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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

O Leben Leben, wunderliche Zeit

Gina Pietsch, Berlin

 

Rainer Maria Rilke zum 150. Geburtstag

 

Als ich fünf war, konnte ich eins von Rilkes längsten Gedichten auswendig »Die heiligen drei Könige« aus dem Buch der Bilder von 1899. Mein Vater, der vor dem Krieg ein fast fertig ausgebildeter Schauspieler war, sprach dieses Gedicht jedes Weihnachten. Ich hörte zu und konnte, obwohl noch nicht in der Schule, schon ein bisschen lesen, also lernte ich das. Da kamen Wörter vor wie »Smaragden und Rubinen und die Tale von Türkis«. Ich hatte keine Ahnung, was Smaragden, Rubinen und Tale von Türkis waren, aber es klang so schön. 

Rilke war der Lieblingsdichter meines Vaters. Mit dem Inselbüchlein Nr. 1, das die berühmte Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke enthielt, war er 1939 in den Krieg gezogen. Der Cornet gehört heute zu den Heiligtümern in meiner Büchersammlung. Es ist noch das Original, leicht zerfleddert, aber lesbar, nicht nur Rilke, sondern auch die Anzeichnungen meines Vaters. In russischer Kriegsgefangenschaft hat er es vor seinen Mitgefangenen oft gesprochen, aber später eben auch für mich, seine Tochter, und das so gut, dass mir vor aller Sprachschönheit Rilkes Verherrlichung des Kriegsheldentums gar nicht auffiel. Vor nicht allzu langer Zeit habe ich den Cornet wieder gehört, nun als Melodram, rezitiert auf die wunderbare Musik des jüdischen Komponisten Viktor Ullmann. Und auch da war ich mehr gefangen von Rilkes Beschreibung der Liebe des Fahnenträgers zu einer jungen Frau und der Trauer einer alten, die den Tod ihres Sohnes beweint, als vom Krieg.

Rilke blieb weiter für mich da. Zunächst einmal beschädigt, wie ich fand, durch einen meiner Dozenten im Germanistikstudium an der Karl-Marx-Universität Leipzig. Der nämlich brachte es fertig, durch seine überbordende Begeisterung fast ein ganzes Semester hindurch mir die Sonette an Orpheus und damit für einige Jahre den Rilke überhaupt zu vermiesen. Glücklicherweise fand ich Rilke wieder. Durch Einsamkeit. 1975 wurde ich geschieden und lebte sehr allein in der Friedrichsfelder Pampa, hatte noch kein Auto, kein Telefon, aber Rilke. Da es Herbst war, kam mir der wunderbare Herbsttag wieder in den Sinn. Er traf mein Befinden und ließ mich, da gerade das Reclam-Bändchen erschienen war, die noch kahlen Wände mit abgeschriebenen Rilke-Gedichten bekleben und auswendig lernen. Das ging alles leise vor sich, so wie es Rilkes Natur und seinem Wollen entsprach. Stefan Zweig spricht von der »leisen geheimnisvollen Unsichtbarkeit«, die Rilkes Lebensform ausmachte.

Vom Unglücklichsein

Am 4. Dezember 1875 wurde er in Prag geboren als einziger Sohn des Eisenbahnbeamten Josef und seiner Frau Sophia. René Karl Wilhelm Johann Josef Maria Rilkes – so sein eigentlicher Name – Kindheit war ähnlich unglücklich wie die Ehe seiner Eltern. Die erste Tochter war vor Renés Geburt gestorben, deshalb erzog die traurige Mutter den Sohn bis zu seinem sechsten Lebensjahr als Mädchen auf. Das hatte Auswirkungen auf sein späteres Verhältnis zu Frauen und den oft geäußerten Wunsch, ungeboren zu sein oder, wie es in der achten der berühmten Duineser Elegien heißt: O Seligkeit der kleinen Kreatur, die immer bleibt im Schoße, der sie austrug ... . 

Rilkes Ausbildungsunternehmungen setzten das Unglücklichsein fort. Weil der Vater es nicht geschafft hatte, war vom Sohn eine Offizierslaufbahn erwünscht, die nach sechs Jahren abgebrochen wurde. Die folgende Handelsakademie musste einer nicht geduldeten Liebesaffäre wegen beendet werden. So bereitet er sich selber vor auf Matura und Studium in Wien und München, für Literatur, Kunstgeschichte, Philosophie und Rechtswissenschaft.

