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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Schatten ohne Menschen

Moritz Hieronymi, Peking

 

Anmerkungen zu den US-Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki

 

»Sollten wir weiterkämpfen, würde dies nicht nur zum endgültigen Zusammenbruch und der Auslöschung der japanischen Nation führen, sondern auch zur völligen Auslöschung der menschlichen Zivilisation.« – so der Tenno während seiner Radioansprache über die Kapitulation des Japanischen Kaiserreichs am 15. August 1945. Das Ende des japanischen Faschismus, eines grauenerregenden Folterregimes, führte zu der Befreiung von Hunderten Millionen Menschen in Südostasien und zur vollständigen Beendigung des 2. Weltkrieges. Japan, ein im Sinne der UN-Charta als Feindstaat zu bezeichnendes Land, wurde jedoch in diesen letzten Kriegstagen vom Täter zum Opfer.

Nur wenige Tage vor der Kapitulation, am 6. und 9. August 1945, warfen die USA Atombomben über Hiroshima und Nagasaki ab. In Bruchteilen einer Sekunde wurden dabei zwischen 150.000 und 200.000 Menschen getötet. Die Zahl der infolge der Strahlenkrankheit Verstorbenen wird noch einmal auf die gleiche Höhe geschätzt.

Fast 80 Jahre nach diesem nuklearen Massentöten steht die Welt heute erneut vor einer gefährlichen Renaissance der nuklearen Aufrüstung. Militärstrategen, Politiker, Völkerrechtler und Wirtschaftsleute haben sich längst auf diese Wiederaufrüstung geeinigt, während mediale Massenhysterie die Normalisierung von Atomwaffen vorantreibt. So sieht sich die NATO in Form ihres geschmeidigen Generalsekretärs Mark Rutte je nach Nachrichtenlage bedroht von Russland, China, China mit Russland oder Russland mit China, manchmal auch von Nordkorea oder Iran; grundsätzlich gilt aber Zurückhaltung bei Indien, Pakistan und Israel. Auf diese Gefahren muss mit nuklearer Abschreckung reagiert werden. Oder wie der Niederländer es im Zusammenhang mit Militärmanövern der NATO-Nuklearstreitkräfte in Belgien letzten Jahres ausdrückte: Wir haben unseren Gegnern auch eine klare Botschaft gesandt, dass wir bereit sind, auf jede Bedrohung zu reagieren.

Was die Welt im Innersten zusammenhält – oder wie die Welt zerstört werden kann

Als am 7. Dezember 1941 der US-Militärstützpunkt Pearl Harbor auf Hawaii bombardiert wurde, waren bereits drei Jahre vergangen, seit der deutsche Chemiker Otto Hahn mit Fritz Straßmann, Lise Meitner und Otto Robert Frisch die theoretischen Grundlagen der Kernspaltung erforscht hatte. Längst war ein globales Wettrennen um die militäri­sche Nutzung dieser Entdeckung entbrannt. Mit dem Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg betrat eine ökonomische Großmacht das Feld. Obwohl das Land durch eine jahrelange Depression gezeichnet war, verfügte es über enorme Finanzreserven, die das technologische Wettrennen dieser Zeit maßgeblich veränderten.

Im Verlauf des Zweiten Weltkrieges verbreitete sich in den Strategiestäben der Alliierten die Sorge vor einer deutschen Atombombe. Bereits 1939 warnten die Physiker Leó Szilárd und Albert Einstein in einem Brief an US-Präsident Roosevelt vor der Gefahr einer »mächtigen Bombe«, an der die Deutschen forschten. Auch Japan hatte unter dem Wissenschaftler Nishina am RIKEN-Institut bereits technische Durchbrüche vorzuweisen. Trotz der Schwierigkeiten durch Kriegswirtschaft und Verfolgung waren die faschistischen Staaten in den Atomwissenschaften führende Nationen geworden. Zeitgleich hatten die UdSSR unter Kurtschatow und Großbritannien unter Frisch und Peierls eigene Atomwaffenprogramme begonnen, die aus unterschiedlichen Gründen jedoch keine vergleichbaren Erfolge erzielten. Der Kriegseintritt der USA führte schließlich zu einem ungeahnten Investitionsprogramm unter dem Geheimcode »Manhattan-Projekt«.

