Über ein Imperium und zwei Hegemonen
Moritz Hieronymi, Peking
Überlegungen zur Dialektik der Geopolitik
Alle zwischenstaatlichen Beziehungen sind von Dominanz und Abhängigkeit geprägt. Erst die Gesamtheit all dieser zwischenstaatlichen Beziehungen bestimmt den Charakter der geopolitischen Verhältnisse.
Heinrich Triepel, der bedeutendste deutsche Völkerrechtler in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts, hatte sich in seiner staatstheoretischen Schrift »Die Hegemonie« 1938 mit der Problematik staatlicher Souveränität und führender Staaten beschäftigt. Entgegen dem damaligen faschistischen Zeitgeist verfolgte Triepel nicht die Auffassung von der natürlichen Vorherrschaft der Großräume, sondern untersuchte die »diplomatischen Verhältnisse« in ihrer Quantität und Qualität.
Die internationale Ordnung ist durch vielfältige Beziehungen zwischen Staaten und anderen völkerrechtlichen Entitäten geprägt, die in unterschiedlicher räumlicher Distanz zueinander sowie zu Bündnissen und internationalen Organisationen stehen. In diesem Geflecht üben die Akteure wechselseitig Macht aus, sowohl in kooperativer als auch in antagonistischer Weise. Diese Machtbeziehungen lassen sich nach den Graden des Einflusses, der Hegemonie und der Herrschaft differenzieren. Besonders der Hegemoniebegriff birgt konzeptionelle Schwierigkeiten. Nach Triepels Definition bezeichnet Herrschaft die komplementäre Vorherrschaft über Großräume, wohingegen Hegemonie eine Form der Machtausübung über Staaten darstellt, die zwischen Herrschaft und Einfluss angesiedelt ist.
Carl Schmitt kritisierte zu Recht, dass die Abstraktheit dieser Begriffe zu einem deterministischen Schema führte, welches die Komplexität der zwischenstaatlichen Beziehungen unterschätzt. Es gibt keine Starrheit der Zustände, sondern ein wildes Oszillieren, mit sogenannten »auctoritatis interpositio«. Diese Schmitt’sche Argumentation löste die Analyse von der Erscheinung der Zustände ab, um sich der Natur der Macht zuzuwenden.
Auctoritas und potestas stehen sich dabei als zwei gegensätzliche Machtkonzeptionen gegenüber. Während potestas auf der auf Recht basierenden Machtausübung beruht, bezieht sich die auctoritas auf ein übergeordnetes Prinzip, das aus der moralischen Stellung erwächst. Thomas Hobbes prägte hierzu das Konzept: »auctoritas, non veritas facit legem« – Autorität, nicht Wahrheit schafft das Recht. Im Mittelalter zeigte sich dieses Machtgefüge im Spannungsfeld von Papst und König. In der Neuzeit tritt dieses Machtgefüge nach Schmitt im Ausnahmezustand wieder zum Vorschein: »Souverän ist der, der über den Ausnahmezustand entscheidet« – Das heißt, derjenige, der darüber entscheiden kann.
Raum und Abhängigkeit
In der Globalpolitik drückt sich das Verhältnis zwischen auctoritas und potestas in der Asymmetrie zwischenstaatlicher Beziehungen aus. Die Harvard-Professoren Robert O. Keohane und Joseph S. Nye führen hierfür den Begriff der Abhängigkeit ein. Am Beispiel der USA beschreiben sie, dass sich deren Machtbasis aus dem ökonomischen Ungleichgewicht der bilateralen Beziehungen herleitet. Indem die USA ein gigantisches Außenhandelsdefizit insbesondere zugunsten Chinas (3:1), Japans (1,8:1), der EU (1,6:1) und Südkoreas (1,4:1) angehäuft haben, haben sie sich zwar in eine teils unkontrollierbare Schuldenspirale begeben, aber zugleich betonharte Abhängigkeiten geschaffen. Dies zeigt sich in der Paradoxie, dass die ökonomischen Großmächte ihre Exportabhängigkeiten zu den USA kaum abbauen können, da es niemanden mit einer vergleichbaren Abnahmefähigkeit auf dem Weltmarkt gibt. Zugleich können aber die USA aufgrund ihres riesigen Geflechts von Klientenstaaten und ihrer sonstigen bilateralen Beziehungen auf eine Großzahl alternativer Handelspartner zurückgreifen.
