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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Zur Lage der Klassen in Deutschland

Ralf Krämer

Eine Übersicht über die Zusammensetzung der lohnabhängigen und besitzenden Klassen im Jahr 2018

Die marxistische Klassentheorie stellt eine Verbindung her zwischen der Sozialstruktur einer Gesellschaft und den Produktionsverhältnissen, also der Struktur und Organisation des gesellschaftlichen Produktionsprozesses und den daraus resultierenden Einkommens­formen und -verhältnissen, ihrer Dynamik und der Stellung der Menschen darin. Damit ver­bunden sind unterschiedliche und auch gegensätzliche Interessenlagen sowie Machtposi­tionen in Gesellschaft und Politik. Letztlich fragt marxistische Klassentheorie danach, wel­che Bewusstseinsstrukturen die Menschen in sozialen Klassenzusammenhängen entwi­ckeln und wie sie sich organisieren, als soziale Großgruppen formieren und in gesellschaft­lichen und politischen Auseinandersetzungen – Klassenkämpfen – und Veränderungspro­zessen wirksam werden.

Definitionsfragen

Eine »klassische« Definition stammt von Lenin: »Als Klassen bezeichnet man große Men­schengruppen, die sich voneinander unterscheiden nach ihrem Platz in einem geschicht­lich bestimmten System der gesellschaftlichen Produktion, nach ihrem (größtenteils in Ge­setzen fixierten und formulierten) Verhältnis zu den Produktionsmitteln, nach ihrer Rolle in der gesellschaftlichen Organisation der Arbeit und folglich nach der Art der Erlangung und der Größe des Anteils am gesellschaftlichen Reichtum, über den sie verfügen. Klassen sind Gruppen von Menschen, von denen die eine sich die Arbeit der andern aneignen kann in­folge der Verschiedenheit ihres Platzes in einem bestimmten System der gesellschaftli­chen Wirtschaft.« [1] Die gesellschaftlich und politisch relevante Formierung der Klassen voll­zieht sich im Rahmen der einzelnen Gesellschaften und Staaten, so wie auch die Weltwirt­schaft ein System miteinander verflochtener Nationalökonomien ist, die sich auf jeweils sehr unterschiedlichem Niveau und mit unterschiedlicher Dynamik entwickeln.

In Deutschland haben wir es mit einer bürgerlichen Gesellschaft zu tun, die durch die kapi­talistische Produktionsweise beherrscht wird, also durch die Produktion von Waren – Gü­tern und Dienstleistungen für den Verkauf – zum Zweck der Erzielung von möglichst viel Profit. Dies bestimmt die Struktur und Entwicklungsdynamik der Gesellschaft. Kapitalis­tische Klassenverhältnisse beruhen auf der Konzentration des Eigentums an den wesentli­chen Produktionsmitteln in den Händen einer kleinen Minderheit der Gesellschaft einer­seits, der »doppelten Freiheit« der Lohnabhängigen andererseits. Diese sind einerseits per­sönlich rechtlich frei, andererseits frei von eigenen Produktionsmitteln und daher ökono­misch und sozial abhängig und gezwungen, zum Erwerb ihres Lebensunterhalts ihre Ar­beitskraft zu verkaufen. Das Kapital ist nicht nur ökonomisch, sondern auch gesell­schaftlich die herrschende Macht. Andererseits wäre es falsch, die gesamte Gesellschaft als durch und durch nur kapitalistisch zu betrachten. Ein relevanter Teil der Erwerbstätigen arbeitet außerhalb des kapitalistischen Sektors, und ein wesentlicher Teil der gesamten notwendigen Arbeit wird unbezahlt in privaten Haushalten erbracht.

