Offener Brief zum Papier "Der Herbst 1989 in Sachsen – Wir sind das Volk"
Bundeskoordinierungsrat der Kommunistischen Plattform
Eine AG "Herbst 89" (Cornelia Ernst, Monika Runge, Christel Hartinger, Julia Bonk, Gerhard Besier, Werner Bramke, Roland Wötzel, Stefan Hartmann, Bernd Rump, Klaus Kinner, Karl-Heinz Gräfe, Peter Porsch) hat unter dem obigen Arbeitstitel 20 Thesen verfaßt. Diese sollen am 28. März 2009 in Dresden auf einer Konferenz diskutiert werden.
Der Bundeskoordinierungsrat der Kommunistischen Plattform hat sich am 7. März 2009 mit den Thesen befaßt und sich für eine öffentliche Reaktion entschieden – nicht, weil wir den Streit um die Thesen wünschen, sondern weil es uns zwingend notwenig erscheint, einen solchen Streit zu beenden, bevor er ernsthaft begonnen hat. Ausgehend von dieser Absicht haben wir diesen Offenen Brief verfaßt.
1. Die 20 Thesen sind im Osten in der LINKEN nicht mehrheitsfähig, und auch im Westen wird es nicht wenige Genossinnen und Genossen geben, die mit Volker Külow, sächsischer Landtagsabgeordneter und Vorsitzender der LINKEN in Leipzig, übereinstimmen, der den Autoren vorwirft, sie übernähmen "weitgehend die Geschichtsinterpretation unserer politischen Gegner". Wozu ist es nötig, im Superwahljahr 2009 ein Diskussionspapier an die Öffentlichkeit zu bringen, das die Partei spalten muß? Denn es ist für sehr viele Parteimitglieder so nicht hinnehmbar. Sollen die Andersdenkenden nun schweigen, weil uns in diesem Jahr 15 Wahlen bevorstehen? Und was wohl würde uns vorgeworfen, wenn wir nicht schwiegen, und dann in der Partei eine Auseinandersetzung stattfände, die nur denen nutzen würde, die ein schlechtes Abschneiden der LINKEN im Wahljahr wünschen? Noch ist Zeit, eine solche Situation zu vermeiden. Die Autoren sollten darauf verzichten, ihre Thesen zum Diskussionsgegenstand in der LINKEN zu machen. Geschieht dies nicht, so tragen sie die Verantwortung für eine dann unvermeidbare Debatte.
2. Wir haben eine grundlegend andere Sicht auf die Geschichte als die Thesenverfasser. Unser Verhältnis zur Vergangenheit widerspiegelt sich konzentriert im Papier "Fünf Überlegungen zum Umgang mit Geschichte", veröffentlicht im Februar 2007 und verfaßt von Arne Brix, Ellen Brombacher, Stefan Doernberg, Dorothea Döring, Rim Farha, Thomas Hecker, Wulf Kleus, Carsten Schulz, Sahra Wagenknecht und unserem leider inzwischen verstorbenen Genossen Kurt Goldstein. Wer diese Überlegungen mit jenen in den 20 Thesen vergleicht, wird feststellen, daß der wesentliche Unterschied beider Papiere darin besteht, daß wir den Sozialismus des vergangenen Jahrhunderts als historisch legitim betrachten, während die Verfasser der Thesen Positionen vertreten, die weder durch die Programme der PDS (1990, 1993, 2003) noch durch die geltenden Eckpunkte abgedeckt waren bzw. sind.
3. In unserem Brief findet – schon wegen der oben geäußerten Forderung, das Papier zurückzuziehen, bevor es größeren Schaden anrichtet – keine detaillierte Auseinandersetzung mit den vorliegenden Thesen statt. Nur wenige Äußerungen daraus sollen exemplarisch belegen, mit welchem ideologischen Zündstoff wir es hier zu tun haben. In These 5 heißt es: "Wie in Sachsen verloren im Widerstand gegen Faschismus, Nationalsozialismus und Stalinismus in den 20er, 30er, 40er, und 50er Jahren des 20. Jahrhunderts auch Tausende von Kommunisten und Sozialisten in Europa ihr Leben, Zehntausende schmachteten in Konzentrationslagern und GuLAGS. Unter den Opfern aller dieser Regimes waren deutsche Sozialisten aller Richtungen." Wird hier – was immer davon zu halten ist – noch verglichen, oder wird hier nicht schon gleichgesetzt? In These 9 lesen wir: "Die Diktaturen innerhalb des Ostblocks durchliefen verschiedene Phasen, es gab auch manche nationale Besonderheit. Aber nach der Entstalinisierung unterschieden sich die ostmitteleuropäischen Diktaturen grundlegend von faschistischen bzw. nationalsozialistischen Diktaturen." Unterschieden sich die Sowjetunion, Polen, Ungarn, die ?SR, Bulgarien, Rumänien und die DDR vor dem XX. Parteitag der KPdSU demnach nicht von faschistischen Diktaturen bzw. dem Nazi-Regime? Man fragt sich, wieso die Thesenverfasser an anderer Stelle "manche 'Totalitarismuskonzepte'" kritisieren. Ihre eigenen Formulierungen bedienen die Totalitarismusdoktrin nicht nur, sie tragen zu deren "Weiterentwicklung" bei. Ebenfalls in These 9 heißt es: "Die DDR war, wie andere Staaten des Ostblocks, eine Diktatur, in der viele ihrer Bürger Zwang, Angst, Hilflosigkeit und Unterdrückung erlebten." Und in These 10 wird ergänzt: "Die fortwährende Verletzung universaler Menschenrechte stumpfte die Bürger der 'realsozialistischen' Staaten ab und ließ auf Seiten der Beherrschten wie der Herrschenden einen Zynismus aufkommen, als dessen Ergebnis der Sozialismus, seine wissenschaftlichen und ideengeschichtlichen Wurzeln zum ritualisierten Lippenbekenntnis verkamen." An keiner Stelle in den 20 Thesen finden sich auch nur annähernd vergleichbare Bewertungen des Kapitalismus, und dies in Anbetracht des blanken Zynismus, den der Profitmechanismus tagtäglich produziert. Milliarden werden straffrei verzockt, während die Verelendung sich weltweit ausbreitet und ALG-II-Empfängern wegen geringster Verstöße Sanktionen auferlegt werden.
4. In den Thesen findet sich kein Wort über gesellschaftliche Vorzüge des untergegangenen Sozialismus. Um die früheren DDR-Bürger zu beschwichtigen, wird angeprangert, daß ihnen in der neuen Bundesrepublik eine "angemessene Würdigung ihrer individuellen wie kollektiven Lebensleistung" verweigert wurde und wird. Warum aber sollten Menschen gewürdigt werden, die ihr Leben in den Dienst einer die universalen Menschenrechte fortwährend verletzenden Ordnung gestellt hatten. Sie wären so lediglich nützliche Idioten gewesen. Denen müßte keine besondere Würdigung zuteil werden. Nein, es geht eben nicht, die DDR in Grund und Boden zu stampfen und den Beitrag zahlenden Mitgliedern der LINKEN und den Wählern unserer Partei im Osten zugleich zuzubilligen, sie seien durchaus respektabel gewesen. Das funktioniert nur bei Menschen, die jedes zusammenhängende politische Denken unter dem ständigen Einfluß von BILD, RTL und anderen kapitalhörigen Medien verlernt haben.
Soweit einige wenige Überlegungen zu einem Papier, das der LINKEN keine Wahlkampfhilfe sein würde. Es sei wiederholt: Die Autoren sollten es zurückziehen.
Berlin, 7. März 2009