Dieser Defizitvorteil wird durch positive Vorteile wie die Kontrolle der Weltleitwährung (US-Dollar), der globalen Finanztransaktionswege (Operationszentrum der SWIFT), der physischen Handelswege (vgl. US-Verteidigungsminister Hegseth über die Bombardierung der jemenitischen Huthi-Partisanen) und des Patent- und Markenwesens (faktische Kontrolle der Weltorganisation für geistiges Eigentum WIPO) ergänzt. Besonders frappierend und weitestgehend unbekannt ist, dass die Vergabe von IP- und Internetadressen durch ICANN, einen durch das US-Handelsministerium beeinflussten ehrenamtlichen Verein, erfolgt. Dadurch verfügen die USA über die weltweite Kontrolle wesentlicher Teile der digitalen Infrastruktur.
Wer die Hyperstrukturen der Weltwirtschaft beherrscht, verfügt über reale Macht, argumentieren Keohane und Nye. Und meinen dabei eine Macht, die sich nicht aus Recht, sondern aus der Fähigkeit der Agendasetzung ergibt. Diese Dimension der Macht drückt sich weniger durch die Fähigkeit der entgrenzten Kriegsführung aus als darin, andere Staaten das tun zu lassen, was im eigenen Interesse liegt. Eine vergleichbare ökonomische Macht, auch im Bereich der technologischen, militärischen und kulturellen Vorherrschaft, wie die der USA, gibt es nicht. Sie bildet die Pax Americana.
Dennoch unterliegt die internationale Ordnung einer Veränderung, die den langsamen Niedergang der USA andeutet. Dabei sind China und Russland – wobei beide Staaten keineswegs ebenbürtig sind – die vermeintlichen Antipoden. Seit der Präsidentschaft von Xi Jinping tritt die Volksrepublik China sowohl selbstbewusster als auch offensiver auf der Weltbühne auf. Unter Xi wurden nicht nur bestehende Zusammenarbeiten wie die Shanghaier Organisation oder die BRICS erweitert und vertieft, sondern mit der Seidenstraßen-Initiative ein globales physisches Investitionsprogramm geschaffen. Derweil hat Russland sich der chinesischen Supra-Planung angeschlossen und übernimmt dabei eine führende Rolle. Gleichzeitig hat Moskau mit dem Ukraine-Krieg eine aus seiner Sicht nachteilige regionale Ordnung (Europa) unter Führung der USA herausgefordert. Im Vorfeld gab es bereits militärische Operationen in Syrien und Georgien.
Begriffe und Unschärfe
Wenn eine Ordnung ihre Gestalt verliert, tritt eine Phase der Ungewissheit ein. Die Antagonismen prägen sich aus, während die herkömmlichen Begriffe abgenutzt den Anforderungen der Veränderung nicht gerecht werden.
Russland und China sowie die Natur ihrer Macht im Gefüge der Restordnung sind nicht komplementär mit denen der USA. Beide Staaten waren mit dem Ende der Systemkonfrontation in unterschiedlicher Intensität geschwächt. Beide Staaten haben sich auch unterschiedlich von diesem Zusammenbruch erholt. Russland ist dabei aufgrund einer zehnjährigen Phase der kleptokratischen Jelzin-Regierung in eine multiple Krise geraten: Wirtschaft, Technologie, Demografie (prognostizierter Rückgang von 1990 bis 2050 um 20 Millionen Menschen) und Sicherheit. Zugleich war Russland zwar geschrumpft, aber seine Größe machte es weiterhin schwer beherrschbar. Unter Präsident Putin trat eine Phase der Konsolidierung ein, die von einer Westausrichtung geprägt war.
Dieses änderte sich ab dem 11. September 2001. Wie auch immer die jeweilige ideologische Ausrichtung des geneigten Lesers seien möge, die nachfolgenden Ereignisse sind bekannt und unterschiedlich bewertet worden. Zumindest ist festzustellen, dass die russischen Sicherheitsinteressen verletzt wurden. Diese Entwicklung muss aber immer im Kontext zu China gesehen werden. Als Peter Scholl-Latour das prophetische Werk »Russland im Zangengriff« schrieb, argumentierte er, dass Moskau die Entwicklungen an seiner Westgrenze nicht weniger Kopfschmerzen verursachen als die in Sibirien. Das neue Selbstbewusstsein der muslimisch geprägten Minderheiten, das rasante Wachstum Chinas und dessen Rohstoffbedarf sowie ein kulturell gepflegter Rassismus (Aus einem gelben Tropfen wird schnell ein gelbes Meer) verursachen weitreichende Probleme. Präsident Putin stand und steht einer geschwächten Großmacht vor, die sich seit dem Untergang der Sowjetunion in einer Übergangsphase befindet.
