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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Nordeuropa und der Ostseeraum in der Einkreisungsstrategie der NATO gegenüber Russland

Prof. Dr. Gregor Putensen, Greifswald

 

Vorbemerkung: Die Wahl und der nunmehr erfolgte Amtsantritt von Donald Trump als Präsident der USA haben in allen westlichen Hauptstädten, darunter auch in Berlin, unverkennbare Irritationen hervorgerufen. Ja, auch bei den NATO-Verbündeten der USA in Westeuropa waren die Anzeichen für eine im Grundsatz strategische Ratlosigkeit in Bezug auf das künftige Verhältnis gegenüber Russland nicht zu übersehen. Die dort kaum geübte diplomatische Zurückhaltung mit einer klaren politischen Option zu Gunsten der von Hillary Clinton verkörperten weiteren Zuspitzung der militärischen Konfrontation zwingt die NATO vorerst einmal zur Suche nach neu zu fixierenden Positionen. Und diese dürften den Ambitionen eines amerikanischen Präsidenten nicht ohne erhebliche bündnisinterne Friktionen zuwiderlaufen. Trotz zum Teil recht widersprüchlicher Ankündigungen Trumps zu verschiedenen Politikbereichen vor der Übernahme des US-Präsidentenamtes verdienen jedoch vor allem Anzeichen in Hinblick auf ein denkbar verändertes Verhältnis zu Russland besondere Aufmerksamkeit. Von Seiten der russischen Staatsführung wurden sie bisher positiv, zugleich allerdings mit sachlich gebotener Abwartehaltung aufgenommen. In jedem Fall wäre es höchst begrüßenswert, wenn die nachstehenden Darlegungen sich auf ein zunehmend in der Vergangenheit liegendes Kapitel in den Beziehungen zwischen der NATO und Russland beziehen könnten, das vornehmlich die USA-Außenpolitik unter der Präsidentschaft Barack Obamas gekennzeichnet hat.

Gefahr militärischen Konflikts gestiegen

Das Verhältnis zwischen Russland und der NATO, der EU, ja dem Westen schlechthin insgesamt, hat eine höchst beunruhigende Zuspitzung erfahren. Ein Vergleich mit den Konfrontationen in der Systemauseinandersetzung während des Kalten Krieges zwischen den Militärblöcken von Warschauer Pakt und NATO drängt sich geradezu auf. Daher gebietet das objektive (Überlebens-)Interesse der Völker an der Erhaltung des Friedens nicht minder nachdrücklich als seinerzeit, den Kampf um eine sicherlich etwas an heute angepasstere Form von friedlicher Koexistenz in den internationalen Beziehungen zu führen. Seine Dringlichkeit ergibt sich aus der gewachsenen Komplexität nicht allein nur der veränderten geografischen Gegebenheiten des militärischen Bündnisgeschehens zu Ungunsten Russlands (Wortbruch der NATO-Osterweiterung). Vor allem die enorme Beschleunigung und digitalisierte Perfektionierung der Militärtechnik beinhalten die denkbare Möglichkeit, dass die unbeabsichtigte Auslösung eines kriegsähnlichen Konfliktes über eine nicht mehr aufhaltbare Eskalation zu einem Großkrieg globalen Ausmaßes führt.

