Protest als emanzipatorische Chance der LINKEN
Bernd Riexinger, Vorsitzender der Partei DIE LINKE
Kleine und große Jubiläen pflastern das Jahr 2014. Der Erste Weltkrieg, der Zweite, Daten mit großer geschichtspolitischer Bedeutung. Ein kleineres Jubiläum: Helmut Kohl ist seit 16 Jahren nicht mehr im Amt. Genauso lange, wie er Kanzler war. Wer heute die lethargische Dunstglocke erlebt, mit der Angela Merkel jede Aktivität außerhalb der Moderation negiert, fühlt sich zumindest in Teilen an die bleierne Schwere erinnert, die Ende der 90er Jahre politisch über Deutschland lag. Der Zeitgeist verlangte nach weniger Konservatismus und mehr Sozialdemokratie, nach weniger Deutschland AG und mehr New Economy. Die Hoffnung vieler Menschen richtete sich auf sozial gerechte Reformen und mehr soziale Fantasie.
Getragen vom Veränderungswillen hat die rot-grüne Koalition die Regierung übernommen. Berauscht vom eigenen Erfolg (und sich selbst) legten Gerhard Schröder und Tony Blair allerdings schon 1999 den Niedergang der Sozialdemokratie an. Der Erfolg zerplatzte wie die Blase der New Economy, schließlich wollte der Macher Schröder nicht damit zögern, »die notwendige Kürzung der staatlichen Ausgaben herbeizuführen«, ebenso wenig »Effizienz-, Wettbewerbs- und Leistungsdenken einzuführen« (Schröder-Blair-Papier).
Generalangriff auf die Beschäftigten
Nicht alle haben die frühen Warnsignale erkannt – Oskar Lafontaine war wohl der Einzige aus der 1. Reihe. Was folgte, war die Aufkündigung der bundesdeutschen Sozialstaatlichkeit. Von der Privatisierung der Rente bis zum gesamten Strauß des Sozialabbaus über die Agenda 2010 haben die Sozialdemokraten das Verhältnis zu Gewerkschaften und außerparlamentarischen Bewegungen, wie gesamtgesellschaftlicher Zustimmung erodieren lassen. Schröders Regierungserklärung von 2003 liest sich elf Jahre später immer noch wie ein Fundamentalangriff auf die selbst herbeigeredete Neue Mitte und die, die bereits damals unter ihnen waren. In der jüngeren deutschen Geschichte ist wohl kein Name negativer konnotiert als der von Peter Hartz.
Was in der Folge einsetzte, war eine beispiellose Abwendung von Mitgliedern und Wählerinnen und Wählern von der SPD, eine, die bis heute nachwirkt. Die Absatzbewegungen Einzelner waren erklärbar schneller als die der Gewerkschaftsführungen, die die aufkommenden Proteste gegen die Agenda-Politik zunächst mit Arroganz beiseite geschoben haben. Man sei nicht die »APO der Nation«, meinte DGB-Chef Sommer noch, nachdem es am 1. November 2003 gelang, in Berlin, Stuttgart und Köln Zigtausende auf die Straße zu bringen. Nach dem angekündigten Generalangriff auf alle Beschäftigten hätten die Gewerkschaftsführungen sich zumindest als APO der Beschäftigten fühlen müssen, so wie es viele ihrer Mitglieder taten, die damit auch die Gründung der WASG möglich machten und landesweit Protest organisierten. Die damalige Vasallentreue zur SPD hat das Vertrauen in die Gewerkschaftsführungen schwer beschädigt. Das zu kitten, brauchte einen langen Atem.
Gegenwärtig wird viel über die WASG und ihre Entstehungsgeschichte geschrieben. Welche Person hatte welche Rolle, welcher Aufruf zur Bildung einer politischen (Wahl)Alternative hatte welche Bedeutung? Ich erinnere mich gerne zurück. Am 3. April 2004 war eine halbe Million Menschen gegen Schröders Politik auf der Straße. Sie hatten eine Mordswut. Überall im Land entstanden Initiativen. Da sind Leute neu oder wieder politisiert worden, die lange nicht aktiv waren. Die Sache verbreitete sich wie ein Lauffeuer und wie im Zeitraffer erinnere ich mich daran, wie ich plötzlich Landesvorsitzender der WASG in Baden-Württemberg war und bis 2011 blieb.
