»Gesucht: Eine moderne linke Erzählung«
Dr. Ursula Schröter, Berlin
Diese Überschrift [1] habe ich dem nd-Der Tag vom 14. Januar 2025 entnommen. Der Autor des Artikels, Dieter Klein, verwendet (mit Bezug auf den französischen Philosophen Lyotard) das freundliche Wort »Erzählung« und meint damit ein Gesellschaftskonzept, das so vermittelt wird, dass es die Herzen der Adressaten erreicht (Klein 2011). Es geht also um mehr als das politische Ziel. Es geht auch um die Art und Weise, wie es erreicht werden soll. Die plurale gesellschaftliche Linke, so Dieter Klein, habe wichtige Elemente eines solchen Narrativs hervorgebracht, aber bisher keine unserer Epoche gemäße zündende Gesamterzählung.
Die Suche danach scheint viele Menschen zu beschäftigen – gemessen an den zahlreichen in der Öffentlichkeit diskutierten Empfehlungen, Kritiken, Warnungen … in Richtung Linkspartei. Die Partei möge sich wieder mehr auf Marx und Engels beziehen, müsse aber auch internationalistischer werden, müsse den Armen und Unterdrückten wieder eine Stimme geben usw. Und immer wieder: die Partei möge sich vor einer (unterschiedlich definierten) Identitätstheorie hüten. Was ich vermisse sind Forderungen nach einem (selbst)kritischen Rückblick, etwa so: Die Linkspartei möge das Gesellschaftskonzept des zusammengebrochenen Sozialismus und die Art seiner Realisierung nach Fehlern und Fehlstellen analysieren (lassen). Zukunft braucht Vergangenheit. Was genau war falsch am Marxismus-Leninismus? Warum gelang es langfristig nicht, die Herzen der Adressaten zu erreichen? Warum gab es Rassismus und Antisemitismus auch im Sozialismus? Das alles mit Blick auf Gewissheiten aus der Geschichtsforschung: »Mag die Geschichte – kurzfristig – von den Siegern gemacht werden, die historischen Erkenntnisgewinne stammen – langfristig – von den Besiegten.« (Koselleck 2000: 68). Es ist an der Zeit, über die historischen Erkenntnisgewinne aus dem Sozialismus-Versuch des 20. Jahrhunderts zu sprechen.
Hinweise auf solche Gewinne, Bruchstücke davon gibt es seit längerem. Dass die Frauenfrage nicht, wie August Bebel und Friedrich Engels nahelegten, Teil der Klassenfrage ist, weil Frauenunterdrückung nicht zusammen mit Klassenunterdrückung entstanden ist, sondern schon tief in der Ur-Gemeinschaft, lässt sich inzwischen in Texten zur Frühgeschichte nachlesen (z. B. Lerner 1991). Insofern ist auch die Marxsche These »Geschichte ist Geschichte von Klassenkämpfen« falsch, denn hinsichtlich patriarchaler Strukturen begann die Geschichte lange vor Klassenkämpfen, war folglich auch nach dem Ende des Klassenantagonismus wirksam. Nur so ist das sozialistische Patriarchat erklärbar.
Zu den Bruchstücken zähle ich auch neue Untersuchungen zu den so genannten utopischen Sozialisten des 18. Jahrhunderts. Sie lassen vermuten, dass im 19. Jahrhundert nicht in erster Linie ein Übergang »von der Utopie zur Wissenschaft« (Engels) stattfand, eher eine Konzentration/Einengung der ursprünglichen Sozialismus-Vorstellungen auf ökonomische Themen. Die US-amerikanische Philosophin Nancy Fraser hat zu dieser Einengung geforscht und nennt mehrere Achsen der Ungleichheit, die in ein neues theoretisches Modell gehören würden. Sie schreibt: »Dennoch versäumt Marx es, Geschlecht, ›Rasse‹, Ökologie und politische Macht als strukturierende Achsen der Ungleichheit systematisch zu berücksichtigen…« (Fraser 2023: 19). Ein ungerechter Vorwurf aus meiner Sicht, weil der Ökonom Karl Marx nicht für das Theoriegebäude verantwortlich gemacht werden kann, das die Nachgeborenen Marxismus nannten. Aber dass neben dem Klassenwiderspruch auch der Geschlechterwiderspruch, der ethnische Widerspruch und der Widerspruch zwischen Natur und Gesellschaft in eine neue linke Erzählung gehören, erscheint mir richtig und wichtig. Schließlich gibt es inzwischen genau zu diesen vier Widersprüchen auch Menschenrechtsbewegungen: Die Arbeiterbewegung (seit dem 18. Jahrhundert), die Frauenbewegung (seit dem 19. Jahrhundert), die Anti-Rassismus-Bewegung, zu der die Antikolonialbewegung, die Schwarzenbewegung in den USA … gehören (seit dem 20. Jahrhundert) und die Klima-Bewegung (seit dem 21. Jahrhundert). Und Menschenrechtsbewegungen sind Korrektive moderner Gesellschaften, getragen von den Betroffenen und nicht wirklich beherrschbar von den Herrschenden.