Die drohende Gefahr eines derartigen Konfliktes ist alarmierend gestiegen, nachdem die militanten Tendenzen in der Politik nicht nur der USA und der NATO, sondern auch der EU unter maßgeblichem Druck Deutschlands (nach zunächst dem Anschein nach moderaterem Agieren von Kanzlerin Merkel) gegenüber Russland an Schärfe zugenommen haben. Die anfangs noch etwas zögerliche Einordnung der westeuropäischen Staaten in die amerikanische globale Einkreisungstrategie Russlands wird seit etwa 2008 (Georgiens Überfall auf Süd-Ossetien) von zunehmender Eigeninitiative einer Reihe von EU-Staaten bei ihrer militärischen Umsetzung getragen. Hierzu gehören vor allem Polen und die drei baltischen Staaten, immer stärker aber auch Deutschland, Frankreich, Großbritannien und die Niederlande. Darüber hinaus sollen die Maßnahmen der USA in Rumänien, Tschechien und im nordöstlichen Polen zum Aufbau einer globalen Raketenabwehr (zunächst angeblich gegen Iran gerichtet) das nukleare Zweitschlagspotenzial Russlands entwerten und damit die bestehende annähernde atomstrategische Parität zur NATO kippen. Dies und insbesondere die Beschlüsse der NATO-Ratstagungen vom Herbst 2014 in Wales sowie vom Sommer 2016 in Warschau haben den Ostseeraum und mit ihm die gesamte Region Nordeuropa zu einem Gebiet intensiver militärischer Aufrüstungsmaßnahmen und Aktivitäten gemacht. Solange das von der Präsidentschaft Boris Jelzins geprägte Russland den Profiterwartungen des westlichen Kapitals entsprach, galten die Beziehungen zum ökonomisch und militärisch geschwächten Riesenreich für die USA, NATO und EU als willkommen unproblematisch. Hinzu kam die geostrategische Schwächung Russlands als Rechtsnachfolger der UdSSR im Ostseeraum. Die vor dem gesellschaftlichen Umbruch im Osten Europas noch bestehende relative Handlungssouveränität der nordischen Staaten als einzelne politische Akteure hat nach dem NATO-Eintritt Polens (1999), Litauens, Lettlands und Estlands (2004) offenkundige Einschränkungen erfahren. Trotz des bislang nicht erfolgten Beitritts der formal immer noch militärisch bündnisfreien Staaten Finnland und Schweden zum westlichen Militärblock, dem Dänemark, Norwegen und Island bereits seit 1949 angehören, gilt die Ostsee für den Westen heute praktisch als NATO-Binnenmeer. Militärisch bedingte Spannungen in der Gesamtregion Nordeuropas mit ihren ca. 35 Millionen Einwohnern sind nicht nur in, über und unter der Wasseroberfläche der Ostsee gewachsen. Gleiches gilt auch mit Blick auf die russische Halbinsel Kola als Stationierungsgebiet der russischen Nordflotte mit ihren Atom-U-Booten für die Gewässer des Nordatlantiks vor den Küsten Norwegens.

Besondere Zuspitzung im Ostseeraum

Von der offiziellen Politik des Westens wird die Vorgeschichte seiner politischen Wühltätigkeit in der Ukraine bis hin zum Bürgerkriegsgeschehen im Donbass nach dem blutigen Maidanumsturz vom Februar 2014 mit Schweigen übergangen. Das damit direkt im Zusammenhang stehende Streben der russischen Mehrheitsbevölkerung der Krim nach Anschluss an Russland wird ignoriert und in der Medienpropaganda absichtsvoll ausgeblendet. Dies dient auch in den Ostsee-Anliegerstaaten leider einer in hohem Maße wirksamen Manipulation des Massenbewusstseins, die Russland zunehmend als aggressive Bedrohung der nationalen Sicherheit ihrer jeweiligen Länder darstellt. [1] Eine besonders hasserfüllte Ausprägung an Russophobie hat diese Entwicklung in Polen und in den baltischen Staaten im Kontext mit dem dort ohnehin hypertrophierten Nationalismus mit erkennbaren faschistoiden Ansätzen gefunden.

Unbestreitbar hat Russland nach der Jelzin-Ära, insbesondere aber seit der Aufkündigung des ABM-Vertrags über die gegenseitige Beschränkung auf jeweils nur ein Raketenabwehrsystem durch die USA 2002, beim Rückgewinn an militärischer Stärke und Mobilität sichtliche Erfolge zu verzeichnen. Dennoch übertreffen die Militärausgaben der USA zusammen mit denen der anderen NATO-Staaten etwa das 10- bis 12-fache Russlands. Im Bereich der konventionellen Waffen verfügt die NATO gegenüber Russland über eine etwa 3,5-fache Überlegenheit. Allerdings bilden die Raketenkernwaffen das defensive Rückgrat Russlands - und hier besteht in der Tat die entscheidende strategische Parität gegenüber den USA und der NATO. [2]

