Eine von uns
Frank Schumann, Berlin
Anna Seghers, am 19. November 1900 geboren
Im Frühsommer 1978 war’s, als der Schriftstellerverband der DDR zu seinem VIII. Kongress zusammenkam. Er diskutierte über Politisches und auch über Literatur. Anderthalb Jahre zuvor war ein Sänger ausgebürgert worden. Die Entscheidung eines maßgebenden Mannes hatte verärgert, weil bis dato nur der verfluchte Nazistaat dies praktiziert hatte. Und weil zweitens die Entscheidung von einem allein, ohne Diskussion im Führungszirkel oder woanders, getroffen worden war. »Erich, musste das sein?«, soll Hager tadelnd im Politbüro gefragt haben, nachdem das Kind bereits im Brunnen lag und die Nachricht in der Zeitung stand. Die Stimmung unter den DDR-Literaten war nicht gut. Einige blieben dem Kongress aus eben jenem Grunde fern, andere hatten sich bereits auf und davon gemacht. Der Eröffnungsredner sagte, sie hätten sich »aus sozialistischem Leserland nach Bestseller-Country« und damit ins historische Abseits verzogen.
Geordneter Wechsel
Dieser Herrmann Kant wurde auf jenem Schriftstellerkongress schließlich zum Verbandspräsidenten und damit zum Nachfolger von Anna Seghers gewählt. Sie hatte sich schon seit Jahren um diese Personalie bemüht, worüber auch Egon Krenz im dritten Band seiner Memoiren berichtet. Gemeinsam mit der im FDJ-Zentralrat für die Kultur zuständigen Christel Zillmann hatte er 1975 die Nestorin der DDR-Literatur in ihrer Wohnung in der Berliner Volkswohlstraße 81 aufgesucht. Dort lebte sie seit Mitte der fünfziger Jahre mit ihrem Mann. (Die Straße in Adlershof trägt seit 1984 ihren Namen.)
Krenz und Zillmann luden sie zur Kulturkonferenz der FDJ ein, die im Juli in Weimar stattfinden sollte. Während des Gesprächs kam Anna Seghers unvermittelt auf ihren Schriftstellerkollegen Hermann Kant zu sprechen. Krenz in seinen Memoiren: »Es ging um die Nachfolge an der Spitze des Schriftstellerverbandes. Anna Seghers bestand darauf, dass ›ihr Hermann‹ Präsident und somit ihr Nachfolger werden sollte. Sie bat mich um Unterstützung, ihren privaten Wunsch zu realisieren.«
Mehr teilte Krenz im Buch nicht mit. Also nachgefragt. Ja, Anna Seghers war darauf bedacht, beizeiten »ihr Haus« zu ordnen. Sie stand seit über zwanzig Jahren schon an der Spitze des Schriftstellerverbandes der DDR und war nicht mehr ganz gesund – daher kam die 74-Jährige entgegen ihrer Zusage auch nicht selbst nach Weimar, schickte jedoch ein viel beachtetes Grußwort an die 1.200 Delegierten, so Krenz.
Aber warum sollte Kant und nicht irgendein anderer Präsident werden? Er sei »ein begabter junger Mann«, habe sie gesagt (Kant ging auf die Fünfzig zu), er schreibe »richtig gutes Deutsch«, seine Sprache sei verständlich und bemerkenswert. Anna Seghers rühmte also Kants literarische Qualitäten. Mit politischen Urteilen hielt sie sich wie gewohnt zurück, so Krenz. Obgleich sie aus ihrer Gesinnung nie einen Hehl machte – sie war 1928 der KPD beigetreten und noch immer dabei. In jenem Jahr war auch ihr erstes Buch (»Aufstand der Fischer von St. Barbara«) erschienen, wofür sie den Kleist-Preis erhielt, die bedeutendste literarische Auszeichnung der Weimarer Republik. Sechs Jahre zuvor hatte Bertolt Brecht sie bekommen, auch Arnold Zweig, Leonhard Frank, Robert Musil und Ernst Barlach waren damit geehrt worden.
