Tag der Befreiung / Tag des Sieges
Dr. Ulrich Schneider, Historiker, Generalsekretär der Fédération Internationale des Résistants (FIR)
Bilanz des politischen Umgangs mit dem 80. Jahrestag
Es war schon immer ein deutliches Indiz für die ideologische Ausrichtung der bundesdeutschen Gesellschaft, wie an den 8./9. Mai 1945 erinnert wurde. Interessanterweise ist das auch in diesem 80. Jahrestag in aller Deutlichkeit sichtbar geworden. Ältere werden sich noch an den politischen Eklat erinnern, den der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985 mit seiner Rede, in der er vom »Tag der Befreiung« sprach, in der alten BRD ausgelöst hat. Auch wenn diese Formulierung heutigen Politikern leichter von den Lippen geht, der geschichtspolitische Streit um die Erinnerungspolitik setzt sich ungebrochen fort.
Schon im März 2025 hatte die Internationale Föderation der Widerstandskämpfer (FIR) in einer Erklärung zum 80. Jahrestag ihre Grundpositionen benannt und auf ideologische Angriffe hingewiesen: »An diesem Tag haben alle Angehörigen der Anti-Hitler-Koalition, die Kämpfer in den militärische Einheiten der alliierten Streitkräfte, die Partisanen in den vom deutschen Faschismus okkupierten Territorien, die Frauen und Männer aus dem antifaschistischen Kampf, in der Illegalität, im Exil oder in den Haftstätten, bewiesen, dass die nazistische Bestie durch das gemeinsame Handeln der Völker besiegt werden konnte. Die bedingungslose Kapitulation war nur der sichtbare Ausdruck für den heroischen Kampf der Völker für ihre Befreiung, für die hohen Blutopfer, die insbesondere die militärischen Verbände der sowjetischen Streitkräfte beim Vormarsch auf die Reichshauptstadt Berlin erbringen mussten.«
Weiter hieß es in der Erklärung: »Wir werden nicht zulassen, dass ihr Andenken aus politischen Erwägungen heute missachtet oder verdrängt wird. Wir protestieren gegen die Schändung und Beseitigung von Gedenkzeichen, gegen Regierungsanweisungen, Vertreter von Nachfolgestaaten der UdSSR von öffentlichen Gedenkveranstaltungen auszuschließen. Besonders empörend ist es, wenn solche Ausgrenzung von der Regierung des Staates kommt, der sich in seiner Rechtsstellung als Nachfolgestaat des faschistischen Deutschlands versteht. Wer glaubt, aus tagespolitischen Erwägungen zwischen ›guten‹ und ›bösen‹ Befreiern unterscheiden zu können, der missbraucht die Erinnerung an den Tag der Befreiung für Zielsetzungen, die das Andenken an die Befreier beschädigen.«
Eine Empfehlung
Diese Erklärung richtete sich explizit gegen die Vorgaben aus dem Hause des Baerbock-Ministeriums, das – weder für Innenpolitik noch für Kultur- und Erinnerungsarbeit zuständig – eine »Handlungsempfehlung« an Kommunen, Landkreise und Länderregierungen herausgegeben hatte, keine Diplomaten der Russischen Föderation oder von Belarus zu Feierlichkeiten anlässlich des 80. Jahrestages der militärischen Zerschlagung des NS-Regimes und der Befreiung einzuladen und selbst nicht an Veranstaltungen teilzunehmen, die von deren diplomatischen Vertretungen organisiert wurden. Laut Medienberichten behauptete der Text zwar, Deutschland übernehme Verantwortung für die furchtbaren Verbrechen des NS-Regimes und setze sich für eine angemessene Würdigung der Opfer ein in Russland, in Belarus und weltweit. Angeblich wolle man sich mit dem Verbot der Einladung von Diplomaten der Russischen Föderation und Belarus »geschichtsrevisionistischer Verfälschung, sowie russischer oder belorussischer Propaganda« entgegenstellen und eine »politische Instrumentalisierung des Gedenkens« verhindern. Für die Gedenkveranstaltung im Deutschen Bundestag wurden explizit keine Vertreter der Russischen Föderation und von Belarus eingeladen, stattdessen der Botschafter der Ukraine, der kein Problem damit hat, faschistische Kollaborateure der Bandera-Einheiten als »Freiheitshelden« zu würdigen. Das Land Berlin lud für die eigenen Feierlichkeiten überhaupt keine ausländischen Repräsentanten ein, so als habe es die militärische Zerschlagung der Nazibarbarei durch die alliierten Streitkräfte gar nicht gegeben.