In der kapitalistischen Produktion erzeugen die Lohnarbeiterinnen und Lohnarbeiter unter Kontrolle der Produktionsmitteleigentümer oder ihrer Funktionäre Mehrwert, der von den Eigentümern des Kapitals angeeignet und teils konsumiert, vor allem aber zur Vergröße­rung ihres Kapitals eingesetzt wird. Diese mehrwertproduktiven Lohnarbeitenden bilden die Arbeiterklasse im engeren Sinne; ein anderer Teil der Lohnabhängigen arbeitet außer­halb dieses Bereichs. Die kapitalistische Klasse ist die der privaten Eigentümer größerer, gemeinschaftlich genutzter Produktionsmittel, Immobilien oder großer Geldvermögen. Ihre Einkommen speisen sich aus verschiedenen Formen von Mehrwert, also letztlich aus der Ausbeutung fremder Arbeit. Kapitalistenklasse einerseits, Lohnarbeiterklasse andererseits – das ist die hauptsächliche sozialökonomische Klassenspaltung der Gesellschaft. Dazwi­schen gibt es selbständige und lohnabhängige Mittelschichten, darunter eine Unterklasse von dauerhaft Ausgegrenzten. Aber auch die Hauptklassen selbst sind ausdifferenziert und fraktioniert. Die allermeisten Lohnabhängigen verbrauchen ihr Einkommen ganz überwie­gend für den Lebensunterhalt (im weitesten Sinne) und haben wenig Möglichkeiten, größe­re Vermögen zu bilden. Dadurch wird die Ungleichheit der Verteilung der Einkommen, Ver­mögen, Lebenschancen und Macht beständig reproduziert und tendenziell verschärft.

Lohnarbeit in Deutschland

2018 gibt es in Deutschland über 40 Millionen abhängig Beschäftigte. Davon sind aller­dings über fünf Millionen nur geringfügig Beschäftigte, in den letzten Jahren mit leicht ab­nehmender Tendenz. Über 32 Millionen sind sozialversicherungspflichtig Beschäftigte. Dazu kommen 1,8 Millionen Beamte, Richter und Soldaten. Etwa 1,9 Millionen Personen befinden sich in Berufsausbildung. Insgesamt arbeiten über 24 Millionen in Vollzeit und über zehn Millionen in nicht nur geringfügiger Teilzeit. Der Anteil dieser Teilzeitbeschäftig­ten an den Lohnarbeitenden steigt kontinuierlich an, seit 1991 von gut zehn auf gegenwär­tig 26 Prozent. Die Vollzeitbeschäftigung ist von über 80 Prozent 1991 auf gut 60 Prozent gesunken, das Stundenvolumen dieser Gruppe liegt bei 78 Prozent, hat sich aber in den letzten Jahren etwas stabilisiert und nimmt bei guter Wirtschaftslage absolut wieder zu. Die Zunahme atypischer und überdurchschnittlich häufig prekärer Beschäftigung (Nicht-Vollzeit, befristet oder Leiharbeit) erfolgte vor allem in den 1990er und 2000er Jahren, seit 2010 ist eine Stabilisierung zu verzeichnen. Ein durchgehender Trend ist die fortschreiten­de Flexibilisierung der Arbeitszeiten und die Ausweitung von Schicht- und Wochenendar­beit sowie die Zunahme von Nebenjobs und Mehrfachbeschäftigungen. Über die Hälfte der Beschäftigten macht zudem regelmäßig Überstunden.

Über 80 Prozent der abhängig Beschäftigten, etwa 33 Millionen, davon 29 Millionen sozial­versicherungspflichtig, arbeiten bei den weit über drei Millionen privaten Unternehmen. Etwa 14 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte arbeiten in den knapp 15.000 Großunternehmen mit mehr als 250 Beschäftigten oder 50 Millionen Euro Jahresumsatz, davon etwa zehn Millionen in Großbetrieben (viele größere Unternehmen haben mehrere Betriebe). Etwa je sechs Millionen sind in kleineren Unternehmen mit neun bis 49 Beschäftigten und in mittleren von 50 bis 249 Beschäftigten tätig. Gut vier Millionen arbeiten in Kleinstunternehmen mit weniger als zehn Beschäftigten.