Aber warum »Anna Seghers« und nicht Radványi, wie sie eigentlich seit drei Jahren hieß? 1925 hatte sie nämlich den aus Ungarn stammenden Soziologen László R. geheiratet. Sie hätte auch ihren Mädchennamen Annette (»Netty«) Reiling als Pseudonym wählen können. Doch nein, sie wählte »Seghers«. Und weil ihre 1927 unter diesem Künstlernamen erschienene Erzählung »Grubetsch« bei den Kritikern den Verdacht hatte entstehen lassen, der Verfasser sei ein Mann, stellte sie bei allen nachfolgenden Arbeiten der Seghers eine »Anna« voran.
Als Netty Reiling hatte sie Geschichte, Kunstgeschichte und Sinologie studiert und 1924 zum Thema »Jude und Judentum im Werk Rembrandts« promoviert. Dabei war ihr der niederländische Maler Hercules Seghers (1590-1638) untergekommen. Auf dem Stein auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof, der ihr efeubewachsenes Grab ziert, stehen alle drei Namen: »Netty Radvanyi, geb. Reiling, Anna Seghers«. Im Grab daneben liegt ihr 1978 verstorbener Mann, und auf dessen Stein ist zu lesen: »Laszlo Radvanyi – Johann-Lorenz Schmidt«. Denn »Rodi«, wie er von »Anna« genannt wurde, der promovierte Wirtschaftswissenschaftler, arbeitete seinerzeit nicht nur im Apparat der KPD, sondern auch für die sowjetische Handelsvertretung. Aus Sicherheitsgründen machte er aus seinem ungarischen Namen vorsichtshalber einen deutschen Schmidt.
Wenige Tage nach Errichtung der faschistischen Diktatur, schon im Februar 1933, emigrierten die zwei mit ihren beiden Kindern Peter und Ruth nach Paris. 1941 flohen sie weiter nach Mexiko. Anna kehrte 1947, Schmidt 1952 nach Berlin zurück.
Über den Beginn dieser innigen Verbindung geben die Briefe Auskunft, die am 11. November bei Aufbau erscheinen. [1] Der in Paris lebende Enkel Jean Radványi hatte im Nachlass seines 2021 verstorbenen Vaters Peter (= Pierre Radványi) einen Karton mit etwa 470 Briefen, Postkarten und Telegrammen entdeckt, die seine Großmutter zwischen März 1921 und 3. August 1925 an seinen Großvater gerichtet hatte, das heißt vom Beginn ihrer Bekanntschaft bis zu ihrer Hochzeit. Die Tochter der vermögenden jüdischen Familie Reiling aus Mainz studierte seit 1920 an der Universität Heidelberg, dort traf sie auf den Studenten Ladislaus, der aus der ungarisch-jüdischen Kaufmannsfamilie Radványi stammte. Die Beziehung war leidenschaftlich, wurde aber insbesondere von Nettys Vater abgelehnt. Der sah »die Verbindung seiner einzigen Tochter mit einem agnostischen und bolschewistischen ungarischen Juden äußerst kritisch«, so Jean Radványi.
Aber er konnte sie nicht verhindern. In der Korrespondenz, wenngleich einseitig – es sind nur die Briefe von Anna Seghers, nicht die Antworten von László Radványi überliefert –, »erscheinen die Aspekte der politischen Umstände durchaus: Inflation, Wohnungsnot, Schwierigkeiten für junge Akademiker, einen Arbeitsplatz zu finden, zumal wenn sie Ausländer und Kommunisten sind, der beunruhigende Anstieg des Anti-semitismus …« (Jean Radványi). Das ist wahrlich eine interessante Lektüre, die da zum 125. Geburtstag von Anna Seghers vorgelegt wird.
Sie ist von privater, intimerer Art als die Schriften, die wir kennen und die mehrheitlich in der DDR verfilmt wurden: »Die Toten bleiben jung« (1968), »Das Schilfrohr« (1974), »Das Licht auf dem Galgen« (1975), »Die Tochter des Delegierten« (1977); »Das Obdach« (1981), »Der Mann und sein Name« (1983), »Überfahrt« (1984), »Das wirkliche Blau« (1986), »Aufstand der Fischer von St. Barbara« (1988).