Das Auswärtige Amt setzt damit jene Linie fort, die seit 2022 das Gedenken in den Gedenkstätten der faschistischen Konzentrationslager prägt. Nach einem mit der damaligen Kulturstaatsministerin, Claudia Roth, abgestimmten Kodex wurden Vertreter Russlands und von Belarus als Repräsentanten der Nachfolgestaaten der Sowjetunion nicht mehr zu Befreiungsfeierlichkeiten eingeladen. Obwohl beispielsweise im KZ Buchenwald sowjetische Häftlinge die größte ausländische Häftlingsgruppe bildeten oder die Rote Armee zusammen mit polnischen Einheiten die beiden KZ Sachsenhausen und Ravensbrück befreit hat, wurde Vertretern der Nachfolgestaaten eine würdige Beteiligung verweigert. Wenn man weiß, wie viel Geld die Bundesregierung zur Organisation der Feiern zur Befreiung beisteuerte, kann es nicht überraschen, wenn seitens aller Gedenkstätten hier ein Nachvollzug von Regierungs-»Empfehlungen« stattfand.
Instrumentalisierung der Erinnerung …
Zudem sollte das Narrativ der »Staatsräson« Teil der Erinnerungspolitik in den Gedenkstätten werden, indem die Rolle der politischen Häftlinge und ihr in den Lagern geleisteter Widerstand verdrängt und die Orte ausschließlich zum Erinnerungsort der Shoah gemacht werden. Peinlicherweise fiel beim geplanten Staatsakt zu der Befreiung der Konzentrationslager Anfang April 2025 in Weimar den Akteuren dieser Paradigmenwechsel selber auf die Füße, weil man mit dem israelisch-deutschen Philosophen Omri Boehm einen unerwünschten jüdischen Referenten für die Festansprache eingeladen hatte. Als die israelische Botschaft mit einer politischen Intervention dessen Teilnahme kritisierte, musste die Gedenkstätte dieser Vorgabe der Netanjahu-Regierung folgen, auch wenn sie dies mit anderen Worten begründete. Weder die Thüringer Landesregierung, noch die Bundesregierung stellte sich in dieser Situation hinter die Gedenkstätte. Frau Roth erklärte zwar, dass die Unabhängigkeit der Gedenkstätten nicht in Frage gestellt werden dürfe, aber ließ genau diese Entwicklung zu. Soviel zur Geschichtspolitik der BRD.
Aber nicht an allen Orten ließ sich das Regierungsnarrativ bruchlos umsetzen. Mitte April wurde in Brandenburg an die Schlacht um die Seelower Höhen erinnert, bei der etwa 33.000 sowjetische Soldaten ihr Leben opferten, um den Weg nach Berlin gegen den erbitterten Widerstand der faschistischen Truppen freizukämpfen. Hier ließen sich der parteilose Bürgermeister und der stellvertretende Landrat (CDU) nicht von den »Handlungsempfehlungen« abhalten, gemeinsam mit dem Botschafter der Russischen Föderation und Diplomaten von Belarus Kränze niederzulegen. Diese Feierlichkeit wurden von vielen Menschen begleitet, denen es ebenfalls wichtig war, ein gemeinsames würdiges Zeichen zu setzen. Das führte zu einem bundesweiten medialen »Aufschrei des Entsetzens«. Als jedoch am Torgau-Tag am 25. April der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer die Anwesenheit des russischen Botschafters beim Gedenken dazu nutzte, um öffentlich die russische Ukraine-Politik zu kritisieren, sprach niemand von »Instrumentalisierung« der Erinnerung.