Die gewachsene militärpolitische Zuspitzung im Ostseeraum lässt sich in ihren sichtbareren Anfängen an der skandinavischen Nordkalotte seit gut fünf Jahren (anfangs noch weitab von größeren Bevölkerungszentren) zurückverfolgen. Sie begann also noch lange vor den Ereignissen in der Ukraine, die ja vom Westen immer wieder demagogisch als vermeintliche Ursache für das verschlechterte und von Sanktionen geprägte Verhältnis gegenüber Russland ins Feld geführt werden. Unter zunehmender und führender Teilnahme der USA-Luftwaffe unterstützten nicht nur Einheiten aus den NATO-Ländern Dänemark und Norwegen, sondern nun auch auf dem Territorium und im Luftraum Schwedens und Finnlands Truppen dieser beiden eigentlich neutralitätspolitisch bündnisfreien Staaten aktiv diese Übungen. [3] Die schwedische und finnische Regierung rechtfertigten dies mit dem Erfordernis zu »gemeinsamen nordischen Verteidigungsbemühungen« und der Pflicht, den drei von Russland vermeintlich bedrohten baltischen Ländern sicherheitspolitische Solidarität zu bekunden. Hierbei sieht sich die Bevölkerung dieser beiden Länder seit Jahren dem propagandistischen Trommelfeuer aus dem Lager der dominierenden bürgerlichen Medien und einiger Kreise militäraffiner Sozialdemokraten ausgesetzt. Die bürgerlichen Parteien Schwedens drängen nunmehr sogar auf einen verbindlichen Beitritt zur NATO und damit auf die Preisgabe der letzten neutralitätspolitischen Haltelinien des Landes.  [4] Vor diesem Hintergrund erwägt die sozialdemokratisch-grüne Regierung Schwedens die Wiedereinführung der 2009 abgeschafften Wehrpflicht. Flankiert werden diese Positionen mit der demonstrativen Wiederstationierung von Truppen auf der nach Ende des Kalten Krieges entmilitarisierten Insel Gotland. Die Umstellung der schwedischen und finnischen Streitkräfte (stets Wehrpflichtarmee) auf NATO-Standards ist faktisch so gut wie abgeschlossen. Schweden wird in dieser Hinsicht sogar vielen NATO-Mitgliedsstaaten als nacheifernswertes Beispiel präsentiert. Entsprechende Verträge erlauben den USA in Schweden und Finnland seit Kurzem nicht nur gegebenenfalls die Stationierung von Truppen und Kriegsmaterial, sondern von ihrem Territorium aus auch militärische Handlungen im Krisenfall. [5]

Als Gegenpotenzial – offensichtlich mit vorrangiger Zielfixierung auf den im Aufbau befindlichen Standort der globalen Raketenabwehr der USA in Redzikowo in Nordostpolen – sind atomar bestückbare Iskander-Raketen (400-600 km Reichweite) bei Kaliningrad nunmehr seit Kurzem stationiert. Nach Zahl, Umfang und geografischem Ausmaß sind die Sommer- und Wintermanöver von Jahr zu Jahr markant gewachsen. So beteiligten sich im Juli 2016 in der Südlichen Ostsee auf der Höhe vor Kaliningrad und an Land an der NATO-Übung »Baltops 16« 6.000 Mann, 45 Kriegsschiffe und 60 Flugzeuge aus 17 Staaten (darunter die USA-Fernbomber B 52), was nicht anders als provokativer Wink mit dem Zaunpfahl an Russland aufzufassen war. [6] Auf russischer Seite ist allerdings die Neigung zu höflich-diplomatischer Zurückhaltung auf diesem Feld seit Längerem ebenfalls unverkennbar geschwunden. In demonstrativer Nähe zu seinen westlichen Landesgrenzen sowie ebenfalls über, auf und unter der Oberfläche der internationalen Ostseegewässer haben großflächige Manöver und Mobilisierungsübungen mit zigtausenden Soldaten sowie Über- und Unterwasseraktivitäten der Streitkräfte Russlands eine unmissverständliche Intensivierung erfahren.