Dichten, das macht er schon eine ganze Weile, 1892 sein erster Gedichtband Leben und Lieder, den er aber für unbedeutend hält. Drei Jahre später dann der Zyklus Das Larenopfer, das sein Prag zum Thema hat, in Beziehung gesetzt zu den römischen Schutzgöttern von Orten und Familien, den Laren. Rund 100 Gedichte hatte der Zwanzigjährige da geschrieben, die schon erstaunliche Reife und Schönheit zeigen. Träume scheinen mir wie Orchideen. Solche Sätze gibt es da schon.

Auch wird eine Mutter besungen, die zusammenschreckt vor Hengstgeschrei und Trompeten. Denn dann kams der Alten, heimlich für ihr Kind zu beten.

In den weiteren Neunzigern entstehen wichtige Werke und wichtige Freundschaften. Oskar Kokoschka, Stefan George und Lou Andreas-Salomé. Letztere, wesentlich älter als er, wird als eine Liebe sein ganzes Leben beeinflussen, zunächst seinen Namen ändern. Er heißt nun so, wie wir ihn kennen – Rainer Maria Rilke. »Gelegt in die Hände von Lou« entsteht dann 1899 mit Hunderten von Gedichten das wunderbare Stundenbuch, das auch das an Lou gerichtete Lösch mir die Augen aus: ich kann dich sehn, ... enthält. Niemals vergessen hab ich daraus das zweite Gedicht Ich lebe mein Leben in wachsen­den Ringen … und ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm oder ein großer Gesang. Rilke wurde Letzteres und diese Gedichtsammlung meine liebste – oder doch die Dinggedichte mit dem Panther, der Blauen Hortensie oder dem Frauenschicksal ?

Ich lebe mein Leben... stammt aus dem ersten der drei Teile des Stundenbuches, den er Vom mönchischen Leben nennt. Man könnte annehmen, die Bigotterie seiner Mutter käme hier zum Tragen. Aber überall lauert schon der Zweifel. Was wirst du tun, Gott, wenn ich sterbe? ... mit mir verlierst du deinen Sinn.Tod spielt eine große Rolle in dieser Sammlung. Ein Kapitel dieses großen Werkes nennt sich Von Armut und Tod. Und spätestens hierwird dem Leser klar, dass der Dichter mehr zu sagen hat, als von Engeln, Gott und der Liebe zu säuseln. Da sind die großen Städte im Spiel, in der die Unmenschlichkeit und Armut am augenfälligsten einherkommt. Und eigentlich sind wir da auch schon bei seinem einzigen Roman Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, den er nur »Prosabuch« nennt. Seine Paris-Erfahrungen spielen hier hinein, vornehmlich allerdings in ihrer Kälte und Hässlichkeit, so, wie er alle großen Städte sieht. Ein junger Däne aus bester Familie, lebt dort und erlebt die moderne Stadt von ihren unmenschlichen Seiten, den Geruch der Armut und die Bilder des Ekels, der Krankheit, des Elends und des Sterbens. Die Gasse begann von allen Seiten zu riechen. 

Gegen das Welt-Unheil

Auch dieses Buch hat noch nicht den Biss der Duineser Elegien, denn Rilkes Bolschewismus-Erfahrungen stehen noch vor ihm. Seine Russlandreisen, die er gemeinsam mit Lou Andreas-Salomé unternimmt und die ihm die Bekanntschaft mit Tolstoi und Pasternak schenken, stehen noch aus. Und, fast nicht zu erwarten, aber eben doch da, seine unbedingte Bejahung der Oktoberrevolution. Er schreibt’s so: … wäre nicht der Gedanke an das herrliche Russland, ich hätte keinen, der mir zuversichtlich und erbaulich wäre ... Und wie, im Gegensatz dazu seine Haltung zum Weltkrieg, diesem »Welt-Unheil«, das ihm hasserfüllten Anti-Wilhelminismus, sprich -Militarismus, nach sich zieht, im Brief an eine Freundin so gesagt: »Ach Chère, wie hasse ich dieses Volk ...«.

Das hat dann nur noch wenig zu tun mit den Schlachten-Erlebnissen des Cornet. Übrigens, in einer Herbstnacht des Jahres 1899 wurde das hingeschrieben, was den jungen Dichter Jugend gestalten lässt, Lebenshunger, Liebe und Tod und das Kultstatus erhält, sein »Werther« eben, wie kluge Menschen diese Erzählung Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke nennen. 

Kurz nach seinem »Werther« übrigens die Freundschaft zu Heinrich Vogeler, die den Umzug von Berlin nach Worpswede mit sich bringt und dort die Bekanntschaft mit der Bildhauerin Clara Westhoff. 1901 heiraten die beiden Künstler. 