Wichtiger als der Blick auf die Geschichte ist mir die Frage, was aus den Protesten der Jahre 2003 und 2004 für die Zukunft folgt, was bedeuten diese für unser Bild von der Partei und ihrer gesellschaftlichen Rolle und was leiten wir daraus ab, wenn wir darüber reden, wie wir die Gesellschaft nach links verrücken können?
Parlamentarische Stellvertreterpolitik reicht nicht
Ich bin überzeugt, dass linke Politik nicht primär durch (richtige) Forderungen und Agitation erfolgreich wird. Die Gesellschaft rückt nicht dann nach links, wenn DIE LINKE dies fordert. Vielmehr muss linke Politik immer, wenn es emanzipatorische Politik sein soll, auf die Selbsttätigkeit und Selbstemanzipation der Menschen setzen und nicht auf eine reine parlamentarische Stellvertreterpolitik. Sie muss die Menschen ermächtigen, sich für ihre Interessen selbst einzusetzen und auch Politik als etwas zu verstehen, das sie nicht nur selbst betrifft, sondern wo sie auch selbst Akteure sind. Ich will, dass die Menschen die Subjekte der Politik sind und nicht die Objekte, die wir zu irgendetwas hinbringen wollen. Eine linke Partei, die Mitglieder nur braucht, um Plakate zu kleben, wäre mit Recht dem Untergang geweiht.
Für ein solches emanzipatorisches Politikverständnis sind die Proteste der Jahre 2003/2004 exemplarisch, denn diese waren organisiert von unten und gingen von gemeinsamen Interessen aus (der Angst vor dem sozialen Absturz) – nicht von oben herbeigewünscht. Die Gründung und Zustimmung zur WASG war das Ergebnis von gesellschaftlicher Unzufriedenheit, der Unterstützung durch gewerkschaftliche Strukturen und dem Wunsch nach sozial gerechter Umkehr, nicht andersherum.
Die Menschen müssen ihre eigenen Kämpfe führen, sie auswerten und daraus politische, auch strategische Konsequenzen ziehen. Oft trauen wir ihnen das nicht zu. Aber ich habe das oft erlebt, in meiner Zeit als verdi-Geschäftsführer in Stuttgart zum Beispiel, wenn die Streikenden ihre Aktionen ausgewertet haben – jeden zweiten Tag im Streikplenum, über Wochen. Oder auf Demonstrationen gehen oder sich für bestimmte Sachen aussprechen, Erfahrungen machen, diese auch entsprechend auswerten. Politik heißt, dass man Erfahrungen macht. Wenn man es mal historisch sieht, formieren sich die Menschen erst in Klassenauseinandersetzungen zu politischen Subjekten – also wenn Leute anfangen, sich für ihre Interessen einzusetzen. Auch frühere Klassen, die uns heute oft so homogen erscheinen – was sie gar nicht waren –, sie haben sich in Kämpfen und Auseinandersetzungen gebildet. Und wir Linke müssen uns als nützlich erweisen, indem wir die Kämpfe, die wir führen, verantwortungsbewusst, aber auch konsequent betreiben. Es kommt darauf an, solche Erfahrungsprozesse zu organisieren. Und auch heute müssten es Auseinandersetzungen sein, in denen Menschen aus ganz unterschiedlichen Richtungen zusammenkommen und die Verbindung ihrer Interessen verstehen. Die rot-grüne Regierung hat den damals größten Niedriglohnsektor der industrialisierten Welt eingerichtet und sie hat eine dauerhafte Spaltung zwischen Beschäftigten, Prekären und Erwerbslosen geschaffen. Diese Spaltung wirkt fort. Sie zeigt sich sogar bei der Frage, wer zur Wahl geht, wer sich von der Politik, irgendeiner Politik, noch was erhofft. Wir müssen Punkte, Forderungen, Auseinandersetzungen finden, um die herum die Gemeinsamkeiten deutlich werden: die öffentliche Daseinsvorsorge, Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums, arbeiten, ohne dabei krank zu werden, Zeit für Arbeit und Familie, Leben, Politik zu finden, also eine Umverteilung der Arbeitszeit und so weiter. Zunächst sind, was ich aufzähle, wieder nur Forderungen, Politikfelder. Wir müssen sie in Praxis übersetzen, in Auseinandersetzungen gegen die Privatisierung des Krankenhauses vor Ort zum Beispiel.
