Polytechnische Bildung – ein Wesensmerkmal von Bildungspolitik und Pädagogik der DDR
Prof. Dr. Joachim Hage, Berlin
Ein kurzer bildungshistorischer Rückblick
Am 2. Dezember 1959 verabschiedete die Volkskammer der DDR das »Gesetz über die sozialistische Entwicklung des Schulwesens in der Deutschen Demokratischen Republik«.
An den Anfang eines bildungshistorischen Rückblicks stelle ich ein Nachdenken über den begrifflichen Horizont von Bildung.
So finden wir in der philosophischen, gesellschaftstheoretischen und pädagogischen Literatur sehr unterschiedliche Ansätze. Hierbei sind es sowohl sehr allgemeine inhaltsbezogene als auch übergreifende funktional strukturierte Aussagen (Definitionen), die vor allem auf die Zielstellung von gesellschaftlich verfasster und institutionalisierter Bildung abstellen, die sich in den verschiedenen Bildungsstufen und Bildungseinrichtungen mittels eines curricularen Grundkanons ausdifferenzieren und verbindlich darstellen.
Auf Beispiele unterschiedlicher Bildungsverständnisse sei hier verzichtet. Jedoch biete ich ein vielleicht sehr universelles funktionales Verständnis von Bildung an, um die herausragende bildungshistorische Bedeutung des Bildungsverständnisses in der DDR in der deutschen Bildungsgeschichte hervorzuheben:
- Bildung soll und muss den Zugang und die Teilhabe des Menschen – also auch der Heranwachsenden – zur Vielfalt des kulturellen, geistigen und gesellschaftlichen Reichtums ermöglichen.
- Bildung hat einen eigenständigen und zugleich unverzichtbaren Beitrag zur Aktivierung individueller und kollektiver Leistungspotenziale zu erbringen, um gesellschaftliche und soziale Entwicklungsprozesse mitzugestalten.
- Unabhängig von den beiden erstgenannten Funktionen besitzt Bildung eine eigenständige persönlichkeitsbildende Funktion und Bedeutung.
Gesellschaftstheoretisch verdichtet formuliert bedeutet es, dass es ohne eine auf die gesellschaftlichen Entwicklungsphasen ausgerichtete und weiterentwickelte Bildungspolitik – einschließlich der inhaltlichen, materiellen und organisatorischen Strukturen – eine Entkopplung zwischen Bildungspolitik und den gesellschaftlichen und sozialen Entwicklungen gibt.
Bildung und sozialer Fortschritt
Für nicht wenige Entwicklungsländer war oder ist immer noch die Entwicklung des Bildungswesens eine der mitentscheidenden Fragen im Prozess des sozialen Fortschritts.
Vor dem Hintergrund eines solchen Bildungsverständnisses sowie eines adäquaten bildungspolitischen Ansatzes müssen wir das genannte Gesetz von 1959 und die damit verbundene Orientierung auf den vollständigen Übergang in der DDR zur zehnklassigen allgemeinbildenden polytechnischen Oberschule (POS) einordnen in die zu diesem Zeitpunkt gesellschaftspolitischen, ökonomischen und sozialen Entwicklungen. Die rechtliche und verbindliche Verankerung der POS als Regelschule erfolgte dann mit dem »Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem« vom 25. Februar 1965. [1]
Mit dem eingangs erwähnten von der Volkskammer beschlossenen Gesetz wurde die umfassende polytechnische Bildung ein inhaltlich und strukturell die DDR-Schule prägendes Wesensmerkmal von Allgemeinbildung und zugleich ein bildungspolitisch definiertes Merkmal der »allseitig entwickelten sozialistischem Persönlichkeit«, wie es in den entsprechenden Ziel- und Funktionszuschreibungen für das Bildungswesen in der DDR in den Bildungsgesetzen wiederholt formuliert wurde.
Polytechnische Bildung ist vom Grundverständnis ausgerichtet auf eine fächerübergreifende Ausbildung und Förderung geistiger, körperlicher, kulturell-ästhetischer und vor allem naturwissenschaftlicher und technischer sowie praktischer Bildung. Übergreifend und systembezogen ging es natürlich auch um eine weltanschauliche sowie moralische Bildung (und Erziehung).
