Zum Hauptinhalt springen
Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

»Nie wieder Krieg!«

Dr. Norbert Podewin, Berlin (18. Januar 1935 – 10. Juli 2014)

 

Am 1. September 1964 verabschiedet die DDR das »Gesetz über die Nichtverjährung von Nazi- und Kriegsverbrechen«

 

Tagungen des DDR-Parlaments gehörten zum politischen Alltagsgeschehen; man nahm sie allgemein nachrichtlich zur Kenntnis. Doch anlässlich der regulären 7. Sitzung 1964 war alles anders: die DDR-Medien warben vorab um internationale Aufmerksamkeit. Das Sitzungsdatum: 1. September. Der Staatsratsvorsitzende Walter Ulbricht gab einleitend eine Erklärung ab, die Neues Deutschland titelnd so zusammenfasste: »Niemals wieder darf ein Krieg von deutschem Boden ausgehen!«

Die verhängnisvollen historischen Daten - 25. Jahrestag der Auslösung des Zweiten Weltkrieges in Verbindung mit der 50. Wiederkehr des Völkermordens 1914/18 - zum Anlass nehmend, schlug Ulbricht der Bundesregierung »erste Maßnahmen zur Minderung der Spannung und zur Abrüstung auf der Grundlage des gegenseitigen Beispiels vor: Verzicht beider deutscher Staaten auf Kernwaffen in jeder Form; Aufforderung an die vier Mächte, beide deutsche Staaten als dauernd kernwaffenfrei zu achten und, soweit sie Kernwaffen auf deutschem Boden stationiert haben, diese zurückzuziehen; Reduzierung der Militärbudgets beider deutscher Staaten in beträchtlichem Ausmaß. An die Völker, Parlamente und Regierungen der Staaten der Antihitlerkoalition wandte sich Walter Ulbricht mit dem Appell, alles zu tun, damit im Herzen Europas der Frieden gesichert und dem dritten Weltkrieg der Weg versperrt wird.« Verabschiedet wurde ein Appell der Volkskammer an die Staaten der Antihitlerkoalition. Er enthielt einen Vergleich der konträren Umsetzung der Grundsatzbeschlüsse der Siegermächte 1945 und fokussierte: »Wäre das Potsdamer Abkommen wie in der Deutschen Demokratischen Republik auch in Westdeutschland verwirklicht, würde die ganze deutsche Nation ein bedeutsamer Faktor des Friedens und der Sicherheit in Europa sein.«

Die Entschlossenheit der DDR zur unbeirrten Fortsetzung dieser Politik unterstrich die Volkskammer an diesem 1. September 1964 zusätzlich; sie verabschiedete das »Gesetz über die Nichtverjährung von Nazi- und Kriegsverbrechen.« Es schrieb fest: »§ 1 (1) Personen, die in der Zeit vom 30. Januar 1933 bis zum 8. Mai 1945 Verbrechen gegen den Frieden, die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen begangen, befohlen oder begünstigt haben, sind in Übereinstimmung mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen zu verfolgen und zu bestrafen. (2) Die Bestimmungen über die Verjährung von Straftaten der allgemeinen Kriminalität sind auf diese Verbrechen nicht anwendbar. - § 2 Bei der Verfolgung von Verbrechen gegen den Frieden, die Menschlichkeit und von Kriegsverbrechen ist anderen Staaten Rechtshilfe zu gewähren.«

Justizministerin Dr. Hilde Benjamin legte in der Gesetzesbegründung einen faktenreichen Kontrast beider deutscher Staaten vor. Die DDR verurteilte bislang 13.807 Nazi- und Kriegsverbrecher. Es waren hohe SS- und SA-Führer, Kreisleiter der NS-Partei, Juristen von Sondergerichten sowie Mitglieder des NS-Sicherheitsdienstes und der Gestapo. Auf DDR-Gebiet wurden alle Nazi- und Kriegsverbrecher, derer man habhaft werden konnte, ihrer Strafe zugeführt. Die DDR habe - so Benjamin weiter - Instanzen der BRD stete Rechtshilfe angeboten, doch dabei hätten sich »westdeutsche Justizorgane nur sehr zögerlich und des Öfteren erst nach mehrmaliger Wiederholung ... entschlossen, die Rechtshilfe der DDR in Anspruch zu nehmen. ... Dabei hat die DDR allein in der Zeit von 1959 bis 1964 in 113 Kriegsverbrecherprozessen den westdeutschen Justizorganen Rechtshilfe geleistet ...«