Nur noch weniger als ein Viertel der bei Unternehmen Beschäftigten arbeitet in der Indus­trie, davon über die Hälfte in Großbetrieben, weitere sieben Prozent in Bauwirtschaft, Ver- und Entsorgung. Etwa ein Viertel arbeitet in Handel, Verkehr und Gastgewerbe, überwie­gend in Klein- und Kleinstbetrieben. Über ein Fünftel arbeitet im Gesundheits- und Sozial­wesen, Erziehung und Unterricht oder Kultur und Erholung, ein Viertel in sonstigen priva­ten Dienstleistungsbereichen.

Etwa 4,7 Millionen Beschäftigte, also knapp ein Siebtel der nicht nur geringfügig Beschäftig­ten, arbeiten im öffentlichen Dienst, davon etwa ein Drittel in der allgemeinen Verwal­tung, Sicherheitseinrichtungen usw. und zwei Drittel in Bereichen von Bildung und Wissen­schaft, sozialstaatlichen Leistungen und Daseinsvorsorge. Weitere 1,2 Millionen arbeiten bei Ein­richtungen und Unternehmen in überwiegend öffentlichem Eigentum in privater Rechtsform, also insgesamt knapp sechs Millionen bei öffentlichen Arbeitgebern. Etwa zweieinhalb Mil­lionen Beschäftigte sind im »Dritten Sektor« der nicht gewinnorientierten Unternehmen und Organisationen außerhalb des öffentlichen Sektors beschäftigt. Insge­samt ist damit etwa ein Viertel der Lohnarbeitenden nicht für kapitalistische Unternehmen tätig.

Über die Hälfte der Arbeitsplätze und knapp die Hälfte der Bevölkerung befinden sich in sehr zentralen städtischen Räumen, gut ein Fünftel der Arbeitsplätze, aber etwa ein Viertel der Bevölkerung dagegen in peripheren, abgelegenen Regionen, vor allem in Ostdeutsch­land. Von der »vertikalen« Struktur her arbeiten etwa drei Prozent der Beschäftigten in Führungsfunktionen, etwa 13 Prozent als ganz überwiegend akademisch qualifizierte Ex­perten. Nur die Vollzeitbeschäftigten betrachtet ist ihr Anteil etwa um die Hälfte höher, und je nach Abgrenzung ergeben sich etwas abweichende Anteile. 55 Prozent sind Fach­kräfte, 14 Prozent Spezialisten. Etwa 18 Prozent der Beschäftigten arbeiten als überwie­gend Un- und Angelernte auf Helferniveau.

Alle Differenzierungen innerhalb der Lohnarbeit sind auch mit Unterschieden bei den übli­cherweise erzielten Löhnen verbunden. Grob gesagt wirken sich folgende, häufig miteinan­der verflochtene, Merkmale des Beschäftigungsverhältnisses oder Arbeitsplatzes negativ auf die Lohnhöhe aus: niedrigeres Anforderungsniveau der Tätigkeit und Stellung in der be­trieblichen Hierarchie, Teilzeit und insbesondere geringfügige Beschäftigung, Befristung und Leiharbeit, relativ kurze Betriebszugehörigkeit, kleineres Unternehmen oder von klei­neren Unternehmen geprägte Branchen, keine Tarifbindung, Lage in eher ländlichen Regio­nen oder in Ostdeutschland, hoher Frauenanteil in der Branche oder dem Berufsfeld.

Sektoral sind die Löhne in Land- und Forstwirtschaft, Bau, Verkehr und Logistik, Security und Hausdiensten, Gastgewerbe und Einzelhandel besonders niedrig. Von den persönli­chen Merkmalen her sind geringe formale Qualifikation, geringes Alter, Migrationshinter­grund und weibliches Geschlecht mit durchschnittlich geringeren Löhnen verbunden. In den letzten Jahrzehnten hat die Spreizung der Löhne, also der Abstand zwischen hohen und niedrigen Löhnen, deutlich zugenommen.