Unter der Leitung des Physikers J. Robert Oppenheimer wurde in Los Alamos, New Mexico, eines der größten Waffenprogramme des Zweiten Weltkrieges aufgebaut. Herausragende Wissenschaftler wie Enrico Fermi, Niels Bohr, Hans Bethe, John von Neumann, Leó Szilárd und Edward Teller legten hier die Grundlagen für die Kernspaltungs- und Kernfusionsbomben.

Die Kernspaltung beschreibt die Teilung schwerer Atome, wie z. B. von Uran-235 oder Plutonium-239, durch den Beschuss mit Neutronen. Durch die Absorption eines Neutrons kommt es zur Instabilität eines Kerns, welcher in mehrere Kerne zerfällt und zusätzliche Neutronen freisetzt. Durch die freigesetzten Neutronen werden wiederum weitere Atome geteilt, und eine sich selbst erhaltende Kettenreaktion mündet in einer explosionsartigen Energiefreisetzung. 

Die Kernfusion beruht auf der Schaffung neuer Atome durch die Verbindung zweier Nuklei mithilfe eines Wasserstoff-Isotops. Um eine Fusionsreaktion zu erreichen, bedarf es enormer Energien, die wiederum durch eine Kernspaltung erreicht werden. Mithin beruhen Kernfusionsbomben auf der auslösenden Energie der Kernspaltung und der abgebenden Energie der Fusion. Die Kernfusionsbombe kreiert faktisch eine künstliche Sonne, die im Mittelpunkt ihrer Feuersäule Temperaturen von 100 Millionen Grad erreichen kann.

Sollte das Horrorszenario des Einsatzes einer Fusionswaffe eintreten, überträfen die Folgen die Vorstellungskraft eines gesunden Menschenverstandes. Eine solche Bombe übersteigt die Explosionskraft von Hiroshima um das über 700-Fache. In einem Umkreis von 3 Kilometern vom Bodennullpunkt, dem sogenannten Hypozentrum, wäre nichts mehr existent. Die Explosion ließe Lebewesen und Gegenstände verdampfen. Die ausgelöste Überdruckwelle würde Winde mit Hunderten Kilometern pro Stunde erzeugen. Aufgewirbelte Teilchen und kondensierte Wassermassen erzeugten zuerst Dauerregen, anschließend einen nuklearen Winter. Die weltweite Temperatur stürzte um 1,25 Grad Celsius ab, wodurch große Teile der nördlichen Halbkugel in eine künstliche Eiszeit fielen mit gravierenden Auswirkungen für die dortige Landwirtschaft.

Auf die Druckwelle, welche noch Menschen in Entfernungen von 5 Kilometern vom Hypozentrum schwer verletzen oder töten würde, folgt bei beiden Bombentypen die unsichtbare Gefahr: Die Strahlung und der radioaktive Fallout, der je nach Wetterlage Hunderte von Kilometern vom Abwurfort entfernt eintreten kann, vergiftet die Menschen, Tiere, Böden und das Grundwasser.

In Hiroshima zeigten sich die Grauen der Strahlenkrankheit bereits nach wenigen Stunden: Übelkeit, Haarausfall, Nasenbluten, später Krampfanfälle und komatöse Zustände. Eine hohe Anzahl an Menschen erkrankte zwei Jahre später häufig an Leukämie. Es wird heute geschätzt, dass der Hochpunkt der strahlenbedingten Todesrate 10 Jahre nach dem Abwurf erreicht war. Am schwersten waren Kinder betroffen, da diese durch ihr sich im Wachstum befindendes Gewebe am anfälligsten für Genmutationen sind. Die sogenannten Hibakusha – Hi (Leiden), baku (Bombe), sha (Menschen) – leiden bis heute an teils diffus-atypisch verlaufenden Krankheiten.

Das Schrecken der Strahlenkrankheit erlangte in den frühen 1950er Jahren internationale Aufmerksamkeit, als ein gesundes kleines Mädchen mit dem Namen Sadako Sasaki plötzlich an Blutkrebs erkrankte. Während eines Krankenhausbesuches erzählte ihre beste Freundin die japanische Legende der 1000 Kraniche: Demnach gewähren die Götter demjenigen einen Wunsch, der 1000 Origami-Kraniche faltet. Sasaki wird 10 Monate nach der Diagnose an den Folgen der strahlenbedingten Leukämie sterben. An ihrem Totenbett fanden sich 1600 Papierkraniche.