Nach amtlichen BRD-Angaben waren dort 5.513 Personen wegen NS-Verbrechen gerichtlich verurteilt worden. Die Ministerin nahm sich auch dieser Angaben kritisch an: »Mit dem ›Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der unter Artikel 131 des Grundgesetzes fallenden Personen‹ vom 11. Mai 1951 wurde angewiesen, ehemalige Nazibeamte, Nazidiplomaten sowie Nazipolizisten, Nazirichter und Nazilehrer bevorzugt einzustellen und zu befördern. Am 25. Juni 1961 wurden alle hauptberuflichen SS-Angehörigen in das sogenannte 131er Gesetz einbezogen, d. h.‚ die professionellen Mörder des Hitlerstaates werden mit neuen Posten und Pensionen belohnt ... Nunmehr will die westdeutsche Regierung alle Morde der Nazi- und Kriegsverbrecher verjähren lassen. Auf diesem Wege sollen Tausende Nazi- und Kriegsverbrecher unter Verletzung des geltenden Völkerrechts einer gerechten Bestrafung entzogen werden.«

Trotz dieser beschämenden Fakten kam die DDR auch weiterhin ihrer selbst gestellten Verpflichtung nach, grenzüberschreitend Amtshilfe bei der Suche und juristischen Abstrafung von NS-Tätern zu leisten. Sie bewies es vor allem im Auschwitz-Prozess, der am 20. Dezember 1963 vor dem Schwurgericht beim Landgericht Frankfurt/Main eröffnet wurde. Initiator war der wohl einzige bundesdeutsche Jurist antifaschistischer Prägung in Führungsposition, Fritz Bauer. Als Generalstaatsanwalt Hessens bezog er die DDR in den Prozess ein: Nebenkläger war der prominente Rechtsanwalt Friedrich Karl Kaul; als Gutachter stand ihm der Wirtschaftshistoriker Jürgen Kuczynski zur Seite. Fritz Bauer war ob dieses Entscheids dauerhaften Medienattacken ausgesetzt und wurde vom Großteil seiner bundesdeutschen Kollegen mit Vorwürfen belegt, »Pankoff« - so Adenauers »Dauersignum« für das östliche Deutschland - zu legalisieren! Der Prozess gegen 22 SS-Angehörige, die im KZ Auschwitz Funktionen ausgeübt hatten, endete erst im August 1965. Als Fazit las man dann in »Deutsche Geschichte in Schlagzeilen« 1990: »In der Weltöffentlichkeit lösten einzelne Freisprüche und das zum Teil niedrige Strafmaß Empörung aus ... Die im Aufwind des Wirtschaftsaufschwungs verwöhnten Bundesbürger mussten die Erfahrung machen, dass die Vergangenheit, die man so gern verdrängen wollte, sie nicht losließ ... Viele reagierten mit aufrichtiger Bestürzung und Betroffenheit, für sie waren die Urteile des Gerichtes zum Teil zu milde, sie verlangten harte Bestrafung, rückhaltlose weitere Aufklärung und Strafverfolgung der noch nicht dingfest gemachten Verbrecher ... Andere verlangten, man sollte endlich einen Schlussstrich ziehen unter die Vorgänge der NS-Vergangenheit, und noch andere sprachen sogar von fortwährender ›Nestbeschmutzung‹, die beendet werden müsse.«

Die DDR blieb auch weiterhin der am 1. September 1964 bestätigten Verpflichtung treu. So wurde ein spät aufgespürter Auschwitz-Täter, der KZ-Arzt Horst Fischer, für seine Verbrechen vom Obersten Gericht am 10. März 1965 angeklagt. In 10 Verhandlungstagen wurden 45 Zeugen aus 6 Ländern gehört sowie 4 Gutachter aus 3 Staaten gehört. Das Urteil wurde am 25. März gesprochen: Todesstrafe.

Ein weltweites Signal wurde wenig später gegeben. Vor einem internationalen antifaschistischen Gremium - dazu gehörten dieser Tage u.a. Georgi Alexandrow (UdSSR-Ankläger im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess) sowie Sam Goldblom (Präsident des Jüdischen Rates zur Bekämpfung des Faschismus und Antisemitismus), stellte der politische Hauptverantwortliche der DDR für die Verfolgung von NS-Tätern, Albert Norden, das »BRAUNBUCH Kriegs- und Naziverbrecher in der Bundesrepublik« vor. Es enthielt Kurzbiografien von 1.200 überführten NS-Kadern, die vorrangig in Staat, Justiz und Wirtschaft Der BRD tätig waren. 27 Minister/Staatssekretäre, 100 Generale/Admirale, 828 ehemalige »Blutrichter«, 245 ranghohe Diplomaten sowie 291 Beamte von Polizei/Verfassungsschutz. Albert Norden, Sohn eines in Theresienstadt 1943 ermordeten Oberrabbiners, erklärte ausdrücklich: »Selbstverständlich enthält das Braunbuch keine Namen nomineller Mitglieder der NSDAP. Die DDR hat immer konsequent zwischen der Millionenzahl ehemaliger Mitglieder der Naziorganisationen unterschieden, die selber irregeführt und betrogen wurden, und jener abscheulichen Gruppe von Hintermännern, lnitiatoren und Profiteuren der Naziverbrechen. Wir denken nicht daran ... irgend jemanden, der einmal einen politischen Irrtum beging, inzwischen aber längst seinen Fehler erkannt und einen neuen Weg beschritten hat, aus seiner Vergangenheit einen Vorwurf zu machen - schon gar nicht 20 Jahre danach.«