Reproduktion und Geschlecht

Die gesellschaftlich in Erwerbsarbeit organisierte Produktion von Gütern und Dienstleis­tungen und die Aneignung der daraus resultierenden Einkommen bestimmt die sozialöko­nomische Dynamik und die Klassenlagen, ist aber nicht zu trennen von der unbezahlt über­wiegend in den privaten Haushalten geleisteten gesellschaftlich notwendigen Arbeit und ihrer Verteilung. Auch dies gehört zu den Produktionsverhältnissen. Die gesellschaftliche Arbeitsteilung ist eng verknüpft mit den Geschlechterverhältnissen. Insbesondere Erzie­hungs-, Betreuungs- und Pflegeaufgaben werden immer noch überwiegend von Frauen geleistet. Ein relevanter Teil dieser »Care-Arbeit« wird zudem auf migrantische Frauen ab­gewälzt. Die Erwerbsbeteiligung der Frauen und insbesondere der Mütter ist (in den Län­dern der alten BRD) in den letzten Jahrzehnten stark gestiegen. Doch ein großer Teil insbe­sondere der Mütter ist nur in Teilzeit oder geringfügig erwerbstätig. Nimmt man bezahlte und unbezahlte Arbeit zusammen, arbeiten Männer und Frauen etwa gleich lang, mit Kin­dern fast 60 Stunden die Woche, ohne Kinder knapp 50 Stunden. Doch die Frauen haben im Durchschnitt nur etwa halb so viel »eigenes Geld« wie die Männer.

Etwa 47 Prozent der Erwerbstätigen und 48 Prozent der Lohnarbeitenden sind Frauen. Doch die geschlechtsspezifischen Unterschiede sind größer als diese Zahlen zeigen. Bei den Männern sind nach der Ausbildung über 85 Prozent erwerbstätig, und zwar zu über 90 Prozent in Vollzeit, bis die Quote bei den Älteren wieder absinkt. Das gilt fast unabhängig von Haushaltskonstellation und Kinderzahl. Bei den erwachsenen Frauen sind um die drei Viertel erwerbstätig, davon allerdings nur etwa die Hälfte in Vollzeit. Frauen mit Kindern sind überwiegend in Teilzeit oder geringfügig beschäftigt, und bei Kindern unter drei Jahren sowie drei und mehr Kindern überwiegend nicht erwerbstätig. Alleinerziehende (ganz über­wiegend Frauen) sind mehrheitlich in Teilzeit oder geringfügig beschäftigt und zudem zu ei­nem hohen Anteil erwerbslos. Fast ein Drittel ist von Armut bedroht.

Im Zuge der Feminisierung der Erwerbsarbeit ist mittlerweile auch für fast alle jungen Frauen wie für die Männer die biographische Perspektive die Aufnahme einer Erwerbstätig­keit. Damit ist auch ein größerer Bevölkerungsanteil als früher unmittelbar und nicht nur vermittelt über den Haushaltszusammenhang in Klassenverhältnisse einbezogen. Aller­dings ist die Vollzeitbeschäftigung von Frauen in Paarhaushalten gegenüber 1991 zurück­gegangen. Die Standardkonstellation bei Paarhaushalten mit Kindern hat sich von Nichter­werbstätigkeit der Frau zu Teilzeitarbeit der Frau verschoben. Nur weniger als jede fünfte Mutter mit minderjährigen Kindern ist in Vollzeit erwerbstätig. Zugespitzt könnte man sa­gen: Die Frauenfrage ist in sozialökonomischer Hinsicht heute im Kern eine Mütterfrage.

Die Lohnabhängigen

Zur Klasse der Lohnabhängigen gehören vermittelt über den Haushaltszusammenhang oder die sozialen Sicherungssysteme auch die einkommensmäßig abhängigen Familienan­gehörigen (überwiegend Kinder) sowie die große Mehrheit der etwa 21 Millionen Rentner (von denen ein kleiner, aber zunehmender Teil auch noch, meist geringfügig, erwerbstätig ist) und der 1,6 Millionen Bezieher von Beamtenversorgung, außerdem die unfreiwillig Er­werbslosen. Das sind knapp 2,5 Millionen registrierte Arbeitslose sowie etwa eine Million »stille Reserve« (mittlerweile überwiegend in »Maßnahmen«), und Personen, die wegen Er­ziehungs- und Pflegeaufgaben oder Arbeitsunfähigkeit nicht erwerbstätig sein können. Zur lohnabhängigen Klasse in diesem weitesten Sinne gehören an die 90 Prozent, zur Arbeiterklasse (inklusive Nichterwerbstätige) etwa drei Viertel der Bevölkerung. Wie sich die Menschen selbst verstehen ist allerdings eine andere Frage.

