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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Flucht aus Reykjavik?

Hans Schoenefeldt, Berlin

 

Die Entscheidung Donald Trumps, aus dem INF-Vertrag auszusteigen, lässt Erinnerungen an Ronald Reagan aufkommen. In seiner Regierungszeit ging es um die von den USA be­schlossene Stationierung von Mittelstrecken-Raketen mit einer Reichweite bis zu 5.500 Ki­lometern (Stichworte: Pershing II und Cruise Missiles), um die geplante Stationierung sowjetischer SS-20-Raketen zu neutralisieren. Im Nato-Sprech nannte man das Vorhaben »Nachrüstung«. Der Kampf dagegen war der Start der bis dahin größten Friedensbewegung im Nachkriegsdeutschland. Im transatlantischen Gehorsam befangen, riskierte der Sozial­demokrat Helmut Schmidt sein Amt als Bundeskanzler, ignorierte die 300.000 Demonst­ranten, die sich im Oktober 1981 im Bonner Hofgarten versammelt hatten, und unterstütz­te die angeblich unumgänglichen atomaren Gegenmaßnahmen. Eine veritable Lüge, wie sich später herausstellen sollte.

Noch im selben Jahr, im November 1981, hat das Wort »Null-Lösung« seinen Weg in den diplomatischen Sprachgebrauch gefunden. Der US-Präsident Ronald Reagan persönlich war es, der am 18. November 1981 vor dem National Press Club die Entscheidung seiner Regierung bekanntgab, der Sowjetunion eine Null-Lösung vorzuschlagen. Der Kern seiner Botschaft bestand aus einem Satz: »Die Vereinigten Staaten sind bereit, auf die Aufstel­lung der Pershing 2 und der am Boden stationierten Marschflugkörper zu verzichten, wenn die Sowjets bereit sind, ihre SS-20-, SS-4- und SS-5-Raketen zu verschrotten.« In den Mo­naten und Jahren danach wurden für die »Zero Option« zahllose Propagandafeldzüge ge­startet. Einer davon fand in West-Berlin statt. Am 31. Januar 1983 zog US-Vizepräsident George Bush während einer Rede einen »Offenen Brief« von Ronald Reagan an die Völker Europas aus der Tasche. In diesem Brief schlug der US-Präsident dem sowjetischen Gene­ralsekretär Juri Andropow vor, »er und ich sollten wo und wann immer er es wünscht, zu­sammentreffen, um ein Abkommen zu unterzeichnen, das die amerikanischen und sowje­tischen landgestützten Mittelstreckenwaffen auf dieser Erde verbietet«. Die Verlesung des Briefes wurde mit lautem Beifall quittiert, an dem sich auch Helmut Kohl, inzwischen Bundeskanzler, beteiligte.

Geburt der Null-Lösung

Die Sowjetunion reagierte zunächst reserviert. Sie vertrat den Standpunkt, der übrigens von zahlreichen Friedensforschern und Rüstungsanalytikern geteilt wurde, dass die SS-20 nicht mehr als eine seit Jahren überfällige Modernisierung der veralteten SS-4- und SS-5-Rakete war. An der 20 Jahre dauernden Existenz dieser Systeme hatte die Nato nie Anstoß genommen. Sie wurden Anfang der 60er Jahre als Gegengewicht zu den amerikanischen Forward Based Systems (FBS) stationiert, also jenen mit atomaren Sprengköpfen bestück­ten Flugzeugen, die bereits seit Ende der 40er Jahre von vorgeschobenen Positionen eine beständige Bedrohung der Sowjetunion darstellten und die in der Folgezeit auch mit größ­ter Selbstverständlichkeit modernisiert wurden. Außerdem stand der Nato auch das bri­tische und französische Atomwaffen-Potenzial mit rund 340 Atomsprengköpfen zur Verfü­gung. Dennoch zeigte sich die Sowjetunion kompromissbereit. Im Rahmen seiner Ab­rüstungsoffensive 2000 schlug Michail Gorbatschow vor, nur die amerikanischen und sowjetischen Mittelstreckenraketen zu vernichten. Sollen doch die Franzosen und Briten mit ihren Raketen machen was sie wollen, wir lassen deren Nukleararsenale völlig beiseite, erklärte er in der Hoffnung, nun alle Hindernisse für ein Abkommen aus dem Weg geräumt zu haben. Irrtum! Erst müsse die Sowjetunion ihr Junktim – die USA müsse auf ihr SDI-Pro­gramm verzichten – aufheben. Ja, und genau das tat dann schließlich die Sowjetunion an jenem denkwürdigen 27. Februar 1987 in Reykjavik. Das war die Geburt der Null-Lösung.