Politische Irrlichter

Der japanische Tenno hatte früher als andere die Konsequenzen der Atombombe begriffen: Die Gefahr der Auslöschung der menschlichen Zivilisation. Jahrzehnte später wird der Vater der Atombombe, Oppenheimer, sich dieser Einschätzung anschließen und aus der vedischen Bhagavad Gita zitierend sein persönliches Schaffen folgendermaßen zusammenfassen: Nun bin ich der Tod geworden, der Zerstörer der Welten.

80 Jahre nach den verheerenden Atomwaffenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki hat sich nicht die Auffassung der Ächtung nuklearer Waffentypen durchsetzen können. Stattdessen ist ein Normalisierungsprozess eingetreten. Die aktuellen Diskussionen über die Möglichkeit begrenzter Nuklearschläge gehen auf die George W. Bush-Administration zurück. Die Entwicklung von Kleinstatomwaffen, sogenannten Mini-Nukes, ermöglicht es, insbesondere Bunker und unterseeische Anlagen zu neutralisieren. Die damalige US-Administration sah sich somit in einer seit Präsident Nixon anhaltenden Diskussion um die Lockerung der Zweitschlag-Doktrin gestärkt. Atombomben, so die US-Nukleardoktrin, sind nicht zwangsläufig geeignet, einen Nuklearkrieg auszulösen. Russland hat seinerseits im Jahr 2024 die strenge Zweitschlags-Doktrin aufgegeben. Nunmehr ist der Einsatz von Atomwaffen auch dann vorgesehen, wenn durch konventionelle Angriffe die nationale Souveränität und territoriale Integrität der Russischen Föderation oder der Republik Belarus »kritisch gefährdet« werde.

Die Volksrepublik China, deren Nuklearwaffenbestände am schnellsten wachsen, verfolgt seit 2024 die sogenannte Keine-Erstschlag-Initiative. Diese beruht darauf, dass Russland und die USA sowie alle anderen Nuklearmächte sich völkerrechtlich verpflichten, den Einsatz von Nuklearwaffen ausschließlich auf die Selbstverteidigung als Reaktion auf einen vorausgegangenen Atomwaffenangriff zu beschränken. Gegenwärtig ist China die einzige nukleare Großmacht, die eine schrittweise Vernichtung aller Atomwaffen und perspektivisch deren vollständiges Verbot fordert.

Im europäischen Diskurs hat sich dagegen eine revisionistische Argumentation eingestellt, die, wie beispielhaft in der letzten Ausgabe des Politikmagazins »Internationale Politik« in einem Artikel von Claudia Major zu sehen ist, beinahe manische Züge trägt. Unter dem Rubrum der ständigen und unmittelbaren Gefährdung durch Russland und China mäandert Frau Major unterschiedliche nukleare Aufrüstungsstrategien durch. Die moralische Anständigkeit, zum 80. Jahrestag von Hiroshima und Nagasaki auf die Gefahren und den völligen Irrweg, den hauptsächlich der Westen, aber auch Russland seit dem Ausbruch des Ukrainekrieges in ihren Rhetoriken über mögliche atomare Reaktionen üben, hinzuweisen, ist bei Claudia Major erwartungsgemäß nicht auffindbar.

Es ist zu befürchten, dass die Feindprojektion, durch die im Westen und Russland veröffentlichte Meinung derartig gewaltige Blüten trägt, dass die nukleare Wieder- und Neubewaffnung quantitativ und qualitativ erheblich an Fahrt zulegt, sodass die Hemmungen des Einsatzes von Atombomben erheblich abnehmen werden. 

Was bleibt? Anfang des Jahres 2025 strahlte der deutsch-französische Fernsehsender Arte eine Dokumentation[1] über das Foto des Jungen an der Kremationsgrube aus. Das weltbekannte Bild zeigt einen vielleicht 10 Jahre alten Jungen aus Nagasaki, dessen erheblich jüngerer Bruder tot auf seinem Rücken geschnallt ist. Soldatisch wartend steht der Junge an der Grube, um seinen gestorbenen Bruder dem Feuer zu übergeben. Dieses Foto ist die Anklage für das zutiefst menschenverachtende Massaker von Hiroshima und Nagasaki. Das Foto verweist aber auch auf die Wissenschaftler, auf die Politiker und Industriellen, die damals wie heute die größten wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Gesetzmäßigkeiten unserer Existenz dafür missbrauchen, die menschliche Zivilisation wahrscheinlich bis zum Ende ihres Seins in der Unkenntnis zu belassen, ob sie sich selbst durch Vorsatz oder Fahrlässigkeit zerstört.

 

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