Mittlerweile hat etwa ein Viertel der Lohnabhängigen einen Migrationshintergrund, mit weiter steigender Tendenz. Diese Lohnabhängigen arbeiten in überdurchschnittlichem Maße in den weniger qualifizierten und schlechter bezahlten Bereichen und stellen dort vielfach die Mehrheit. Sie sind besonders häufig atypisch und prekär beschäftigt, von Er­werbslosigkeit betroffen und von Armut bedroht. Migration erfüllt heute in hohem Maße die klassischen Funktionen der industriellen Reservearmee.

Es gibt in der marxistischen Diskussion unterschiedliche Auffassungen, wie relevant wel­che Differenzierungen innerhalb der Lohnabhängigen sind, insbesondere inwieweit auch Beschäftigte nichtkapitalistischer Arbeitgeber und außerhalb der unmittelbaren kapitalis­tischen Produktion zur Arbeiterklasse zu zählen sind, und welche Bereiche das wären. Mei­nes Erachtens ist das entscheidende Merkmal, das in Verbindung mit der begrenzten Höhe der damit verbundenen Einkommen die sozialökonomische Lage prägt, die Lohnab­hängigkeit als solche, der Warencharakter der Arbeitskraft. Daraus ergeben sich gemein­same Interessen: möglichst hohe Löhne sowie begrenzte und sozial geregelte Arbeitszei­ten, gute und gesunde Arbeitsbedingungen und Kommunikationsmöglichkeiten, Mitbestim­mungsrechte, soziale Absicherung, soziale Infrastruktur, gute Bildungs- und Qualifizie­rungsmöglichkeiten.

Mittelschichten und Selbständige

Ein Teil der Lohnabhängigen, um die 15 Prozent, hebt sich von der breiten Mehrheit durch Leitungs- oder besonders hochqualifizierte Tätigkeiten sowie weit überdurchschnittliche Einkommen ab und kann als lohnabhängige Mittelschicht betrachtet werden. Dies betrifft erhebliche, aber kleiner werdende Teile des insgesamt größer werdenden Bereichs der akademisch qualifizierten wissenschaftlich-technischen und sozial-kulturellen »Intelligenz«. Wie diese sich gesellschaftlich und interessenpolitisch einordnen, ob sie sich in Gewerk­schaften oder eher ständisch organisieren, ist noch stärker als bei der Mehrheit der Lohn­abhängigen eine Frage der persönlichen Entscheidung, von historisch-sozialen, ideologi­schen und biographischen Bedingungen geprägt und umkämpft.

Auf der anderen Seite entspricht die soziale Lage eines großen Teils der Soloselbständi­gen, das sind insgesamt etwa 2,5 Millionen Personen bzw. knapp sechs Prozent der Er­werbstätigen, weitgehend der der Arbeiterklasse. Die soziale Unsicherheit ist meist noch größer, und die Mehrheit der Soloselbständigen verdient weniger als den mittleren Lohn abhängig Beschäftigter. Nach Anstieg in den 2000er Jahren ist ihre Zahl im Zuge der ver­besserten Arbeitsmarktlage in den letzten Jahren leicht gesunken. In den kommenden Jahrzehnten dürfte ihre Zahl im Zuge des weiteren Outsourcing bisher angestellt verrichte­ter Informationsarbeit und der Ausweitung über digitale Plattformen vermittelter Arbeit an­steigen; das sollte aber quantitativ nicht überschätzt werden. Ein großer Teil der hier Täti­gen macht das als Nebenjob. In Hauptbeschäftigung als Crowdworker selbständig tätig dürften bisher vielleicht 50.000, also kaum mehr als 0,1 Prozent der Erwerbstätigen sein. Weit relevanter ist die Ausweitung internetvermittelter Arbeit und indirekter bzw. vermeint­licher Selbststeuerung der abhängig Arbeitenden bei fortbestehendem Lohnarbeitsstatus. Die meisten Soloselbständigen haben aus ihrer sozialen Lage heraus in vieler Hinsicht ähnliche Interessen wie die Lohnarbeitenden und können diese auch gemeinsam mit diesen in Gewerkschaften vertreten, tun das bisher allerdings in geringem Maße.