Die Geister, die man rief…

Wer aber nun erwartet hatte, beide Seiten würden umgehend vertragseinig werden und das dramatische Mittelstreckentheater beenden, sah sich alsbald getäuscht. Ein Satz aus dem berühmten Dokument NSC-68, der Bibel der US-amerikanischen Containment Politik, brachte es auf den Punkt: »Die Führer der USA sollten unentwegt vernünftig klingende Ab­rüstungsvorschläge unterbreiten, von denen aber anzunehmen ist, dass die Sowjets sie nicht akzeptieren.« Aber ausgerechnet jetzt war genau das eingetreten, womit niemand in den Nato-Kommandostäben gerechnet hatte. Was tun? Zwei ehemals aktive Staatsmänner, Ex-Präsident Richard Nixon und Ex-Außenminister Henry Kissinger, stellten sich sogleich an die Spitze der sich in den USA formierenden Null-Lösungs-Gegner. Mehrere große US-Ta­geszeitungen druckten eine von beiden formulierte und über eine halbe Seite umfassen­de Kritik. Unabhängig von den sowjetischen SS-20-Raketen sei es für die USA notwendig gewesen, Mittelstreckenraketen zu stationieren, damit die Sowjetunion, die ein Gleich­gewicht bei den strategischen Waffen erzielt habe, von einem anderen Standort aus direkt bedroht werden könne. William Hyland, der als Mitarbeiter früherer US-amerikanischer Regierungen auf dem Gebiet der Rüstungskontrolle reiche Erfahrungen gesammelt hatte, wurde schon 1981, als die Null-Option im Wortschatz Reagans auftauchte, von dunklen Vorahnungen gepeinigt. Reagans Vorschlag sei ein guter Schachzug, befand er, aber, fuhr er warnend fort, »mit ihm begeben sich die Vereinigten Staaten auf eine Verhandlungs­rutschbahn, auf der sie in die Katastrophe abgleiten werden«. Für den damaligen Nato-Oberbefehlshaber Rogers stellte sich das Dilemma so dar: »Wir haben uns und unsere Völ­ker für diese Idee verkauft, wonach die isolierte Null-Lösung der richtige Weg sei. Jetzt er­kennen wir die Narretei, die wir in der Vergangenheit angestellt haben. Jetzt ist es zu spät.« Was tun? Wie sollte man mit der Null-Lösung umgehen, die, wie ein Berater des damaligen Bundesverteidigungsministers Manfred Wörner offenherzig ausplauderte, »vom Westen konstruiert war, damit sie nicht angenommen wird«? Man musste nolens-volens in den sauren Apfel beißen.

»Wenn uns die Götter strafen …«

Viktor Karpow, sowjetischer Abrüstungsexperte, hatte in einem »Spiegel«-Gespräch an der Aufrichtigkeit der von den USA 1981 ins Spiel gebrachten Null-Lösung schon frühzeitig sei­ne Zweifel geäußert und diese mit Blick Richtung »Weißes Haus« mit einem Zitat des iri­schen Schriftstellers Oscar Wilde gewürzt: »Wenn uns die Götter strafen wollen, dann er­hören sie unsere Gebete.« Sie taten es – auch zum Kummer bundesdeutscher Leitmedien. Schon wenige Tage nach dem Gipfel in Reykjavik war in der »Welt« zu lesen: »Pershing 2 und Cruise Missiles haben die Aufgaben, Moskaus Führung mit dem Einsatz amerikani­scher Nuklearmittel von Europa aus mit kriegsentscheidenden Potenzialen zu konfrontie­ren.« So sah es auch die Zeitung für Deutschland, die FAZ. Gänzlich ungeniert gab sie zu, dass »die SS-20-Rüstung der Sowjets nicht die Ursache der Pläne war, die taktischen Atomwaffen der Nato in Europa zu verstärken, sondern allenfalls ein Umstand, der dieser Absicht förderlich war. Ein ursächlicher Zusammenhang bestand dagegen nie.«

Der Nato-Stationierungsbeschluss hatte also mit der aufgeladenen SS-20-Debatte nicht das Geringste zu tun. Nochmal die FAZ: »Um primär politisch wirken zu können, benötigt das Bündnis Systeme …, deren Reichweite groß genug ist, um die Sowjetunion im Ernstfall treffen zu können.« Es ging also um nichts weniger, als eine Erstschlagskapazität aufzu­bauen. Davon haben die USA nie aufgehört zu träumen. Für Trump, so scheint es, sind alle Rüstungskontrollabkommen nur dazu da, gebrochen zu werden, wann immer ihm danach ist (siehe auch das Atomabkommen mit dem Iran).

