus ihrem Naturzustand, den er als einen Krieg aller gegen alle (bellum omnium contra omnes) charakterisierte, in den Zustand eines Friedens aller mit allen zu gelangen, einer, wie er sie nannte, bürgerlichen Gesellschaft (civil society). Lediglich das aus einem Vertrag aller mit allen entstandene Gemeinwesen (Commonwealth) sei zu einer autoritären (nicht zu einer absoluten!) Machtausübung legitimiert, allerdings nur solange diese dazu diene, den Frieden und das Wohlergehen seiner Bürger zu sichern.
Also ist der "Leviathan" doch hochaktuell in terroristischen Zeiten, in Kriegen aller gegen alle?
Gleichheit ist die Basiskategorie des hobbesischen Gesellschaftsmodells! Sind es doch die gleichen, die übereinstimmenden Interessen aller und deren insofern gleiche, übereinstimmende Vernunft, die den Staat der von Hobbes konzipierten bürgerlichen Gesellschaft begründen. Indem er diesen Staat aus den irdischen Bedürfnissen der Menschen entstehen und deren Gehorsamsverpflichtung gegenüber dem so entstandenen Staat erlöschen läßt, wenn dieser seiner Sicherheitsverpflichtung gegenüber den Bürgern nicht mehr nachzukommen vermag, anerkennt Hobbes als Existenzberechtigung des Staates ausschließlich dessen erfolgreiches Funktionieren im Interesse seiner Bürger.
Wenn man sich schon von einem Denker des 17. Jahrhunderts für heutige Staats- und Rechtsprobleme anregen lassen will, müßte man zuallererst danach fragen, wodurch eigentlich in der Gegenwart die Staaten und Staatenverbindungen zu einer Macht- und Gewaltanwendung gegenüber dem eigenen Volk und anderen Völkern legitimiert sind? Weder das Grundgesetz der Bundesrepublik ist bisher als Verfassung "von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen", noch ist Vergleichbares für den Vertragsentwurf von 2004 für eine Europäische Verfassung auch nur vorgesehen worden.
Was nun die "terroristischen Zeiten" anlangt, so sollte bei dem irrsinnigen Wechselspiel von Terror und Anti-Terror die Frage zu stellen nicht vergessen werden, ob es bei dem "global war on terrorism" nicht eigentlich die Ursachen sind, die ihre Wirkungen bekriegen? Ist die Simultaneität von Marktradikalismus und Religionsfundamentalismus, mit denen gegenwärtig die ganze Welt beglückt wird, purer Zufall? Daß sich die reichsten Länder der Welt, zugleich deren größte Waffenhändler und Umweltverschmutzer, herausnehmen, über die Mehrheit der Weltbevölkerung zu entscheiden, auch andere Länder mit völkerrechtswidrigen Kriegen in Permanenz zu überziehen, hat jedenfalls mit dem Gedankengut des Aufklärungsdenkers Thomas Hobbes aber auch gar nichts zu tun, höchstens insofern, als es dessen Gegenteil verkörpert.
Was erwarten Sie von den G8?
Positive Erwartungen an den G8-Gipfel habe ich nur insofern, als die Ergebnisse dieses Anmaßungs-Gremiums die Einsicht bei uns anderen allüberall auf der Welt wachsen lassen wird, daß die Hoffnungen auf eine friedliche und umweltgerechte Entwicklung allein in den Gegenspielern zu den die Welt beherrschenden Mächten liegen.
Braucht das "globale Dorf" einen neuen Gesellschaftsvertrag?
Von einer Reaktivierung eines Gesellschaftsvertragsmodells, wie es von rechts bis links, nämlich von Roman Herzog über Joschka Fischer und Ralf Dahrendorf bis hin zu Lothar Bisky vorgeschlagen wurde, erwarte ich wenig Gutes. Illusionen zu "rationalisieren", ist mein Ding nicht. Die Hoffnungen von Hobbes, daß die bürgerliche Gesellschaft das Gegenstück zum vorherigen Zustand sein werde, in dem sich die Menschen zueinander wie Wölfe verhielten, haben schon vor Marx der schottische Nationalökonom Adam Smith und der deutsche Philosoph Hegel als Selbsttäuschung nachgewiesen, indem ersterer demonstrierte, daß der Überfluß der wenigen die Dürftigkeit der vielen voraussetze, und letzterer diese bürgerliche Gesellschaft nicht als eine Gemeinschaft charakterisierte, sondern als Kampfplatz "des individuellen Privatinteresses aller gegen alle". Über eine künftige Machtverteilung in der Gesellschaft und der Welt kann nur unter den Bedingungen ihrer gegenwärtigen Macht/Ohnmacht-Verteilung beraten und entschieden werden. Wie aber kriegt man Herrn Ackermann und Hartz-IV-Betroffene, wie Klaus-Rüdiger Landowsky und sein "Rattengesindel" oder gar Herrn Bush und die Repräsentanten von "Schurkenstaaten" als Gleichberechtigte an einen Tisch? Und wie vor allem erzwingt man, daß aus der existenten Kapitalsouveränität gesellschaftsvertraglich gebotene Volkssouveränität entsteht?