Das Buch wurde ein weltweiter Erfolg. Schon wenige Wochen später war die 1. Auflage vergriffen; noch 1965 erfolgte eine um 100 Biografien erweiterte Neuauflage, übersetzt auch in englischer, französischer und spanischer Sprache. Im Nationalrat der Nationalen Front (Herausgeber des »Braunbuches«) gab es für Besucher ein Sonderbüro. Dort zeigten vor allem junge BRD-Bürger reges Interesse und zugleich Betroffenheit über den »braunen Boden« ihres Systems; einige von ihnen machten sich bald darauf als »68er«-Aktivisten einen Namen.

Die Offiziellen der BRD dagegen hüllten sich in Schweigen. Dafür attackierten Springers Boulevardzeitungen das »Braunbuch« umso heftiger und unterstellten Lügen und Fälschungen. Seriöse Untersucher dagegen sahen die Fehlerquote bei 1.200 Namen unter 1 Prozent, so in der falschen Zuordnung bei Dutzendnamen wie Meier, Müller, Schulz. - Im Herbst 1967 präsentierte die DDR das »Braunbuch« auf der Frankfurter Buchmesse. Nun schritt die Staatsmacht ein und beschlagnahmte den Titel; die DDR-Aussteller verließen daraufhin sofort die Main-Metropole. - 1968 erschien eine 3. »Braunbuch«-Auflage, diesmal mit 1.400 Biografien unter Einbeziehung auch in Berlin-West befindlicher Ex-Täter.

Nach der 1990 erfolgten Einverleibung der DDR in das bundesdeutsche System schien das Thema NS-Vergangenheit/»Braunbuch« abgelegt. Überraschend kam dann eine Verlagsanfrage an mich als einstiger Mitarbeiter am »Braunbuch«, ob ich bereit sei, für eine Reprintausgabe als Herausgeber tätig zu werden. Nach meiner Zusage wurde das Buch auf der Leipziger Buchmesse 2003 vorgestellt.

Seitdem erreichen mich bis heute bundesweit Einladungen, um über die Entstehungsgeschichte detailliert zu berichten. - Die Buch-Nachfrage hält auch gegenwärtig an. Dazu kann auch eine Art Ehrenerklärung beigetragen haben, die in der voluminösen Veröffentlichung eines renommierten Historiker-Quartetts »DAS AMT UND DIE VERGANGENHEIT - DEUTSCHE DIPLOMATEN IM DRITTEN RElCH UND IN DER BUNDESREPUBLIK« 2008 erschien. Im Vorwort liest man: »Vor dem Hintergrund des Ost-West-Konflikts standen die Außenpolitik der Bundesrepublik und ihr Auswärtiges Amt unter Dauerbeschuss aus dem Osten, vor allem aus der DDR. Nicht nur deren ›Braunbuch‹ von 1965 verwies auf die hohe personelle Kontinuität zwischen dem alten und dem neuen Amt und auf die NS-Belastung westdeutscher Diplomaten. Die Angaben in dem Buch trafen zum allergrößten Teil zu; aber weil die Vorwürfe aus der DDR kamen, halfen sie ... im antikommunistischen Klima des Kalten Krieges den Beschuldigten eher, als dass sie ihnen schadeten. Und sie trugen dazu bei, dass die in den späten vierziger und fünfziger Jahren entstandenen Geschichtsbilder und Geschichtslegenden erhalten blieben und fortwirkten.«

 

Mehr von Norbert Podewin in den »Mitteilungen«: 

2014-08: Unauslöschliche braune Spuren

2013-10: Schlaglichter der Spaltung Deutschlands

Mehr über Norbert Podewin in den »Mitteilungen«: 

2011-03: Norbert Podewins »Marx und Engels grüßen … aus Friedrichshain«