Auch die Journalistin Julia Fritzsche stellt sich eine neue linke Erzählung nicht nur »tiefrot«, sondern auch »radikal bunt« vor und verweist auf feministische, migrationspolitische und ökologische Projekte (Fritzsche 2018) So sieht das offensichtlich auch Lucas Meisner, neuer Herausgeber der Theoriezeitschrift »Das Argument«: »Marx muss durch Marxismen erweitert bzw. vertieft werden, etwa in Hinblick auf feministische, antikolonialistische, ökologische Fragen …« (Meisner 2025: 18). Insofern sind Debatten zu Gender, Migration und Erderwärmung nicht Abweichungen vom linken »Kernanliegen«, wie oft unterstellt, eher Hinweise auf einen neuen größeren Kern.
Eine moderne linke Erzählung, die die vier Achsen der Ungleichheit berücksichtigt, sollte erstens zur Spezifikder einzelnen Widersprüche [2] und zweitens zu ihren Verflechtungenverbindliche Aussagen oder auch nur Hypothesen anbieten und schließlich ein Ziel definieren, das linker Weltanschauung entspricht.
Zu erstens. Zur Spezifik der Widersprüchegehören beispielsweise die unterschiedlichen Entstehungsgeschichten bzw. die unterschiedlichen Geschichten ihrer Wahrnehmung, auch die unterschiedlichen Möglichkeiten ihrer Überwindung.
- So wurden die zur Menschheitsentwicklung (heute ist von 2 bis 3 Millionen Jahren die Rede) gehörenden Geschlechterbeziehungen erst mit der Entstehung des Patriarchats, also vor reichlich zwölftausend Jahren, zum Widerspruch; zu einem Widerspruch, der durch Religionen (genauer: durch den Glauben an einen einzigen männlichen Gott) stabilisiert wurde und bis heute wird. Die Lösung dieses Widerspruchs kann für Linke nur Gleichrangigkeit der Geschlechter heißen, also ein menschliches Zusammenleben und Zusammenarbeiten, wie es vor der Entstehung des Patriarchats nachweisbar ist (Schaik u.a. 2020). Erforderlich sind neben veränderten Macht-Strukturen vor allem kulturelle Veränderungen, Bewusstseinsänderungen, Lernarbeit bei allen Geschlechtern.
- Im Unterschied dazu wird die ebenfalls zur Menschheitsentwicklung gehörende Beziehung zwischen Natur und Gesellschaft erst seit wenigen Jahrhunderten (Jahrzehnten?) analysiert und als – für die Gesellschaft – bedrohlicher Widerspruch wahrgenommen. Die Lösung des Problems ist klar zu erkennen: konsequente Unterordnung des gesellschaftlichen Lebens unter die (veränderlichen) natürlichen Bedingungen, klare politische Entscheidungen und Gesetze mit dieser Zielrichtung.
- Wieder anders muss die Spezifik des Klassenwiderspruchs bearbeitet werden. Ob Zukunftshoffnungen nach wie vor ausschließlich mit der »Enteignungen der Enteigner«, mit Gemeineigentum an Produktionsmittelnund den entsprechenden Bewusstseinsänderungen verbunden werden, muss nach dem Zusammenbruch des realen Sozialismus neu beforscht werden.
- Wie beim Geschlechterwiderspruch ist auch beim ethnischen Widerspruch das linke Ziel unbestreitbar Gleichrangigkeit. Vermutlich ist der Analyse-Aufwand, der erforderlich ist, um die Spezifik der ethnischen Widersprüche sichtbar zu machen, aber besonders hoch, denn hier geht es nicht nur um das Zusammenleben von Menschen mit verschiedenen Hautfarben und verschiedenen Kulturen,die erst seit wenigen Jahrhunderten voneinander wissen und die sehr unterschiedliche Erfahrungen mit Kolonialisierung, später mit »Entwicklungshilfe«, noch später mit ausgelagerter Content-Moderation gesammelt haben und noch sammeln. Hier geht es zum Beispiel auch um linke Positionen zur Kultur der Sinti und Roma oder um linke Positionen zum weltweiten und etwa dreitausend Jahre alten Antisemitismus und um entsprechende Zukunftsvorstellungen [3].