Provozieren oder verhandeln?

Diese Tendenzen haben in den letzten Jahren in der Ostsee und im Luftraum über ihr immer häufiger zu gefährlichen Konfrontationen und Zwischenfällen provokativen Charakters geführt, die bei denkbarer Fehldeutung unabsehbare Gefährdungen des Friedens mit sich bringen können. So fliegen dort nicht etwa nur russische Kampfflugzeuge – wie von der NATO behauptet – mit ausgeschalteten Transpondern (zur frühzeitigen Kennung und nötigen Sicherheit für alle anderen Bewegungen im Luftraum), sondern in gleicher Weise Flugzeuge westlicher Bündnisstaaten. Verhandlungsvorschläge von Präsident Putin und des finnischen Präsidenten Niinistö zur verpflichtenden Behebung dieses Gefahrenzustandes liefen bisher ins Leere. [7] Sowohl die NATO als auch Russland haben wiederholt leicht misszudeutende Scheinangriffsmanöver zu Wasser und in der Luft in Richtung Kaliningrad bzw. schwedische Küste gefahren oder geflogen. Anfang 2017 wurde die vorgesehene routierende Stationierung von jeweils 4 Bataillonen der NATO in Polen (USA) und den drei baltischen Staaten (darunter die Bundeswehr in Litauen in militärischer Leitfunktion) in Gang gesetzt. Die dortige Vorauslagerung schweren Kriegsgeräts soll die bisherigen Luftpatrouillen der NATO-Staaten über den Staaten des Baltikum »zur Abschreckung« und ihrem Schutz vor einem angenommenen russischen Aggressor massiv untermauern. Derartige Maßnahmen in unmittelbarer Nähe zur Westgrenze Russlands laufen unausbleiblich auf eine weitere Unterminierung der Voraussetzungen für einen stabilen Frieden im Ostseeraum hinaus. 

4. Januar 2017

 

Anmerkungen:

[1]  Mikael Holm: Rysslands upprustning saknar motsvarighet (Russische Aufrüstung beispiellos), in: dagensnyheter.se vom 15. April 2016; SÄPO varnar för ryskt psykologiskt krig – tiotal agenter på svensk mark (Die Sicherheitspolizei warnt vor russischem psychologischen Krieg – zig Agenten auf schwedischem Boden), in: dagensnyheter.se vom 17. März 2016.

[2]  Angaben gestützt auf die Publikationen des Stockholmer Friedensforschungsinstituts (SIPRI).

[3]  AL Burke/Seppo Hentilä/Bo Pellnäs/Gregor Putensen: Sicherheit in Skandinavien: Zwischen Bündnisfreiheit und NATO, in: Welt Trends Nr. 104/  Potsdam 6/2015, S. 20-42.

[4]  Expertenkommission Finnlands in NATO-Rapport: Finland och Sverige bör göra gemensam ansökan till Nato (Finnland und Schweden sollten gemeinsam um Beitritt zur NATO ansuchen), in: sverigestelevision.se vom 29. April 2016.

[5]  Schwedens Außenministerin Margot Wallström/Verteidigungsminister Peter Hultqvist: Värdlandsavtalet rubbar inte principen om militär alliansfrihet (Wirtslandvertrag stellt Prinzip militärischer Bündnisfreiheit nicht in Frage), in: dagensnyheter.se vom 29. Februar 2016; Friedensvereinigungsvors. Anna Ek: Hultqvist för en oärlig debatt om Nato (Hultqvist führt eine unehrliche Debatte über die NATO), in: svenskadagbladet.se vom 22. Februar 2016.

[6]  USA:s fruktade bombplan in över svenskt luftrum (Gefürchtete USA-Bomber in schwedischem Luftraum) in: svenskadagbladet.se vom 4. Juni 2016.

[7]  Vgl.: Irina Wolkowa: Russische Fluglotsen und UFOs über Fernost, in Neues Deutschland vom 1. Juni 2016 sowie Hubert Thielicke: Keine Lösung ohne Russland oder Prinzip Schlafwandler, in: Neues Deutschland vom 2. Januar 2017.