Chinas Entwicklungen sind seit dem Sommer 1989 ebenfalls wechselreich. Trotz einer weit angelegten marktwirtschaftlichen Struktur übt die KP die Prärogative über die gesamtstaatliche Eigentumsstruktur aus. Ähnlich wie Putins Konsolidierungsstrategie geht es Xi um die Wiederherstellung der China zustehenden historischen Rolle auf der Weltbühne. Das maßgebliche raumändernde Projekt ist dabei die Seidenstraßen-Initiative. Sie beruht auf einer Wechselbeziehung zwischen China und den Teilnehmerstaaten.
China und auch Russland wirken zusammen und einzeln auf die globale Ordnung ein. Die Interessensphären Russlands werden mit militärischen Mitteln verteidigt. China schafft durch seine global agierenden Staatskonzerne wirtschaftliche Beziehungen und bindet Staaten an sich. Beide Staaten wirken primär auf begrenzte Räume ein, ohne diese beherrschen zu können.
Imperialistische Kette
Erleben wir eine Neuaufteilung der Welt? Diese Frage meint: Erleben wir den Untergang einer alten und das Entstehen einer neuen Ordnung. Sie unterstellt zugleich ein konkretes Denkkonstrukt: Die neuen Mächte müssen sich die Welt auch wieder zum Untertan machen. Diese Fragen sind gegenwärtig gar nicht zu beantworten. Die imperialistische Kette hat eine klare Hierarchie: An ihrer Spitze stehen die USA. Die USA beherrschen die globalen Handels- und Finanzwege, die digitale Infrastruktur und prägen die weltweite Konsumkultur. Ihre militärische Gewalt wird zu Recht als »Full Spectrum Dominance« beschrieben. Weder das stärker werdende China noch Russland sind in dieser Gesamtheit allein oder zusammen konkurrenzfähig. Dabei geht es primär gar nicht um den Besitz von Rohstoffen oder um den Export, sondern um die Kontrolle der Infrastruktur. Und aus dieser Kontrolle erwächst die Macht.
Macht und Kontrolle werden durch einen militärisch-industriellen Komplex ermöglicht, der globale Interessen formulieren und durchsetzen kann. Somit können die USA proaktiv agieren. China kommt dem noch am nächsten, aber Russland agiert trotz des Ukrainekrieges reaktiv. Und weder Russland noch China hat eine derartige Verschmelzung von Finanzkapital und Militärindustrie mit globaler Ambition.
Kurzum, wie oben dargestellt, hat Triepel recht: Herrschaft und Hegemonie sind praktisch zu unterscheiden. Unzweifelhaft ist Russland gegenüber Belarus hegemonial. Aber schon wer die neuen Stadtviertel Minsks besucht, die von chinesischen Architekten und Unternehmen errichtet wurden, und wer weiß, dass die Söhne der belarussischen politischen Elite in Peking ausgebildet werden, dem wird klar, dass auch Belarus sich von einseitigen Abhängigkeiten freimachen möchte und es kann.
Auch am Beispiel Chinas zeigt sich: Die Entwicklung des Landes war zuerst auf die Befreiung von Millionen aus bitterer Armut und Hunger gerichtet, später richtete es sich auf die Schaffung von Industrie- und Finanzkapital. Die ökonomische Macht der Volksrepublik richtet sich im Schwerpunkt bis heute nach innen, auf die innere Konsolidierung.
Die globalen Verhältnisse unterliegen einer Veränderung. Aber handelt es sich bei Russland und China um eine sinistere Allianz, die sich mit den USA die globalen Räume neu aufteilen wollen? Das setzte eine gleichberechtigte Konkurrenz voraus, die die USA zwänge, ihre Macht zu teilen. Weder das eine noch das andere ist realistisch.
Mehr von Moritz Hieronymi in den »Mitteilungen«:
2025-08: Schatten ohne Menschen
2025-03: Die Schlacht verloren, den Krieg gewonnen
2024-08: Mehr Deng Xiaoping wagen