Nix Kapitalismus – das ist DDR
Reiner Kotulla, Leun
Da komme ich neulich mit einem Holländer ins Gespräch. Wir waren Nachbarn auf einem Campingplatz auf Sardinien. Seine Frau machte eine Flasche Cannonau auf und wir stießen auf das schöne Wetter und natürlich auf die Gesundheit an.
Beide begeisterte Golfer, teuer wie der Mann meinte, aber ein Sport, ihren körperlichen Möglichkeiten angemessen. Zwei Hüftoperationen hätte seine Frau schon hinter sich, doch seien die in Holland nicht durchführbar gewesen, nicht auf Krankenschein und auch nicht privat.
Es sei ihnen nichts anderes übrig geblieben, als die Behandlungen in der Schweiz vornehmen zu lassen, was natürlich einiges gekostet hätte.
Ich warf ein, daß es auch bei uns in Deutschland Bestrebungen gäbe, älteren Menschen derartige Operationen zu verweigern. So hatte vor einiger Zeit der Vorsitzende der CDU-Jugendorganisation, Phillip Missfelder, einen solchen, zutiefst der christlichen Nächstenliebe verpflichteten Vorschlag gemacht. Ich erlaubte mir den Hinweis, daß derartige unsoziale Forderungen zum Erscheinungsbild des gegenwärtigen Kapitalismus gehörten.
Da brauste mein Gegenüber regelrecht auf: "Nix Kapitalismus, das ist DDR."
Leider war ich nicht gut genug informiert und so unterließ ich eine Entgegnung, verabschiedete mich bald von den beiden. Lies nach und schreib darüber, trug ich mir auf. Hier das Ergebnis meiner Recherche:
In der DDR hatten alle Bürger ein Recht auf kostenlose Gesundheitsversorgung, das auch in der Praxis umgesetzt wurde. Der monatlich zu entrichtende Sozialversicherungsbeitrag für die Kranken- und Rentenversicherung betrug 20% des Bruttoeinkommens und wurde je zur Hälfte vom Werktätigen und dem Betrieb getragen. Weitere Kosten entstanden für sie nicht. Defizite trug der Staat. Kinder waren beitragsfrei mitversichert, nicht werktätige Familienmitglieder konnten sich für 0,50 Mark/Monat freiwillig kranken- und rentenversichern. Freiberuflich Tätige wie Künstler, Gewerbetreibende und Pfarrer konnten sich für etwa 10,- Mark im Monat bei der Staatlichen Versicherung der DDR krankenversichern.
Alle vom Arzt verschriebene Medikamente waren kostenlos. Die ambulante medizinische Versorgung erfolgte in privaten und staatlichen Praxen, Ambulatorien und Polikliniken.
Entsprechend der Bevölkerungsdichte wurden für die stationäre Behandlung Krankenhäuser und Kliniken unterhalten. Auch Fachkrankenhäuser gab es. Die Träger waren in überwiegender Mehrheit Kreise und Bezirke, einige arbeiteten als kirchliche Einrichtungen. Nicht genug damit, wandte ich mich mit einer Anfrage an meinen Berliner Freund Helmut Müller. Umgehend schrieb er mir das Folgende:
"Lieber Reiner, zu den Gelenkoperationen kann ich Dir folgendes mitteilen: Begonnen wurde damit Ende der 60er Jahre. 1970 wurden 1.700 solcher Behandlungen durchgeführt, 1986 waren es bereits 7.300. Hier ein Fall: Edith Lichtner, Jahrgang 1928, berufstätig als Küchenhilfe in einer Betriebsküche des Kombinats Narva, mußte sich im April 1987 einer Hüft-OP in einer Klinik in Sommerfeld bei Berlin unterziehen. Die verlief erfolgreich, und nach der Rehabilitation in einer Gesundheitseinrichtung an der Ostsee erhielt sie in ihrem Betrieb einen ihrer Belastungsmöglichkeit angepaßten Arbeitsplatz.
Sie lebt heute noch mit diesem Implantat, ohne nennenswerte Beeinträchtigungen. Die Behandlung war, wie die gesamte Gesundheitsbetreuung in der DDR, für die Patientin kostenfrei. Eine Lohnminderung erfolgte nicht.
Ich hoffe, lieber Reiner, daß diese Angaben für Dein Vorhaben verwertbar sind.
Herzlichst Helmut"
Also, doch Kapitalismus. Da ist es kein Wunder, wenn bei einer kürzlich veröffentlichten Emnid-Umfrage über die Hälfte der Befragten im Osten sagte, die DDR habe mehr gute als schlechte Seiten gehabt.
Ich denke, die wissen es besser als ihre Landsleute im Westen, von denen mehr als drei Viertel das Gegenteil behaupteten. Über einhundert Jahre von Staats wegen verordneter Antikommunismus, wie man sieht auch in Holland, zeigen die von den Herren des Kapitals gewünschten Erfolge.