Bereits Rousseau hat den damals kühnen Gedanken geäußert, daß Verträge zwar den Schwachen an den Starken binden können, niemals aber den Starken an den Schwachen. Warum wohl konnte sich der militärisch stärkste ebenso wie der flächengrößte und der bevölkerungsreichste Staat unserer Gegenwart bisher erfolgreich über die abgeschlossenen Völkerrechtsverträge hinwegsetzen oder den vernünftigen Vertragsentwürfen zum Klimaschutz ihre Zustimmung verweigern?
Über die Ohnmacht der UNO möchte man gar nicht mehr reden. Da Sie aber einst Leiter der DDR-Delegation bei der UN-Menschenrechtskommission waren – war die UNO damals stärker, souveräner?
Ich habe drei Jahre lang, von 1984 bis 1986, an den Sitzungen der UN-Menschenrechtskommission in Genf teilgenommen, zu deren Mitglied im zehnten Jahr ihrer Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen die DDR erstmals gewählt worden war. Zwischen Herrn Jäger, meinem Pendant aus der BRD, und mir gab es in den Beratungen, wie man es ausgedrückt hat, ein "kaum miteinander, selten gegeneinander, meist nebeneinander". Bei den Abstimmungen allerdings überwog das Widereinander. Die Vereinten Nationen waren damals – und sind es heute genauso – kein Weltstaat und weder rechtlich noch tatsächlich souverän. Das atomare Patt hat seinerzeit verhindert, daß ein Weltkrieg zwischen den gegensätzlichen Weltsystemen ausbrach, nicht die Satzung der Vereinten Nationen. Noch haben sich die neuen Machtverhältnisse in der Welt nicht eingependelt. Daher haben wir in den letzten anderthalb Jahrzehnten mehr Kriege als vordem erlebt und die Rüstungsindustrie boomt wie nie zuvor.
Wenn Sie Bundeskanzlerin Angela Merkel ein Zeugnis ausstellen müßten – wie fiele es aus?
Frau Merkel ein Zeugnis auszustellen, setzt voraus, daß man über die Bewertungskriterien für ihr Verhalten übereinkommt. Es ist ratsam, selbst das auch nur hypothetische Vorhandensein eines solchen Übereinkommens zwischen ihr, der machtvollen Bundeskanzlerin, und mir, einem machtlosen Emeritus, gar nicht erst zu erwägen. Aus ihrer Sicht ist sie, ihres Vorgängers im Amt begonnene Sozialabbau- und Militäraufbau-Politik fortsetzend, gewiß krönungsbedürftig. Sie wird die letzte sein, die ihrem Kooperationspartner und ihren grün/gelben Reservepartnern das Programm des Zentralkomitees der Berliner Arbeitervereine vom 10. Juni 1848 unter die Nase hält, dessen Punkt 1 lautete: "Bestimmung des Minimums des Arbeitslohnes", in dessen Punkt 3 es hieß: "Aufhebung der indirekten Steuern" und Punkt 9: "Beschäftigung der Arbeitslosen in Staatsanstalten". Woraus zu schlußfolgern sinnvoll ist, daß Frau Merkel weniger meiner Kritik unterliegt, sondern, historisch gesehen, unter meiner Kritik liegt.
Ist nicht auch eine neue Anstrengung, eine neue Kritik der juristischen Grundbegriffe, wie sie seinerzeit Eugen Paschukanis unternahm, nötig? Gerade zum Aufbrechen von zementierten Bastionen internationaler Rechtsbündnisse?