Geehrt und geschmäht
Hollywood verfilmte 1944 ihren Roman »Das siebte Kreuz«, nachdem das Buch allein in den USA sechshunderttausend Mal verkauft worden war. Dieses Werk, im französischen Exil geschrieben und im mexikanischen Exil 1942 bei El Libro Libre gedruckt, wurde schon bald weltweit als Klassiker gerühmt. In der DDR war das Buch Schulstoff, es prägte – neben den vielen anderen antifaschistischen Werken – Generationen. Selbst der erklärte Antikommunist Marcel Reich-Ranicki kam nicht umhin, 1988 das »Siebte Kreuz« als Meisterwerk der deutschen Literatur und als den bedeutendsten deutschen Roman über das Leben während des Dritten Reiches zu bezeichnen.
Seit ihrem Tod 1983 sind über Anna Seghers Werke viele Arbeiten geschrieben und gedruckt worden, nicht wenige davon in ihrem Hausverlag, dem Berliner Aufbau-Verlag. Die Autorin selbst wurde zu Lebzeiten geehrt und geschmäht. Noch immer heben Ewiggestrige den Finger: Seghers habe als SED-Mitglied und Nationalpreisträgerin des Unrechtsstaates, als Ehrenbürgerin der DDR-Hauptstadt und als Präsidentin des Schriftstellerverbandes und nachmalige Ehrenpräsidentin öffentlich geschwiegen, wenn sie sich öffentlich hätte erklären sollen: als 1957 der Leiter des Aufbau-Verlages abgesetzt und verurteilt wurde, als Heiner Müller 1961 aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen wurde, als 1979 neun Schriftsteller ihrer Mitgliedschaft im Verband verlustig gingen … Ach, wie albern wirken solche Monita angesichts ihres Lebenswerkes und ihrer humanistischen, antifaschistischen Lebenseinstellung. Die Bedeutung eines Künstlers misst sich doch nicht daran, ob er nun zu jedem Vorgang seinen Senf gibt oder sich diesen spart.
Joachim Seyppel (1919-2012), einer der neun 1979 ausgeschlossenen Autoren, veröffentlichte bei Aufbau 1978 »Umwege nach Haus. Nachtbücher über Tage 1943 bis 1973«. Darin schreibt er auch über Begegnungen mit Anna Seghers. »Gesehen, einige Mal und nicht vergessen: dieses Gesicht vor allem […], zwischen Klarheit und Erwartung, besonders natürlich die Augen.«
Seyppel erinnert sich einer Episode, als einer quengelte, was sie mit einem Text gemeint habe. »›Ich hab gemeint, wie’sch geschrieben isch.‹ Dialekt aus Meenz, französisch angehaucht, mit Weltatem in der Atemwende«, schreibt der promovierte Germanist und Philosoph Seyppel und schließt: »Die Seghers Anna wird das vielleicht, neben wenigen andren, hineinretten in eine Zeit, die sich dazu entschließen könnte, statt von Texten wieder von Dichtung zu sprechen.«
DAS sind Geschichten, die ihren Sinn unauffällig in sich tragen, »und der Sinn, den die Seghers Anna ihnen mitgibt, löst sich in Ereignis auf, ohne sich zu verlieren«.
Wir sollten sie wieder lesen. Die Poesie, die Dichtung von Anna S. hilft in dieser kaputten, finsteren Zeit mehr als alles andere.
Anmerkung:
[1] »Anna Seghers. Ich will Wirklichkeit. Liebesbriefe an Rodi 1921-1925«, herausgegeben von Jean Radványi und Christiane Zehl Romero, Aufbau Verlag, 464 Seiten, 28 €.
Mehr von Frank Schumann in den »Mitteilungen«:
2025-10: Bewaffnung der Bundesrepublik