Einen besonderen Beitrag zur Erinnerungspolitik leistete die Berliner Polizei. Die Stadtregierung hatte wie in den vergangenen Jahren mit einer »Allgemeinverfügung« den Ausnahmezustand an den Gedenkstätten »Treptower Park« und »Tiergarten« für den 8. und 9. Mai 2025 verkündet und ließ die Vorgaben von willfährigen Polizeibeamten durchsetzen. Sowjetische Fahnen, selbst die junge Welt mit einer roten Fahne auf dem Titelblatt wurden als »Verstoß« gegen die Verfügung aus dem Verkehr gezogen. Der Autor sollte bei einer Eingangskontrolle die Ordensspangen von zwei Auszeichnungen der tschechischen Republik und der Slowakei abnehmen, weil die darin enthaltenen Farben Blau-weiß-rot angeblich »russische Symbolik« darstellten. Solche Absurditäten erlebten alle Teilnehmenden, die sich an einem würdigen Gedenken in Berlin beteiligen wollten. Was jedoch nicht gegen die »Allgemeinverfügung« verstieß, waren ukrainische Nationalisten, die nicht nur mit blau-gelben Nationalfahnen, sondern mit NATO-Fahnen an den Gedenkstätten für die Befreiung aufmarschierten und versuchten, die Kranzniederlegungen der Botschaften der GUS-Staaten und anderer Delegationen zu provozieren. Zum Glück erfolglos.
Wie weit die heutigen Regierenden hinter Richard von Weizsäcker von 1985 zurückgefallen waren, zeigte die Ansprache von Bundespräsident Frank Walter Steinmeier am 8. Mai 2025 im Deutschen Bundestag. Er erklärte: »Deutschland lag in Schutt und Asche am 8. Mai 1945, dem Tag der bedingungslosen Kapitulation. Städte, in eine endlose Trümmerlandschaft verwandelt, statt Häusern nur noch Schuttberge und Gerippe aus Mauerresten. Einzelne durch Willkür des Zufalls noch stehende Gebäude, inmitten der Verheerung aufragende Mahnmale. Von der Wehrmacht gesprengte Brücken als Fanal eines bis in den eigenen Untergang fanatisch geführten Krieges. Ganze Regionen verwüstet. ... Es waren Deutsche, die diesen verbrecherischen Krieg entfesselt und ganz Europa in den Abgrund gerissen haben. Es waren Deutsche, die das Menschheitsverbrechen der Shoah begangen haben. Und es waren Deutsche, die nicht willens und nicht fähig waren, selber das Joch des NS-Regimes abzuwerfen.« Als sei es das »nationale Volksganze« gewesen, das den Faschismus an die Macht gebracht hat, das die Aufrüstung und Kriegsvorbereitung betrieben hat, das an der Ausplünderung der jüdischen Menschen und dem Krieg verdient hat. Steinmeier nennt keine Täter, obwohl sie doch bekannt sind. Damit wird der deutsche Faschismus zu einer Angelegenheit der »Volksgemeinschaft«, nicht der hinter ihm stehenden Kreise des Kapitals.