Die Mehrheit der anderen Selbständigen bzw. Kleinunternehmer beschäftigt zwar Lohnar­beitende, ihr Einkommen beruht aber überwiegend auf ihrer eigenen Arbeit, seien es Frei­berufler, Selbständige in der Landwirtschaft, im Handwerk, im Handel, der Gastronomie oder anderen kleineren Dienstleistungsunternehmen. Das sind etwa eineinhalb Millionen Personen plus etwa 150.000 mithelfende Familienangehörige, etwa 3,5 Prozent der Er­werbstätigen. Sie sind nicht als Kapitalisten zu betrachten, sondern bilden die selbständige Mittelschicht oder Mittelklasse; eine klassische marxistische Bezeichnung für diese Mittel­schichten war »Kleinbürgertum«. Meines Erachtens ist die genaue Bezeichnung nachran­gig, es kommt darauf an, die damit gemeinte soziale Realität zu begreifen. Die soziale Stel­lung und Haltung dieser Teile der Bevölkerung ist besonders widersprüchlich. Einerseits wollen sie die Lohnkosten in ihren Betrieben niedrig halten und sich sozial nach unten ab­grenzen. Anderseits ist das Einkommen der meisten von ihnen nicht höher als das gutver­dienender Lohnabhängiger, und sie stehen in vielfältigen sozialen Kontakten mit Personen aus der Arbeiterklasse, oft auch im familiären Umfeld. Zudem stehen sie oft unter akut oder latent existenzbedrohendem Konkurrenzdruck.

Die Kapitalisten

Auch die kapitalistische Klasse ist hoch differenziert nach den überwiegenden Formen und den Sektoren, denen ihre Einkommen entstammen, ob sie unternehmerisch oder nur ver­mögensverwaltend und spekulativ oder gar nicht aktiv sind, und insbesondere auch nach der Größe ihrer Vermögen und damit ihrer Einkommen. Ein kleiner Teil der Kapitalisten­klasse bildet die Gruppe der Superreichen, die großkapitalistische Oligarchie, die auch über besonders große persönliche Macht und Zugänge zur politischen Führung verfügen.

Es gibt praktisch keine Datenquellen, die klare und differenzierte Informationen über die Strukturmerkmale der Kapitalistenklasse vermitteln. Etwa 250.000 private Unternehmen haben zehn oder mehr Beschäftigte [2] und zwei Millionen Euro oder mehr Umsatz. Anders als bei den kleineren Unternehmen handelt es sich mehrheitlich um Kapitalgesellschaften (GmbH oder AG). Etwa zwei Drittel der Umsätze und über die Hälfte der Wertschöpfung al­ler Unternehmen werden durch knapp 15.000 Großunternehmen mit mehr als 250 Be­schäftigten oder 50 Millionen Euro Jahresumsatz erbracht. Die großen Gesellschaften ha­ben in der Regel eine größere Zahl von Eigentümern größerer Anteile. Auch angestellte Ge­schäftsführer, Vorstandsmitglieder und führende Manager großer Unternehmen, deren sehr hohe Einkommen nur formell als Lohn, vom sozialen Inhalt her aber als ihnen übertra­gene Anteile am Mehrwert zu betrachten sind, gehören zur kapitalistischen Klasse. In vie­len GmbHs gibt es zudem geschäftsführende Gesellschafter und in vielen AGs halten Vor­standsmitglieder auch erhebliche Aktienpakete. Viele Kapitalisten haben relevante Anteile an mehreren Gesellschaften. Dazu kommen die Eigentümer großer Immobilienvermögen und Finanzvermögen.