Es gehört zu den bitteren Niederlagen meines Lebens als Wissenschaftler, daß es mir 1956 nicht gelang, das in deutscher Übersetzung seit 1929 vorliegende Werk des großen russischen Gelehrten Eugen Paschukanis "Allgemeine Rechtslehre und Marxismus" in einem DDR-Verlag herauszubringen (wegen seiner Ausnahmebedeutung für ein marxistisches Rechtsverständnis hatte ich es mir während meines Studiums abschreiben lassen); bis 1991 mußte ich absurder Weise warten, ehe ich dieses Vorhaben gemeinsam mit meinem russischen Freund Leonid Mamut verwirklichen konnte, und zwar als Band 2 der von mir in einem Freiburger Verlag seit 1990 herausgegebenen "Schriftenreihe zur rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung". Auch heute noch bin ich der Meinung, daß von allen Versuchen (einschließlich meiner eigenen), eine dem Marxismus gemäße Rechtstheorie zu entwickeln, der vor allem der Kapital-Lektüre verpflichtete Ansatz des 1937 in Moskau ermordeten Paschukanis auch künftig die allergrößte Faszination ausüben wird. Ohne seine Erkenntnisse und ohne die juristisch relevanten Schriften des auf die Emanzipation aller Unterdrückten zielenden jungen Marx (die Paschukanis nur teilweise bekannt sein konnten) wird es keine für den Rechtskosmos der Gegenwart angemessene Rechtstheorie geben.
Sie haben in DDR-Zeiten, um es salopp zu sagen, zweimal etwas auf die Mütze bekommen. Und zwar kräftig. Das alte ND "widmete" dem "Revisionisten Klenner" eine ganze Seite. Warum haben Sie dem im geistig-wissenschaftlichen Bereich oft kleingeistigen und alles reglementierenden ostdeutschen Arbeiter- und Bauern-Staat nicht den Rücken gekehrt? Sie hatten Gastprofessuren in Japan, den USA und Australien; es hätte sich sicher für Sie ein Lehrstuhl an einer renommierten Universität im Ausland gefunden.
Ich darf doch wohl darauf hoffen, daß ausgerechnet die Zeitung, deren Abonnent ich seit ihrer ersten Nummer bin, von mir keine Rechtfertigung dafür erwartet, daß ich der DDR den Rücken zu kehren nicht unternommen habe?
Nein. Es ist reine Neugier.
Vielleicht hätte ich es erwogen, wenn ich je der Meinung gewesen wäre, daß die BRD, statt den Realkapitalismus zu perfektionieren, den Übergang zu einer sozialismusgemäßen Gesellschaft in die Wege leiten könnte.
Was nun den unter einem gefälschten Autorennamen im ND vom 28. Februar 1958 publizierten Diffamierungsartikel gegen mich anlangt, so war er nur die Ouvertüre zu einer ganzen Kampagne, die in der Babelsberger Konferenz gipfelte, an der teilzunehmen mir untersagt war. Zu meinem Glücke; ich hätte ja Besserung geloben können. Gewiß war es kein Vergnügen, vom Generalsekretär der eigenen Partei als "Revisionist" und zehn Jahre danach vom Generalstaatsanwalt auf einem ZK-Plenum als "rückfälliger Revisionist", als "demokratischer Sozialist" (!) gar diffamiert zu werden. Die Details sind aus den Archiven publiziert und "Utopie kreativ" hat im April 2005 meine eigene Wertung des Vorgangs publiziert, der ich Täter, Opfer, Dulder (im Doppelsinn des Wortes) und Zeuge der Rechtswissenschaft der DDR und nun der BRD bin.
Als Wissenschaftler hat man zu den Produkten seines Kopfes wie zum Weg seines Denkens zu stehen. Und ist derjenige wirklich beneidenswert, der seine Laufbahn konfliktfrei absolviert? Wer über die heute nicht anders als gestern vorkommenden Konflikte zwischen den Wahrheitssuchern und den Machthabern ins Grübeln gerät, der sollte nicht die Frage zu beantworten vergessen, welche Alternativhandlungen sich denjenigen boten, deren Produktivitätserfordernisse Vorrang vor nahezu allem anderen hatten?
Ist aus Ihrer Sicht der Staat DDR vor allem auch an rechtlichen Defiziten zugrunde gegangen?