Zu zweitens. Unter der Überschrift »Verflechtungen der Widersprüche« sind Aussagen zur Rangordnung/Gleichrangigkeit der Widersprüche zu erwarten, aber auch zur gegenseitigen Verstärkung bzw. gegenseitigen Abschwächung. Die Marxistin/Feministin Frigga Haug beschäftigt sich seit längerem mit der Verflechtung von Klassen- und Geschlechterwidersprüchen und spricht von einem »Herrschaftsknoten«, der z. B. eine »Durchkapitalisierung der Fortpflanzung« (Haug 2008: 340) befürchten lässt, der folglich zu lösen, zu zerschlagen sei. Ich lese diese Befürchtung so, dass bei der Verflechtung von Klassen- und Geschlechterwidersprüchen mit der Dominanz des Klassenwiderspruchs zu rechnen ist.
Auch andere Autor*innen unterstellen (wie im Marxismus-Leninismus) die Dominanz des Klassenwiderspruchs, wenn sie ökologische Klassenpolitik oder auch feministischer Klassenpolitik von der Linkspartei fordern. Dem möchte ich nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Lagers (in dem es kein Privateigentum an Produktionsmitteln mehr gab) nicht folgen. Plausibel wäre für mich, dem Widerspruch zwischen Natur und Gesellschaft eine Sonderstellung (Höherstellung) einzuräumen, insofern auch der zugehörigen Menschenrechtsbewegung, denn hier gibt es nichts zu verhandeln. Bisher sind auf unserem Planeten alle Tierarten ausgestorben, die sich den veränderlichen natürlichen Bedingungen nicht anpassen konnten.
Soll heißen: Es gibt für die verjüngte Linkspartei und für die ihr nahestehende Stiftung bei der Suche nach einer modernen linken Erzählung viel zu tun. Aber es gibt auch die Hoffnung: Verlieren kann klug machen.
Literatur:
Fraser Nancy, 2023, Der Allesfresser. Wie der Kapitalismus seine eigenen Grundlagen verschlingt. Suhrkamp Berlin.
Fritzsche Julia, 2018, Tiefrot und radikal bunt. Für eine neue linke Erzählung. Edition Nautilus, Hamburg.
Haug Frigga, 2008, Die Vier-in-einem-Perspektive. Politik von Frauen für eine neue Linke, Argument Hamburg.
Klein Dieter, 2011, Das Viereck – Nachdenken über eine zeitgemäße Erzählung der Linken. Über den möglichen Nutzen des Begriffs Erzählung für ein alternatives Gesellschaftsprojekt der Linken. Standpunkte 34/2011, Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Koselleck Reinhart, 2000, Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt/M.
Lerner Gerda, 1991, Die Entstehung des Patriarchats, Campus Frankfurt/New York.
Meisner Lucas, 2025, Marx durch Marxismen erweitern. In nd Die Woche 22. 03. 2025.
Schaik Carel van, Michel Kai, 2020, Die Wahrheit über Eva. Die Erfindung der Ungleichheit von Frauen und Männern, Rowohlt Verlag Hamburg.
Viebahn Fred,1980, Ein Tag bei Amos Oz, In: Freie Jüdische Stimme Nr. 8, Juli 1980.
Oktober 2025
Ursula Schröter, geb. 1941, ist Dr. phil., Mathematikerin, Soziologin; Forschungsthemen vor 1990 in der soziologischen Methodik und Rechentechnik, nach 1990: sozialistisches Patriarchat, Mitgliedschaften: Rosa-Luxemburg-Stiftung, Demokratischer Frauenbund e.V. (stellv. Vorsitzende), Frauenbrücke Ost-West e.V.
Anmerkungen:
[1] Siehe dazu auch meinen Beitrag in Heft 3/2023: Links ist feministisch oder nicht links.
[2] Ein Blick auf die gegenwärtige Politik in Nahost verdeutlicht, wie wichtig es ist, die Widersprüche auch in ihrer Spezifik zur Kenntnis zu nehmen. Wenn ich gegenwärtig die Kriegspolitik Israels verurteile, meine ich den aggressiven kapitalistischen Staat und seine führenden Patriarchen und nicht die Ethnie der Juden.
[3] Amos Oz hat schon 1980 seine Zukunftsvorstellungen zu Protokoll gegeben: »Das Konzept von Zivilisationen, die über ihren Territorien Fahnen flattern lassen, kommt mir archaisch und mörderisch vor. In der Hinsicht haben wir Juden jahrtausendelang vorgeführt, was ich gerne als die nächste Phase der Geschichte sähe: eine Zivilisation ohne territoriale Grenzen, beziehungsweise zweihundert Zivilisationen ohne einen einzigen Nationalstaat. Aber als Jude kann ich mir solche Illusionen nicht mehr leisten …« (Viebahn 1980).
Mehr von Ursula Schröter in den »Mitteilungen«:
2023-03: Links ist feministisch oder nicht links
2020-08: Ein sozialistisches Patriarchat