Über politisches Handeln und individuelle Verantwortung
Margit Glasow, Rostock
Am 4. Dezember jährte sich zum 50. Mal der Todestag von Hannah Arendt. Aber wer war diese streitbare Denkerin? Und sind ihre Theorien und Positionen heute noch aktuell? Eine persönliche Betrachtung.
Von Günter Gaus in einem Fernsehgespräch 1964 danach befragt, ob sie eine Philosophin oder eine Theoretikerin sei, betonte Hannah Arendt, es gäbe zwischen Philosophie und Politik eine Spannung: »Nämlich zwischen dem Menschen, insofern er ein philosophierendes, und dem Menschen, insofern er ein handelndes Wesen ist.« Sie selbst gehöre nicht in den Kreis der Philosophen: »Mein Beruf – wenn man davon überhaupt sprechen kann – ist politische Theorie.« Wesentlich sei für sie – im Faustschen Sinne, wie ich meine – die Welt zu verstehen. Wirkung hingegen sei »eine männliche Frage. Männer wollen immer furchtbar gern wirken, aber ich sehe das gewissermaßen von außen. Ich selber wirken? Nein, ich will verstehen.« Und dieses Verstehenmüssen durchzieht ihr Leben und Schaffen wie ein roter Faden.
Hannah Arendt war vieles: Sowohl Theoretikerin als auch Philosophin, Publizistin, Journalistin, eine Frau, die sich von politischen Parteien fernhielt. Eine Sozialistin oder gar eine Marxistin war sie nicht, obwohl sie viele Kontakte zu linken Intellektuellen hatte, wie beispielsweise zu Rosa Luxemburg oder Bertolt Brecht, und sich auch mit Marx beschäftigte. In der DDR tauchte ihr Name fast ausschließlich in der Auseinandersetzung mit ihrer Totalitarismusauffassung auf. Mit dieser so genannten Totalitarismusdoktrin, behauptet der Historiker Prof. Dr. Alfred Loesdau in seinem Aufsatz »Politisch denken und historisch sehen«,war sie faktisch eine persona non grata. In ihrem Buch »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft«, das Arendt direkt nach dem Zweiten Weltkrieg verfasste und als ihr politisches Hauptwerk gilt, untersuchte sie die Entstehung von Faschismus und »Stalinismus« und deren, ihrer Auffassung nach, gemeinsamen Merkmalen. Doch dass sie die DDR nach dem Tod von Stalin nicht mehr als totalitär klassifizierte, wurde, so Loesdau, von den in der DDR tätigen Historikern nicht zur Kenntnis genommen.
Die 1906 in Hannover geborene Arendt stammt aus einer alten Königsberger Familie, in deren früher Kindheit das Wort »Jude« nicht fällt. Das wird ihr zum ersten Mal durch antisemitische Bemerkungen von Kindern auf der Straße entgegengebracht. »… dass ich jüdisch aussehe. Das heißt, dass ich anders aussehe als die anderen, das war mir sehr bewusst. Aber nicht in der Form einer Minderwertigkeit.« Ihre sozialdemokratisch geprägte Mutter ist ihrer Meinung nach zwar nicht sehr theoretisch veranlagt. Was sie von ihr aber mitbekommt, ist die Haltung: Man darf sich nicht ducken! Man muss sich wehren! Und auch, wenn Arendt behauptet, dass sie sich in ihrer Jugend weder für Politik noch für Geschichte interessiert hätte, gibt es nach eigener Aussage einen Punkt in ihrem Leben, einen Schock, von dessen Moment an sie sich verantwortlich gefühlt und gehandelt habe. Dieser Moment war der Reichstagsbrand am 27. Februar 1933.