Viel wäre jetzt zu sagen zu Rilke und der Liebe. Hinreißende Liebesgedichte gibt es zu all seinen Zeiten. Meine Lieben waren immer von diesen Versen begleitet. Rilkes Lieben freilich sieht sein berühmter Biograf Fritz J. Raddatz – fein ausgedrückt – ambivalent, störend, trotz seiner sieben Phallus-Gedichte entsexualisiert oder als »Angst vor dem Geliebtwerden«. Die Geliebte Claire Goll sagt es später mal so: »... denn es war in ihm eben so vom Mönch wie vom Verführer.«

Auch das kann begründen seine ständigen Ortswechsel, nicht selten auf Adelssitzen von Damen, die ihn bewundern. Das Felsenschloss der Gräfin Marie von Thurn und Taxis-Hohenlohe, Schloss Duino, ist die Stätte des Beginns der berühmten Duineser Elegien 1912, die dann 10 Jahre später auf Chateau de Muzot beendet werden, eine schwere Arbeit, bei er stöhnt »Daß mans übersteht! ... Aber nun ists.« Hier wird nun die Liebe ausgelotet, lebensbejahend, aber natürlich problematisiert. Denn bei Rilke ist nichts einfach. Liebende, euch, ihr in einander Genügten, frag ich nach uns. Ihr greift euch. Habt ihr Beweise? Die dritte Elegie schließt mit dem Aufruf an die Geliebte, den Trieb des Jünglings zu lindern, die vierte ist eine Kritik des menschlichen Bewusstseins, seiner Widersprüche und Spaltungen. Aber es wird nicht nur geklagt in diesen Elegien. Raddatz formuliert es so: »... sie sind Lebenssumme, in der Stolz und Demut sich die Balance halten.«

Viel zu Rilkes Werk, zu den Übersetzungen von Verlaine, Valery, zu seinem umfangreichen Briefwechsel mit Kollegen, Freunden und Liebsten, müsste ich noch streifen, wie alles nur gestreift werden konnte, so Rilkes letzten dichterischen Höhepunkt von 1922, Die Sonette an Orpheus, habe aber, wie schon angedeutet, zu diesen ein etwas gespaltenes Verhältnis. Ich möchte also zum Schluss lieber noch einmal zurückkehren zum Stundenbuch und abschließend zitieren, was der Dichter im Kapitel Von der Armut und vom Tode richtig und mutig schreibt:

Die Städte aber wollen nur das Ihre 
und reißen alles mit in ihren Lauf.
Wie hohles Holz zerbrechen sie die Tiere
und brauchen viele Völker brennend auf.

Und ihre Menschen dienen in Kulturen
und fallen tief aus Gleichgewicht und Maß,
und nennen Fortschritt ihre Schneckenspuren
und fahren rascher, wo sie langsam fuhren,
und fühlen sich und funkeln wie die Huren
und lärmen lauter mit Metall und Glas.

Es ist, als ob ein Trug sie täglich äffte,
sie können gar nicht mehr sie selber sein;
das Geld wächst an, hat alle ihre Kräfte
und ist wie Ostwind groß, und sie sind klein
und ausgeholt und warten, daß der Wein
und alles Gift der Tier- und Menschensäfte
sie reize zu vergänglichem Geschäfte.

Und deine Armen leiden unter diesen
und sind von allem, was sie schauen, schwer
und glühen frierend wie in Fieberkrisen
und gehen, aus jeder Wohnung ausgewiesen,
wie fremde Tote in der Nacht umher;
und sind beladen von dem ganzen Schmutze,
und wie in Sonne Faulendes bespien, – 
von jedem Zufall, von der Dirnen Putze,
von Wagen und Laternen angeschrien.

Und giebt es einen Mund zu ihrem Schutze,
so mach ihn mündig und bewege ihn.

Wie rauskommen aus diesem Dilemma? Eine große Täuschung überkam den Dichter da. Ausgerechnet in Mussolini sah er einen rettenden Führer, ein Irrtum, den zurückzunehmen ihm keine Lebenszeit mehr blieb. Am 29. Dezember 1926 im Alter von 51 Jahren starb er. 

Auf seinem Grabstein, finde ich, hätte statt der merkwürdigen Rosenzeile stehen sollen sein Vers:

Die sich Verlierenden läßt alles los,
und sie sind preisgegeben von den Vätern
und ausgeschlossen aus der Mütter Schoß.

 

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