Prozeß gegen Verteidiger des Bronzesoldaten in Tallinn
Sahra Wagenknecht, ND-Interview
Als die Regierung Estlands im April vergangenen Jahres beschloß, ein Ehrenmal für gefallene Sowjetsoldaten aus dem Zentrum Tallinns auf einen Militärfriedhof zu verlegen, protestierten vor allem Angehörige der russischen Minderheit in Estland, denen der „Bronzesoldat“ als Symbol der Befreiung vom deutschen Faschismus teuer ist. Es kam zu Straßenschlachten, bei denen ein junger Russe getötet und mindestens 150 weitere Menschen verletzt wurden. In Estlands Hauptstadt stehen seit Ende Januar vier junge Russen – Dmitri Unter, Mark Siryk, Maxim Reva und Dmitri Klensky – vor Gericht. Ihnen wird vorgeworfen, die „Massenkrawalle“ angezettelt zu haben. Die EU-Abgeordnete Sahra Wagenknecht war am 30. Januar 2008 als Zuhörerin im Gerichtssaal. ND-Redakteur Detlef D. Pries befragte sie danach.
ND: Welchen Eindruck hatten Sie von dem Prozeßgeschehen in Tallinn?
Wagenknecht: Der Eindruck, daß es sich um einen politischen Prozeß handelt, drängt sich auf. Ich habe mit vielen Augenzeugen gesprochen, nicht nur mit den Angeklagten, die mir übereinstimmend bestätigt haben, daß die Provokation damals von der Polizei ausging. Die meisten Menschen waren zum Denkmal gekommen, um ihre Solidarität mit dem antifaschistischen Monument zu bekunden. Auf friedliche Weise. Die Polizei hat sie dann brutal angegriffen und mit Gewalt versucht, die Versammlung aufzulösen.
Festgenommen wurde damals auch ein Deutscher ...
Klaus Dornemann. Er gehörte gar nicht zu den Demonstranten, sondern war zufällig dort. Auch er wurde festgenommen, eine Nacht in Haft gehalten und von der Polizei ziemlich übel zugerichtet. Er hat mir Fotos von seinen Verletzungen gezeigt.
Worauf stützt sich die Anklage gegen die vier Beschuldigten?
Die Anklage gründet sich überwiegend auf abgehörte Telefonate, E-Mails und SMS, die auf rechtlich fragwürdige Weise aufgezeichnet wurden. Die Angeklagten haben ein paar Freunden SMS geschickt wie: „Kommt zum Denkmal.“ Deshalb kann man ihnen aber doch nicht die Organisation von Massenunruhen vorwerfen.
Haben Sie von irgendwelchen Belegen erfahren, die es rechtfertigen würden, den Angeklagten eine Rädelsführerschaft in Bezug auf Gewalttaten anzulasten?
Wie mir viele Beteiligte geschildert haben, war die Verlegung des Monuments damals ein Medienthema. Diese Nachrichten haben die Leute auf die Straße gebracht, da brauchte niemand viel zu organisieren. Natürlich haben sich die vier auch öffentlich, in Interviews und Flugblättern, für den Erhalt des Denkmals ausgesprochen. Diese Interviews werden jetzt als Beleg dafür herangezogen, daß sie zu Krawallen aufgerufen hätten. Das ist eine Farce. Wenn jemand Gewalttaten plant, gibt er in der Regel vorher keine Interviews.
Alle vier Angeklagten sind Russen. Muß man daraus auf das Verhältnis zwischen Esten und Russen schließen?
Sicherlich ist das kein Zufall. Die Situation der russischen Minderheit in Estland ist sehr problematisch, die estnische Politik tut alles dafür, sie auszugrenzen und zu marginalisieren. So sind die gewaltsamen Zusammenstöße im Zusammenhang mit dem Denkmal einigen im politischen Establishment durchaus nicht ungelegen gekommen. Deshalb meine ich, daß auch der jetzt laufende Gerichtsprozeß keine innerestnische Angelegenheit ist. Die EU spielt gerne den weltweiten Vorkämpfer für Menschenrechte. Dazu gehören aber auch die Rechte von Minderheiten, die in Estland mit Füßen getreten werden.
Wie wird der Prozeß in der Öffentlichkeit Estlands aufgenommen?
Die estnische Presse ist zum großen Teil parteiisch und publiziert überwiegend die Version der Staatsanwaltschaft, während sich die russischsprachige Presse – die es auch gibt – eher um eine objektive Berichterstattung bemüht.
Welche Strafen drohen den Angeklagten?
Wenn das Strafmaß für Aufwiegelung zu gewaltsamen Aktionen ausgeschöpft wird, drohen ihnen bis zu fünf Jahre Gefängnis. Zwei der Angeklagten sind schon sechs Monate in Haft gewesen - auf der Grundlage dieser fadenscheinigen Anklage. Zwei haben ihre Arbeit verloren, ihren Arbeitgebern wurde nahegelegt, sie rauszuwerfen.
Der estnische Premier persönlich hat sich öffentlich dahingehend geäußert, daß man das Strafmaß ausschöpfen solle. Eigentlich ein Skandal, daß ein Politiker sich derart in ein laufendes Verfahren einmischt.
Wurde die Anwesenheit einer EU-Abgeordneten im Verfahren zur Kenntnis genommen?
Ja, die Richterin hat mich gefragt, wer ich sei und welche Sprachen ich spreche, ob ich den Prozeß also verfolgen könne. Das Gericht sollte ja das Gefühl bekommen, daß es nicht hinter verschlossenen Türen verhandelt, sondern daß der Prozeß auch im Ausland beobachtet wird. Dadurch entsteht hoffentlich ein gewisser Druck, rechtsstaatliche Normen einzuhalten.
Der Prozeß begann am Montag. Läßt sich absehen, wann das Urteil gefällt wird?
Ursprünglich sollte der Prozeß schon in dieser Woche abgeschlossen werden. Inzwischen wird aber schon spekuliert, daß er bis in den April oder Mai dauern könnte.
Aus: Neues Deutschland, 1. Februar 2008