Die Kritikerin des Nationalsozialismus und Jüdin flüchtet 1933 nach Paris, nachdem sie 1928 in Heidelberg im Fach Philosophie bei dem deutsch-schweizerischen Philosophen Karl Jaspers promovierte und anschließend ihre wissenschaftliche Arbeit in Berlin fortsetzte. Stets eine kritische Haltung gegenüber dem ethnisch nationalistischen Flügel des Zionismus einnehmend, engagiert sie sich in Paris in der World Zionist Organization, einer Nichtregierungsorganisation, die vor allem die Schaffung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk und die Förderung des Zionismus zum Ziel hat. Nach Kriegsbeginn wird sie in Frankreich interniert, doch ihr gelingt 1941 die Ausreise nach New York. Dort schreibt sie für die deutsch-jüdische Exilzeitung »Aufbau« und ist für die Jewish Claims Conference tätig, einer internationalen Organisation, die seit 1951 Entschädigungsansprüche jüdischer Opfer des Nationalsozialismus und Holocaust-Überlebender vertritt.
1951 wird sie US-amerikanische Staatsbürgerin und lehrt an verschiedenen Universitäten. 1961 nimmt sie als Berichterstatterin am viel beachteten Eichmann-Prozess in Jerusalem teil und veröffentlicht 1963 das kontrovers diskutierte Buch »Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht über die Banalität des Bösen«. Hannah Arendt beschreibt darin den deutschen SS-Obersturmbannführer und NS-Verbrecher nicht als sadistisches Monster, sondern als einen typischen Funktionär, der pflichtbewusst und gedankenlos Befehle ausführt. Die Ideologie, so meinte sie, spiele dabei keine sehr große Rolle.
Die Aktualität von Empathielosigkeit
Das Buch über Eichmann ist heftig kritisiert worden. Anstoß dessen war der Vorwurf, sie rede die Nazi-Verbrechen klein und laste den Juden ihr passives Erdulden der deutschen Massenmorde an. Auch das Wort Banalität führte zu vielen Missverständnissen. Weil man glaubte, was banal ist, sei alltäglich. Arendt erklärt dazu in einem Interview mit Joachim Fest, dem Historiker, der durch seine Biografien über Hitler und dessen Lieblingsarchitekten Albert Speer bekannt wurde, dass sie dieses Wort nicht im Sinne von Alltäglichkeit verstehe, nicht im Sinne von: Der Eichmann sitzt in uns allen. Arendt erzählt dazu eine Geschichte von Ernst Jünger, der während des Krieges zu einem pommerschen Bauern gekommen sei, der russische Kriegsgefangene unmittelbar aus dem Lager bekommen hatte, natürlich völlig verhungert. Und der Bauer zu Jünger gesagt habe, dass das Untermenschen seien, das könne man sehen: Sie fressen den Schweinen das Futter weg.
Diese Geschichte sei, so Arendt, von empörender Dummheit: Der Mann sehe nicht, dass das Menschen tun, die eben verhungert sind, und jeder es in einer solchen Situation täte. Und das habe sie mit Banalität gemeint. »Das ist einfach der Unwille, sich vorzustellen, was eigentlich mit dem anderen ist.« Für Arendt ist diese Empathielosigkeit etwas spezifisch Deutsches – neben der Idealisierung des Gehorsams. Die Berufung auf »Eid«, »Befehl«, »Gehorsam« und darauf, dass man doch versprochen habe, dass sie nicht zur Verantwortung gezogen werden würden. Aussagen, die, wie ich finde, aktueller denn je sind. Wie ist es heute um unsere Empathie, um das Verständnis füreinander bestellt? Und wie um unseren Gehorsam? In Zeiten zunehmender Militarisierung, des immer weiteren Auseinanderdriftens der Gesellschaft?
Die Freiheit, frei zu sein
Ich möchte ein anderes Beispiel anführen, das die Relevanz in der Gegenwart von Hannah Arendt unter Beweis stellt: ihr Verständnis von Freiheit, das – verständlicherweise – in besonderem Maße geprägt ist von ihrer jüdischen Herkunft. Explizit setzt sie sich mit der Frage, was es bedeutet, frei zu sein, in ihrem Essay»Die Freiheit, frei zu sein« auseinander, der in ihrem Nachlass gefunden wurde und zu einer Reihe von Essays und Vorträgen gehört, die Arendt in den 60er Jahren verfasste.