Die Untergangsgeschichte der DDR bis 1989 (auch deren Abwicklungsgeschichte danach, übrigens!) ist noch nicht geschrieben worden, und ich maße mir nicht an, sie schreiben zu können. Auch wenn das Ende der DDR nicht durch deren Rechtsordnung verursacht war, so ist doch nicht zu übersehen, daß es in ihr für den Untergang des Gesellschaftssystems begünstigende Bedingungen gegeben hat: a) Die bis zur Leugnung gesteigerte Unterbewertung der subjektiven, erforderlichenfalls auch gerichtlich durchsetzbaren Rechte des Bürgers im Staats- und Verwaltungsrecht; b) das in der Theorie (hieran habe ich meinen eigenen Anteil!) und der Praxis betriebene Ungleichgewicht zwischen den sozialen Menschen- und Bürgerrechten einerseits und den politischen Menschen- und Bürgerrechten andererseits; c) eine zuweilen statt auf Demokratie-Entfaltung auf Klassenkampf-Verschärfung im eigenen Lande orientierende Generallinie; d) der durch eine sich mit Allwissenheit ausgerüstet dünkende Partei gedrosselte, zuweilen unterbundene Meinungsstreit über ein zu veränderndes Recht, weshalb zuweilen nur noch gedacht wurde, was gedruckt werden durfte, und die von Marx initiierte kritische Rechtstheorie partiell in Rechtsapologie umschlug; e) die verbreitete Unfähigkeit, das Verhältnis von marxistischer und vormarxistischer Rechtstheorie als eine Einheit von Diskontinuität und Kontinuität zu begreifen und demgemäß die sozialistische Rechtspraxis als einen widersprüchlichen Fortschritt gegenüber der bürgerlichen Rechtsordnung zu gestalten; f) die immer wieder praktizierte Reduktion der Demokratie auf eine Einbeziehung der Bevölkerung in die bereits andernorts getroffenen Führungsentscheidungen der exekutiven Partei- und Staatsorgane, obwohl doch Demokratie nichts anderes sein kann als die Identität von Regierenden und Regierten; g) ein demokratischer Zentralismus, der sich nicht der Volkssouveränität subordinierte, obwohl es doch ohne eine Vergesellschaftung des Staates auch keine Vergesellschaftung der Produktionsmittel geben kann.
Über diese und andere Fehlentwicklungen habe ich auf dem Ostdeutschen Juristentag von 1992 (neben u. a. Evelyn Kenzler, Erika Süß, Gregor Gysi, Detlef Joseph, Volkmar Schöneburg, Joachim Göhring) referiert, und hat drei Jahre später Uwe-Jens Heuer ein ganzes Buch ediert.
Um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen: Nicht weil die Rechtsordnung der DDR nicht bürgerlich-kapitalistisch war, sondern weil sie nicht demokratisch und sozialistisch genug war, ist sie mitverantwortlich für das Scheitern des ersten Versuchs auf deutschem Boden, eine zum Realkapitalismus alternative Gesellschaftsordnung zu entwickeln. Um auch das noch zu sagen: Die Repressalien der heute Herrschenden legitimieren nicht das Versagen ihrer Vorgänger; es fällt sogar schwerer, die sich in der heutigen Rechtsordnung widerspiegelnden Antagonismen zwischen Reichtum und Armut, Macht und Ohnmacht, Krieg und Frieden zu erkennen, wenn man die Ursachen und begünstigenden Bedingungen für das Scheitern der DDR nicht zur Kenntnis nimmt, etwa aus Angst, für jemand gehalten zu werden, der die bürgerliche Gesellschaft nicht mehr als Struktur- und Entwicklungsform eines sich gegenwärtig brutalisierenden Realkapitalismus zu erkennen wagt, weil er sich bereits zu ihrem Mitspieler mauserte.
Wenn Sie eine neue Utopia verfassen müßten – für das 21. Jahrhundert. Wie sähe diese Gesellschaft aus?
Meine literarische Gestaltungskraft ist viel zu gering entwickelt, als daß ich mir ernsthaft vornehmen könnte, eine Gesellschafts-Utopie zu konzipieren, in die dann eine Rechts-Utopie eingebettet sein müßte. Im Leipziger Reclam-Verlag habe ich 1983 eine Edition der sozialphilosophischen Pamphlete des weithin (auch Marx) unbekannten Gerrard Winstanley, einschließlich seiner kommunistischen Utopie "Das Gesetz der Freiheit" von 1652, publiziert, die der Frankfurter Fischer-Verlag 1988 lizenzberechtigt nachgedruckt hat. In meinem Nachwort finden sich folgende Verse: Mein Volk war unterworfen diesen Herrn. / Erobrung durch Gewalt war's. Doch ist's gut, Gewalt / gewaltsam abzuschütteln – wenn der Unterworfne kann. // Es wird Tyrannenmacht uns weichen müssen, / wenn Friede und Gerechtigkeit sich küssen. // Jeder spricht von Freiheit heute; / doch am meisten sprechen die / Unterdrücker armer Leute / Freiheit und Democracy. // Der Winter ging dahin, Frühling ist schon zu spüren. / Pack dich, Königstyrann, samt deinen Kavalieren. / Laßt uns als Brüder bleiben und Genossen. / Es hat schon lang genug das Ebenbild sein Ebenbild beschossen.
Das von Karlen Vesper für "Neues Deutschland" geführte Interview wurde auszugsweise im ND vom 1. Juni 2007, S. 3, unter dem Titel "Der Dammbruch" abgedruckt.