Polytechnische Bildung ist kein Auffüllen, keine Ergänzung von traditionellen Lerninhalten und schon gar nicht vom Kern eine »Erfindung« der DDR-Bildungspolitik oder einer sozialistisch geprägten Pädagogik. Es geht um die Vermittlung und Herausbildung von Kenntnissen und Vorstellungen sowie das – wenn auch eingeschränkte – Erleben der Bedeutung von naturwissenschaftlichen und technischen Kenntnissen und Zusammenhängen bei der Organisation und dem Ablauf von Produktionsprozessen und deren Verankerung sowie Bedeutung für wirtschaftliche und somit allgemeine gesellschaftliche Entwicklungsprozesse.
Zugleich – insofern polytechnische Bildung als eigenständige Unterrichtsorganisation dann ab siebter Klasse sich vollzieht – geht es um Einblicke in ökonomische und technologische Zusammenhänge durch eine altersgemäße Mitarbeit an Teilprozessen komplexer Produktionsabläufe in der Industrie oder der Landwirtschaft (je nach den regionalen strukturellen und organisatorischen Gegebenheiten und Ressourcen).
Darüber hinaus wird mit der Umsetzung von polytechnischer Bildung in den Betrieben oder polytechnischen Zentren auch der bildungspolitische Ansatz der Verbindung von Schule, Arbeit und Leben ermöglicht und weiter ausgebaut.
Die Teilnehmer erhalten Einblicke in ausgewählte Berufsfelder bzw. bekommen eine Vorstellung von diversen Berufsbildern und deren Anforderungen. Polytechnische Bildung hat somit ebenfalls eine nicht unbedeutende berufsorientierende Funktion. Soweit möglich erlangen die Teilnehmer auch Einblicke in Formen der Mitgestaltung und Mitverantwortung der Beschäftigten vor Ort bei der Organisation von Arbeitsabläufen oder Qualitätskontrollen. Soweit der polytechnische Unterricht unmittelbar in Produktionsbetrieben erfolgte, bliebt es auch nicht aus, dass auch organisatorische Probleme der Materialbereitstellung oder der Leistungserbringung (Planziele) thematisiert wurden.
Geschichtlicher Vorlauf
Mit der gesetzlichen Verankerung und Vorgabe des Auf- und weiteren Ausbaus der polytechnischen Bildung 1959 traf die DDR inhaltlich, strukturell und organisatorisch frühzeitig eine wichtige Entscheidung, die Leistungs- und Zukunftsfähigkeit des Schulsystems schrittweise qualitativ auszubauen. Das dem neuen bildungspolitischen strukturellen Kontext einer umfassenden polytechnischen Bildung zugrundeliegende pädagogische Denken hat jedoch ideengeschichtlich und bildungshistorisch bereits einen großen Vorlauf.
Für bildungshistorisch Interessierte sei hier ein Exkurs in das europäische pädagogische Gedankengut angefügt.
So sprachen sich bereits Thomas Morus (1478-1535) sowie Thomas Campanella (1568-1639) dafür aus, dass junge Menschen schon frühzeitig in entsprechenden Bildungskonstruktionen an »Arbeit« heranzuführen wären. Auch Comenius (1592-1670) untersetzte sein pädagogisches (didaktisches) Konzept der »muttersprachlichen Schule« damit, Kinder von sechs bis dreizehn Jahren sollen »vom Handwerk allgemeine Kenntnis« erwerben, »sei es nur zu dem Zweck, dass sie auf keinem Gebiet des menschlichen Lebens völlig unwissend bleiben, sei es dazu, dass dann die natürliche Neigung eines jeden leichter zu erkennen gibt, wohin es ihn am meisten drängt.« [2]
Bei einem Blick zu einem französischen Klassiker der Erziehungsgeschichte stoßen wir auf Rousseau (1712-1778). Er schreibt: »Wenn ich ein Kind, anstatt es fortwährend über den Büchern sitzen zu lassen, in einer Werkstatt beschäftige, so arbeiten seine Hände zum Vorteile seines Geistes; es wird ein Philosoph, trotzdem es sich für einen Handwerker hält.« [3]
Die frühkapitalistische industrielle Entwicklung stellte neue Anforderungen an Bildungsinhalte. Ein Mindestmaß an technischer Bildung und handwerklichen Fähigkeiten waren gefordert. So entstand 1794 in Paris die »École Polytechnique«. Ähnliche Entwicklungen folgten in Österreich und in Deutschland. Hier erinnern wir uns an viele Reformpädagogen mit ihren Schulmodellen Anfang des 20. Jahrhunderts.