Arendt versteht Freiheit als die Möglichkeit, sich an gesellschaftlichen Prozessen beteiligen zu können, eine eigene politische Stimme zu haben, um von anderen gehört, erkannt und schließlich erinnert zu werden. Sie begründet in ihrem Essay, dass sie Freiheit nicht nur als die Abwesenheit von Furcht und Zwängen begreift. Ihrer Überzeugung nach sei es »schwer zu entscheiden, wo der Wunsch nach Befreiung, also frei zu sein von Unterdrückung, endet und der Wunsch nach Freiheit, also ein politisches Leben zu führen, beginnt.« Und diese Art von Freiheit erfordere nach ihrer Auffassung Gleichheit, die nur durch eine neue, eine bessere Gesellschaft herzustellen sei.
Einen konkreten Gedanken möchte ich aus diesem Essay herausgreifen, der meiner Ansicht nach die Schwierigkeit – auch in der Gegenwart – verdeutlicht, linke Kräfte zu organisieren. Arendt weist auf die historische Bedeutung der französischen Revolution hin, die vor allem darin bestehe, dass sie, obwohl sie krachend scheiterte, zum ersten Mal in der Geschichte, »le people auf die Straße brachte und sichtbar machte … (und) bis heute bestimmt, was wir als revolutionäre Tradition bezeichnen.« Bezugnehmend auf John Adams nimmt sie die Haupttugenden und Laster politischer Menschen, die Motivation, sich an politischen Prozessen zu beteiligen, unter die Lupe. Da ist auf der einen Seite die »Leidenschaft, die Begierde, der Beste zu sein«. Im Gegensatz dazu gibt es das Laster, den bloßen »Ehrgeiz, der nach Macht strebt.« Denn, so Arendt, »der Wille zur Macht als solcher, ohne alle Leidenschaft, sich auszuzeichnen, ist das hervorstechende Merkmal des Tyrannen und nicht einmal mehr als politisches Laster zu bezeichnen. Es handelt sich vielmehr um eine Eigenschaft, durch die alles politische Leben zerstört wird. Seine Laster ebenso wie seine Tugenden. Gerade weil der Tyrann gar nicht der Beste sein oder sich vor anderen auszeichnen will, findet er so viel Freude daran, zu herrschen und sich damit aus der Gesellschaft anderer auszuschließen.«
Es wird angenommen, dass der Titel des Essays»Die Freiheit, frei zu sein« auf den Schriftsteller und Philosophen Henry David Thoreau (1817-1862) zurückgeht. Arendt analysierte sein Konzept des zivilen Ungehorsams in Bezug auf ihr Verständnis vom Handeln im öffentlichen Raum. Thoreau rät uns, tätig zu werden. Uns nicht mit austauschbaren Politikermarionetten zufrieden zu geben. Und er bestärkt uns darin, dass Änderungen des politischen Systems, so verkrustet es auch sein mag, möglich sind. Thoreau hat Menschen wie Mahama Gandhi inspiriert, der die Publikation unter seinen Schülern verteilte. Beachtung fand sie ebenfalls in der französischen Widerstandsbewegung gegen Hitler-Deutschland. Wer seinen berühmten Essay »Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat« kennt, wird – so hoffe ich – die Einschätzung teilen, dass diese Schrift für jedermann, zumindest für jeden (linken) Politiker Pflicht sein sollte.
Mehr von Margit Glasow in den »Mitteilungen«:
2025-10: Das Elend ist nicht unabänderlich
2025-06: Was der Kampf um unsere friedenspolitischen Positionen mit dem Kampf gegen Russophobie zu tun hat
2024-03: Identität oder Klasse?