Schuld, die nicht vergeht
Ralph Dobrawa, Gotha
Vor 50 Jahren begann der Majdanek-Prozess
Das Konzentrationslager Lublin-Majdanek befand sich auf von den Faschisten besetztem polnischen Territorium. Nach einem Vorlauf wurde es ab Februar 1943 bis zum 23. Juli 1944 als solches betrieben. Vor allem jüdische Bürger und polnische Menschen verschleppte man nach dorthin. Die Anzahl der an diesem Ort Getöteten ist in der wissenschaftlichen Literatur umstritten. Man geht von etwa 80.000 Ermordeten aus. Allein bei der sogenannten Aktion »Erntefest« wurden über 9.000 Juden erschossen. Auch hier gibt es Zahlen, die höher sind. Zumindest zeitweilig sind auch drei Gaskammern zur Massentötung auf dem 270 ha großen Gelände betrieben worden. Die Auflösung des Lagers erfolgte unter dem Druck der sich nähernden Roten Armee, die es am 24. Juli 1944 befreite.
Langdauerndes Verfahren ...
Die Hauptverhandlung in dem dritten und bekanntesten Prozess gegen SS-Angehörige der Wachmannschaft begann erst am 26. November 1975 vor dem Landgericht Düsseldorf. Das war mehr als 30 Jahre nach der Zerschlagung des Hitlerfaschismus. Angeklagt waren ursprünglich 17 Männer und Frauen, die an der Tötung einer Vielzahl von Lagerhäftlingen beteiligt gewesen sein sollten. Die Anklage warf ihnen dies unter Verwendung der üblichen juristischen Fachbegriffe vor. Zu den Angeklagten gehörten auch zwei Frauen, die durch besondere Brutalität gegenüber den weiblichen Häftlingen in Erscheinung getreten waren. Es handelt sich dabei um Hermine Ryan-Braunsteiner und Hildegard Lächert. Letztere wurde von den Häftlingen »blutige Brygida« genannt. Sie quälte oft unter Verwendung einer Eisenkugelpeitsche oder trat mit eisenbeschlagenen Stiefeln auf wehrlose Häftlinge ein. Es bedurfte einer sehr umfangreichen Beweisaufnahme durch das Gericht, um zumindest einigermaßen feststellen zu können, welche Tatbeteiligung der Angeklagten einer möglichen Verurteilung zugrunde zu legen ist. Das erklärt auch die lange Dauer des Verfahrens von mehr als fünfeinhalb Jahren. Selbst der ein reichliches Jahrzehnt vorher stattgefundene Auschwitz-Prozess mit 22 Angeklagten konnte nach reichlich eineinhalb Jahren und 183 Verhandlungstagen beendet werden. Im Majdanek-Prozess hörte das Gericht etwa 350 Zeugen aus dem In- und Ausland, unter ihnen 215 Häftlinge, die das Grauen überlebt hatten. Sie waren in der Lage zu schildern, wie der Alltag in Majdanek ablief und welchen Torturen die Häftlinge ausgesetzt waren. Nicht wenige ihrer Schilderungen brachten die gesamte Brutalität zum Ausdruck, die das Lager überzog. Das bewegte vor allem Zuschauer im Gerichtssaal und die anwesenden Journalisten, die über den Verlauf des Verfahrens berichteten, besonders. Den Angeklagten war weder Reue noch Empathie anzumerken. Zum Teil sorgten manche ihrer Verteidiger dafür, dies noch zusätzlich durch völlig unverständliche Anträge zu pervertieren.
Bereits im Jahr 1979 wurde das Verfahren gegen vier der Angeklagten abgetrennt, und diese wurden freigesprochen. Auch ein weiterer Angeklagter wurde außer Strafverfolgung gesetzt. Zwei der Angeklagten waren zwischenzeitlich verhandlungsunfähig, sodass auch gegen diese nicht weiterverhandelt werden konnte. Eine Angeklagte verstarb während des laufenden Prozesses. Auf diese Weise reduzierte sich die Anzahl der Beschuldigten im Gerichtssaal letztlich auf neun. Insgesamt wurde während des langen Prozesses an 474 Hauptverhandlungstagen zu Gericht gesessen.