Er setzte fort: »Am 8. Mai 1945 wurden wir befreit. Auch heute, 80 Jahre später, gilt unser tiefer Dank den alliierten Soldaten und den europäischen Widerstandsbewegungen, die das NS-Regime unter Aufbietung aller Kräfte und mit vielen Opfern bezwungen haben. Das vergessen wir nicht! Unser Dank gilt Amerikanern, Briten, Franzosen und all denen, die mit ihnen den Kampf gegen den nationalsozialistischen Terror führten.«
Über die sowjetischen Befreier, die er nicht in diesen Dank einschloss, glaubte er ausführen zu müssen: »Wir wissen auch, welchen Beitrag die Rote Armee dabei geleistet hat, Russen, Ukrainer, Weißrussen und alle, die in ihr gekämpft haben. Mindestens 13 Millionen dieser Soldaten und noch einmal ebenso viele Zivilisten verloren ihr Leben. Die Rote Armee hat Auschwitz befreit.« Entscheidend bei diesen Worten war, was er nicht sagte, nämlich dass die Menschen in der Sowjetunion Opfer des faschistischen Vernichtungskrieges gegen den »jüdischen Bolschewismus« wurden. Stattdessen ordnete Steinmeier diese »Erinnerung« dem heutigen antirussischen Narrativ unter, indem er erklärte: »Aber gerade deshalb treten wir den heutigen Geschichtslügen des Kreml entschieden entgegen.« Welche das sein sollen, diese Aussage bleibt er schuldig.
… zur ideologischen Formierung
Aber nicht allein der 8. Mai 1945 zeigt die politische Instrumentalisierung der Erinnerung. Ein weiteres Beispiel, wie historische Erinnerung für die politische Formierung der Gesellschaft genutzt wird, lieferte das diesjährige Gedenken zum 20. Juli 1944. Im Rahmen der ideologischen »Kriegstüchtigkeit« wurde einen Monat zuvor der erste »Veteranen-Tag« öffentlich zelebriert – wenn auch mit mäßigem öffentlichen Interesse. Aber nun wurde auch die Erinnerung an den militärischen Widerstand gegen den Hitler-Faschismus durch Konservative und Militärs diesem Anliegen untergeordnet. Verteidigungsminister Boris Pistorius erklärte beim öffentlichen Gelöbnis von rund 250 Bundeswehrrekruten am Abend des 20. Juli 2025 im Bendlerblock, der 20. Juli 1944 sei zum Symbol für Widerstand gegen Unrecht, für Gerechtigkeit und Gewissen, für ein »besseres Deutschland« geworden, das er selber in der heutigen Militärpolitik verwirklicht sieht. Der 20. Juli stehe daher für ihn nicht für das Scheitern, sondern für den Aufbruch – in ein militärisch einflussreicheres Deutschland.
Widersprüchlich war die Ansprache von Bundesjustizministerin Stefanie Hubig in Plötzensee zum gleichen Anlass. Sie erwähnte ausdrücklich als Opfer an diesem Ort Emmy Zehden, die hingerichtet wurde, weil sie als Zeugin Jehovas jeden Militärdienst ablehnte, den Kommunisten Erich Deibel, der getötet wurde, weil er einen Streik-Aufruf an eine Hauswand geschrieben habe, und Hilde Coppi, die im Frauengefängnis im November 1942 ihren Sohn zur Welt brachte und hier am 5. August 1943 zusammen mit zwölf weiteren Frauen der »Roten Kapelle« enthauptet wurde. Hubig schloss mit der Botschaft, von Deutschland dürfe nicht noch einmal ein solch monströser Horror ausgehen, wie er damals geherrscht habe – ohne auch nur darauf einzugehen, dass Faschismus und Krieg die Grundlage dieses »Horrors« war. Als Allgemeinplatz erklärte sie, man dürfe sich Rechtsstaat und Demokratie nicht noch einmal zerstören lassen. Auch hier fiel die inhaltliche Leerstelle auf, wodurch Demokratie und Rechtsstaat heute real bedroht sind.
Solche Beispiele belegen anschaulich, wie staatliche Erinnerungspolitik zur ideologischen Formierung genutzt wird. Dazu passt, dass der Kulturstaatsminister Weimer bei einem Interview mit dem Deutschlandfunk ankündigte, eine Neufassung der Gedenkstätten-Konzeption des Bundes vornehmen zu wollen. Es steht zu erwarten, dass auch hier das Regierungsnarrativ die Richtung vorgeben soll.