Insgesamt kann man sagen, dass das reichste Prozent der Bevölkerung im Kern die Kapita­listenklasse ausmacht. Das sind in etwa die Vermögensmillionäre (ganz überwie­gend Männer), die weit über ein Drittel des gesamten Nettovermögens und 90 Prozent des Betriebsvermögens besitzen. Die reichsten 0,1 Prozent, sozusagen die oberen Zehntau­send, mit Vermögen im mindestens zweistelligen Millionenbereich, besitzen fast ein Viertel des Nettovermögens und drei Viertel des Betriebsvermögens. Das reichste Prozent der Haushalte (400.000) bzw. der Bevölkerung (820.000) hatte 2015 ein monatliches Bruttoä­quivalenzeinkommen (je Person gewichtet nach OECD-Skala) von über 13.000 Euro, durch­schnittlich 32.000 Euro. Davon waren durchschnittlich zwei Drittel Gewinne und Kapital­einkommen, ein Drittel Arbeitnehmerentgelt. Bei den Top-0,1-Prozent waren es durch­schnittlich über 140.000 Euro im Monat, davon fast 120.000 Euro Gewinne und Kapitalein­kommen. Der Reichtumszuwachs durch die erheblichen nicht ausgeschütteten Gewinne und nicht realisierten Wertzuwächse der Unternehmen und anderen Vermögen in ihrem Besitz ist dabei nicht einberechnet.

28.000 Unternehmen außerhalb des Finanzsektors, die 20 Prozent der Bruttowertschöp­fung erzielten, gehörten 2015 mehrheitlich zu einer Muttergesellschaft mit Sitz im Aus­land. Davon hatten zwei Drittel eine Muttergesellschaft aus Europa, knapp ein Viertel aus den USA, sieben Prozent aus Asien. Besonders hoch ist der Anteil mit über 40 Prozent der Beschäftigten in der Industrie (verarbeitendes Gewerbe) und 20 Prozent im Handel. Die Dax-30-Unternehmen sind sogar mehrheitlich in ausländischer Hand. Auf der anderen Sei­te besitzen deutsche Unternehmen und Anleger wachsende Auslandsvermögen in gigan­tischem Umfang. Der Saldo, also das Nettoauslandsvermögen Deutschlands, und der Be­stand an Direktinvestitionen in ausländische Unternehmen, beträgt mittlerweile jeweils um die zwei Billionen Euro.

Fast zwei Drittel der Dax-Aktien sind im Besitz von Finanzfonds, Banken und Versicherun­gen, die wiederum untereinander stark verflochten und zu einem großen Teil aus dem Aus­land kontrolliert werden. 2009/10 lag der Anteil des Finanzkapitals an den Top-200-Unter­nehmen in Deutschland bei 42 Prozent (in den USA bei fast 85 Prozent). Die meisten großen Fonds sind US-basiert, die bedeutendsten Blackrock und Vanguard-Group. Das än­dert aber nichts daran, dass die Unternehmen mit Sitz oder Mehrheit der Anteilseigner in Deutschland »die deutsche Wirtschaft« bilden, deren Interessenvertretung ein zentrales Anliegen des deutschen Staates ist.                   

In Heft 116 (Dezember 2018) von Z.Zeitschrift Marxistische Erneuerung (www.zeitschrift-marxistische-erneuerung.de) mit dem Schwerpunkt »Klassen und neue Klassendiskussion« befindet sich der etwas ausführlichere Beitrag von ­Ralf Krämer: »Die Klassenlandschaft in Deutschland 2018«.

Anmerkungen:

[1]  W. I. Lenin, Die Große Initiative. In: ders.: Werke, Bd. 29, Berlin 1965, S. 410.

[2]  Hier wird angenommen, dass die Beschäftigung von zehn Lohnabhängigen genügend Mehrwert abwirft, um von einem kapitalistischen Unternehmen und Unternehmer zu sprechen.

Aus: junge Welt vom 30. November 2018, Seite 12 (Thema)