Die Beweisaufnahme gestaltete sich trotz der umfänglich vernommenen Zeugen auch Mitte der 1970er Jahre in der Bundesrepublik noch als schwierig. Das lag vor allem daran, dass zu dieser Zeit noch nicht die rechtliche Position vertreten wurde, dass jeder, der in einem Konzentrationslager »Dienst« tat, das Morden durch seinen Tatbeitrag unterstützte. Er war »Rädchen im Getriebe« der Tötungsmaschinerie. Es sollte noch mehr als 30 Jahre dauern, bis sich endlich die heutige Rechtsauffassung durchsetzte. In dem 2011 geführten Prozess gegen John Demjanjuk wurde sie erstmals durch das Landgericht München zur Grundlage der Verurteilung gemacht. Erst im Wege des Revisionsverfahrens gegen den sogenannten Buchhalter von Auschwitz bestätigte der Bundesgerichtshof allerdings diese Form der Rechtsanwendung. Das war immerhin im Jahr 2016! Bis dahin waren unzählige in Konzentrationslagern tätig gewesene Personen straffrei geblieben und mussten sich nicht vor einem Gericht verantworten. Jetzt war der Rechtsweg zur Strafverfolgung zwar neu eröffnet, aber aufgrund des langen Zeitablaufs ließen sich naturgemäß nur noch wenige lebende Beschuldigte ermitteln.
Ab dem Jahr 1978 wurde die Nebenklage für den bekannten Antifaschisten Max Oppenheimer zugelassen, dessen Vater in Majdanek umkam. Er wurde Opfer er am 3. November 1943 durchgeführten Massenmordaktion, die die Nazis als »Erntefest« bezeichneten. Er wurde durch Rechtsanwalt Professor Dr. Friedrich Karl Kaul vertreten, der sich vor allem dafür einsetzte, dass die zum Teil unwürdige Behandlung von Zeugen durch einen Teil der Verteidiger künftighin unterblieb oder erheblich eingedämmt werden konnte. Wenige Wochen vor seinem überraschenden Tod hielt er noch den Schlussvortrag am 5. März 1981 und führte unter anderem aus:
… von »nazistischer Propaganda« begleitet
»Zur Feststellung dieser gerichtsnotorischen Tatsache (dass in Majdanek in bewusster und gewollter Zusammenarbeit der Mitglieder der Lager-SS systematisch, ja geradezu fabrikmäßig gemordet wurde – R. D.) unternahm das Gericht im Verlauf der über 63 Monate andauernden Beweisaufnahme Reisen in aller Herren Länder von Australien, Israel über Kanada und den USA bis Sowjetunion mit dem Ergebnis, dass – wenn es nach den Anträgen der Staatsanwaltschaft geht – von den ursprünglich 17 Angeklagten 8 bestraft werden sollen. Mitbestimmend für dieses Ergebnis ist – und das muss, wenn jetzt der Abschluss des Verfahrens in greifbare Nähe rückt, klar und hart in den Raum gestellt werden –, dass das Gericht nicht von vornherein dem Bestreben der Verteidiger Mundorf I, Stolting II und Bock, durch in der Hauptverhandlung gestellte Anträge die Strafverfolgung nazistischer Gewaltverbrecher generell und das Verfahren wegen der in Majdanek begangenen Massenmorde speziell zu diskriminieren, mit Entschiedenheit entgegengetreten ist. Oder was sollte der Antrag des Verteidigers Mundorf I, ein Gutachten darüber einzuholen, ob verbranntes Tierfleisch nicht den gleichen Geruch wie verbranntes Menschenfleisch habe, anderes bedeuten, als die strafrechtliche Sühne der in Majdanek begangenen Massenmorde, deren Opfer zu Tausenden verbrannt wurden, zu bagatellisieren und ins Lächerliche zu ziehen. Welch anderen Zweck, als den, die nazistische Verfemung jüdischer Menschen zu banalisieren, konnte der