Ein neues Projekt tatsächlicher gesellschaftlicher Veränderungen
Für DIE LINKE halte ich es deshalb für unentbehrlich, dass wir ein gesellschaftliches Projekt brauchen. Wir müssen ein Zukunftsprojekt entwickeln, das Menschen begeistert und auf einen gemeinsamen Weg bringt. Das kann aber nur als kollektiver Prozess entstehen. Es entsteht auch immer vor dem Hintergrund von sozialen Kämpfen und Bewegungen. Leider diskutieren wir in der LINKEN – und das ist Teil des verkürzten Politikbegriffs – viel zu wenig darüber, wie sich gesellschaftliche Wirklichkeit verändert. Der eigentlich wichtige Prozess ist, für diese Forderungen gesellschaftliche und politische Kämpfe anzustoßen. Deswegen müssen wir den Begriff »Partei« weiterdenken als eine rein parlamentarische Organisierung von Funktionären oder ein Wahlverein, der Stimmungen und Mehrheiten aus Umfragen aufnimmt. Gesellschaftliche Verhältnisse ändern sich eben ganz stark durch eine Veränderung der Basis der Gesellschaft: in der Ökonomie, im Verhältnis zwischen Gewerkschaften und Kapital, in der Frage, ob demokratische Rechte vor Ort erkämpft werden können und vielem anderen mehr. Das sind Ansätze, um die gesellschaftlichen Verhältnisse nach links zu rücken.
Wenn man es ernst nimmt, dass DIE LINKE nicht nur parlamentarische Funktionen hat, sondern auch außerparlamentarische, dann muss man Forderungen entwickeln, die Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter, ein Teil der SPD und vielleicht auch der Grünen mittragen können – zumindest der Teil ihrer Basis, der sich für die sozialen Bestandteile ihrer Wahlprogramme begeistert hat. Revolutionär kann es werden, wenn für diese Forderungen tatsächlich Leute auf die Straße gehen. Das geschieht zum Teil im gewerkschaftlichen Bereich, aber im politischen Bereich haben wir da ungeheuer wenig. Außerparlamentarische Bewegungen? Wir sprechen über Blockupy, was ich tatsächlich für ein gelungenes Beispiel linker Politik halte. Aber das sind vielleicht 25.000 Menschen. Das ist weit davon entfernt, hegemonial zu werden.
Die LINKE ist eine Partei mit über 60.000 Mitgliedern. Sie muss in die Lage kommen, im Bündnis mit anderen gesellschaftlichen Kräften für eine Veränderung der Gesellschaft Kämpfe und Auseinandersetzungen zu organisieren. Zur Frage der Prekarisierung von Arbeit UND Leben. Und natürlich kann man solche Kampagnen auch bei der Verteilungsfrage machen, die ich für ganz wesentlich halte.
Das wird von den Bürgerlichen immer als Steuererhöhung diskutiert. In Wirklichkeit geht es um die öffentliche Daseinsfürsorge und um die öffentliche Infrastruktur. Die SPD hat Unrecht, wenn sie denkt, man könne sozialen Fortschritt oder soziale Gerechtigkeit erreichen, ohne Reichtum umzuverteilen. Nur so kann es gelingen, dem Schicksal anderer linker Parteien zu entgehen: Wenn sie ohne eine gesellschaftliche Kraft, ohne ein außerparlamentarisches Gegengewicht oder eine nennenswerte Gegenhegemonie – und das bedeutet viel in Zeiten der neoliberalen Globalisierung – in Regierungen eingetreten sind, sind sie untergegangen. Die erste Aufgabe linker und LINKER Politik muss es also sein, für andere Hegemonien zu kämpfen. Deswegen ist die Erinnerung an die Jahre 2003/2004 für mich primär eine Chance für die Zukunft.