Disziplin im Nato-Block

Wie aber reagierten die europäischen Nato-Mitgliedstaaten, die doch am Erhalt des INF-Vertrags ein besonders vitales Interesse haben müssten? Der antirussischen Hysterie ver­fallen, verhielten sich so, wie es sich für Vasallen gehört. Urplötzlich beeilten sie sich,  »schwerwiegende Zweifel« an der russischen Vertragstreue anmelden zu müssen. Weil aus Moskau keine »überzeugenden« Antworten gekommen seien, müsse man »plausibler-weise« von einem Bruch des Abkommens ausgehen. Schon die Nato-Gipfeler­klärung im Sommer 2018 gab dieser skurrilen »Logik« die Vorlage. Die Erklärung dokumen­tiert die Funktionsweise der von den USA eingeforderten Blockdisziplin. Alle europäischen Mitgliedsstaaten händigten ihrem »Spielführer« einen Blankoscheck für Vertragstreue aus, während Russland vertragsbrüchig sei. Diese Behauptungen wurden mit dem Etikett »Beweise« versehen und der Qualitätspresse zum weiteren Ausbau des russischen Feind­bilds auf den Schreibtisch gelegt.

Getreu dem Motto: »Meine Meinung steht fest, irritieren Sie mich bitte nicht mit Tatsachen« wird die russische Regierung mit geradezu fürsorgli­chem Unterton ermahnt, zum Vertrag »zurückzukehren«. Zurückkehren ohne zuvor wegge­gangen zu sein? Die Unterstellungen über Vertragsverletzungen hat die russische Seite schon längst mit handfesten Fakten gekontert. So lieferte sie zusammen mit Gesprächsan­geboten Details über die Rakete 9M927, ihre technischen Parameter sowie Ergebnisse von Tests, die die absolute Vertragskonformität bestätigen. Da diese Informationen für die Nato angeblich nicht »überzeugend« sind, muss Russland »plausiblerweise« davon aus­gehen, dass es das westliche Kriegsbündnis selbst ist, das sich vom INF-Vertrag verab­schieden will. Die jüngsten Warnungen des deutschen Außenministers vor einem Europa als »Schauplatz einer Aufrüstungsdebatte« bleiben solange diplomatisches Geschwätz, bis er aus der Erkenntnis, dass seine transatlantischen Freunde unter dem Vorwand russi­scher Vertragsverletzungen es genau darauf anlegt haben, die richtigen Schlussfolgerun­gen zieht. Es passt ins Bild, dass das für Osteuropa geplante US-Raketenabwehrsystem sehr schnell mit nuklear bestückten Marschflugkörpern umgerüstet werden kann. Eine »Defensivwaffe« würde sich in eine Erstschlagswaffe verwandeln. Das aber wäre ein klarer Bruch des INF-Vertrags.

Der amerikanische Autor Strobe Talbott hat in seinem Buch »Raketenschach« die Entste­hungsgeschichte der Null-Lösung aufgezeichnet. Darin weist er nach, dass der Begriff »Null-Lösung« deshalb in die Debatte eingeführt wurde, um die Unterstützung der Öffent­lichkeit in der Bundesrepublik Deutschland für den Nato-Doppelbeschluss zu gewinnen. Tempora mutantur: Die Nato ist bis an die russische Westgrenze vorgedrungen, und das Wort vom atomaren Präventivschlag hat wieder Platz genommen im Nato-Grundwort­schatz. Die Kröte, die die USA mit dem INF-Vertrag hat schlucken müssen, will Donald Trump wieder ausspucken. Und er wird ihm, Ronald Reagan, dem »Erfinder« der Nulllö­sung, die alttestamentarische Botschaft auf sein Grab legen: »Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst, ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein.«

Der INF-Vertrag (Intermediate Range Nuclear Forces) ist ein zwischen den USA und der Sowjetunion geschlossener Vertrag über Vernichtung und Produktionsverbot aller landgestützten Flugkörper mittlerer und kürzerer Reichweite (500 bis 5.500 Kilometer). Der Vertrag wurde am 8. Dezember 1987 in Washington unterzeichnet und am 1. Juni 1988 in Moskau in Kraft gesetzt. Weil die Vernichtung von zwei Raketentypen vereinbart wurde, wird auch von einer doppelten Null-Lösung gesprochen.