Befangenheitsantrag gegen den vom Gericht bestellten historischen Sachverständigen Prof. Dr. Wolfgang Scheffler haben, der damit begründet wurde, dass Prof. Dr. Scheffler bei dem jüdischen Politologen Prof. Dr. Ernst Fränkel promoviert und mit jüdischen Wissenschaftlern wie Alfred Wiener, dem Historiker Hans Herzfeld und dem englischen Professor Norman Kohn persönliche Kontakte unterhalten hatte. … Die unmittelbar vor den Türen des Verhandlungssaals systematisch betriebene nazistische Propaganda, zu der sich der Verteidiger Stolting II durch sein berüchtigtes Fernsehinterview, in dem er seine Tätigkeit als Nazistaatsanwalt im besetzten Polen glorifizierte, synchron stellte, wenn nicht gar förderte, blieb, obwohl sie sich zwangsläufig auf die Atmosphäre der Hauptverhandlung und die Verfahrensbeteiligten keineswegs im Sinne der Wahrheits-erforschung auswirken musste, vom Gericht unbeachtet, bis es zum Skandal in der Öffentlichkeit kam! In diesen Zusammenhang gehört auch die am 5. April 1978 erfolgte Bedrohung der Zeugin Gössinger durch einen Nazi-Banditen, die von mir dem Gericht in der Hauptverhandlung zur Kenntnis gebracht wurde.«
Verschleppte Strafverfolgung und nicht angemessene Urteile
Rechtsanwalt Kaul verlangte für die von der Nebenklage erfassten Angeklagten die Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Das Ende des Prozesses und die Urteilsverkündung am 30. Juni 1981 erlebte Professor Kaul leider nicht mehr, da er am 16. April 1981 überraschend verstarb. Die mündliche Urteilsbegründung dauerte mehrere Stunden. Nur die Angeklagte Ryan-Braunsteiner wurde zu lebenslanger Haft verurteilt wegen gemeinschaftlichen Mordes in zwei Fällen an mindestens 100 Personen. Die weitere ehemalige Aufseherin Lächert erhielt zwölf Jahre Freiheitsstrafe. Ihr folgte der Namensgeber des Verfahrens Hermann Hackmann wegen gemeinschaftlicher Beihilfe zum Mord in zwei Fällen an mindestens 141 Personen mit zehn Jahren Haft. Die verbleibenden sechs Angeklagten erhielten Freiheitsstrafen zwischen acht und dreieinhalb Jahren. Einer von ihnen wurde freigesprochen. Dieses Ergebnis konnte nicht befriedigen, da es angesichts der begangenen Tötungshandlungen nicht angemessen war. Auch der lange Zeitablauf zwischen der Tatbegehung und dem Urteil konnte daran nichts ändern.
Der Ausgang des Majdanek-Prozesses ist leider ein Beispiel dafür, dass trotz des langen Zeitablaufs bis zur Anklageerhebung und Verurteilung die durch die bundesdeutsche Rechtsprechung in den Jahrzehnten zuvor geprägte Herangehensweise (noch) nicht überwunden werden konnte und es so überwiegend zu einer nicht angemessenen Sühne der verübten Taten kam. Die Verschleppung der Strafverfolgung gegen Nazigewaltverbrecher und die lange Zeit der nicht konsequent betriebenen Rechtsanwendung haben maßgeblich dazu geführt, dass viele Täter nicht vor Gericht standen und das von ihnen begangene Unrecht nicht auf juristische Weise geahndet werden konnte. Zutreffend wäre es letztlich auch gewesen, Völkerrecht auf das Handeln der Angeklagten anzuwenden, nämlich das Statut des Internationalen Militärgerichtshofs von Nürnberg vom 8. August 1945. Die Untaten waren Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die als solche auch hätten gegeißelt werden müssen.
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