So trat z.B. Kerschensteiner (1854–1932) für ein »manuelles Betätigen als Unterrichtsprinzip« ein. Seine Auffassung war, dass »wahre Bildung stets auf dem Boden der Arbeit« zu organisieren sei. [4] »Eine öffentliche Schule, die auf geistige wie manuelle Berufe vorzubereiten hat, ist daher schlecht organisiert, wenn sie keine Einrichtung hat, die manuellen Fähigkeiten des Zöglings zu entwickeln.« [5]
Aber auch – und nicht verwunderlich – finden wir in der sowjetischen Bildungspolitik und Pädagogik eine Vielzahl von Ansätzen, Konzepten sowie Modellen, in deren Zentrum das Prinzip der Verbindung von Schule und Leben bzw. Lernen und Arbeiten sich wiederfindet.
So trat u. a. Krupskaja (1869-1939) für die Verbindung zwischen Unterricht und Produktion ein, indem sie sich auf Marx (1818-1883) bezog, der als Aufgabe der Schule eine weitgehend polytechnische Ausbildung im heutigen Verständnis hervorhob. Die Erziehung muss somit auch auf eine polytechnische Ausbildung gerichtet sein, die »die allgemeinen Prinzipien aller Produktionsprozesse vermittelt und gleichzeitig das Kind und die junge Person einweiht in den praktischen Gebrauch und die Handhabung elementarer Instrumente aller Arbeitszweige.« [6]
Bei aller zum Teil berechtigten oder zumindest diskussionswürdigen Kritiken am Bildungswesen der DDR gibt es keine wirklichen ernstzunehmenden Gründe, das Bildungswesen der DDR, die wissenschaftlich begleiteten curricularen Entwicklungen, die didaktischen Grundkonzepte – vor allem nicht die differenzierten Fach-Methodiken – sowie die generelle Leistungsfähigkeit des DDR-Bildungswesens, insbesondere das Schulwesen, als Fehlentwicklung darzustellen.
Prof. em. Dr. paed. Joachim Hage – 1986 an der PH Erfurt promoviert – war von 2013 bis 2019 Präsident der Hochschule für Soziale Arbeit und Pädagogik in Berlin.
Anmerkungen:
[1] Da die zehnjährige Schulpflicht somit allgemeinverbindlich war, bestand temporär die Befürchtung, dass in einer (zweijährigen) Übergangszeit zu wenig Schulabgänger (bisher ja noch eine nicht geringe Anzahl von regulären Schulabgängern nach der achten Klasse) zu einer Unterbesetzung der vorhandenen Lehrstellen – vor allem im industriellen Bereich – kommen würde. Als vorübergehendes Kompensationsmodell wurde an ausgewählten Schulen in Absprache mit Industriebetrieben eine Kombination zwischen dem obligatorischen Schulbesuch der neunten und zehnten Klasse sowie einer parallelen beruflichen Grundausbildung in ausgewählten Berufen eingeführt. Nach dem Abschluss der zehnten Klasse (Mittlere Reife) verkürzte sich dadurch die vertiefende Lehrausbildung auf nur noch eineinhalb Jahre. Dieses Modell war befristet und lief nach zwei Durchgängen aus.
[2] Comenius, J. A. (1954): Große Didaktik [1657]. Hg. v. A. Flitner. Düsseldorf/München. S. 196.
[3]Rousseau, J.-J. (o. J.): Emile oder über die Erziehung [1762]. Bd. 1. Leipzig. S. 283.
[4] Kerschensteiner, G. (1910): Grundfragen der Schulorganisation (2. Aufl.). Leipzig/Berlin. S. 42.
[5] Kerschensteiner, G. (1913): Begriffe der Arbeitsschule. Berlin. S. 25.
[6] Marx, K. (1962): Instruktionen für die Delegierten des provisorischen Zentralrates zu den einzelnen Fragen [1867]. In: Marx, K.; Engels, F.: Werke. Bd. 16. Berlin. S. 195 (190-199).