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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Eine reale fortschrittliche Alternative ist nicht in Sicht

Alexander Charlamenko im Interview (Auszug aus »Marxistische Blätter«)

 

Von falschen Analogien und Kämpfen der Vergangenheit

 

In der Juliausgabe der Onlinetextsammlung »Russland intern« der »Marxistischen Blätter« erschien ein von Gudrun Havemann am 8. und 9. Mai 2025 geführtes und übersetztes Interview mit Alexander Charlamenko. Bereits seit 30 Jahren befragt sie den in Moskau lebenden Historiker zu den jeweiligen Verschiebungen von Kräfteverhältnissen in der »neuen Weltunordnung«. [1] Mit freundlicher Genehmigung der Redaktion der Marxistischen Blätter veröffentlichen wir hier eine stark gekürzte Fassung des Gesprächs. Das ungekürzte Interview wurde auf der Webseite www.marxistische-blaetter.de veröffentlicht.

 

G. Havemann: Unter europäischen Linken und einem Teil der Linksliberalen, zumindest bei denen, die heute nicht nur die Opfer-, sondern auch die Stellvertreter-Rolle der Ukraine erkennen können, scheint die Sicht vorzuherrschen, dass es sich beim völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine um einen zwischenimperialistischen Krieg handelt. Die Vorstellung von »Putins Imperialismus« scheint vielen plausibel.

A. Charlamenko: Ja, für viele drängt sich offensichtlich eine Analogie zu imperialistischen Kriegen der Vergangenheit auf, als würden wir es erneut mit dem Jahr 1914 zu tun haben, als würde es sich bei der Rivalität zwischen den USA und Russland oder zwischen den USA und China unverändert um einen bloßen Kampf zwischen imperialistischen Großmächten um Territorien, Kapitalexport, Zugriff auf Rohstoffressourcen, Einflusssphären in der Welt handeln. Ebenso kursiert die (inzwischen auch von der Trump-Administration geteilte) Auffassung, dass die VR China die USA als eines der wichtigsten Zentren der kapitalistischen Welt »einholt und überholt« und Washington die Rolle als Superzentrum der Welt abzujagen droht. […] 

Der heutige Imperialismus hat sich also aus einer Vielzahl gegeneinander kämpfender Einzelmächte und unter dem Einfluss der weltweiten Konfrontation zwischen Kapitalismus und Sozialismus im 20. Jahrhundert längst in ein weltumspannendes hierarchisches System verwandelt. In diesem System agieren die USA nicht einfach als Einzelstaat oder Supermacht, sondern als Residenz, »Hauptquartier« und, im Verbund mit der NATO, militärische Stoßtruppe des global herrschenden transnationalen Kapitals mit all seinen Fraktionen. Das gesamte Potential dieses »Hauptquartiers« und die Dimensionen seines Zugriffs auf die Welt lässt sich in Wirtschaftsparametern der USA überhaupt nicht adäquat messen und erfassen.

Natürlich gibt es auch heute zwischenimperialistische Widersprüche. Die Widersprüche zwischen dem Imperialismus als globalem hierarchischen System, das die Welt in Metropolzentren und abhängige Peripherie spaltete, einerseits, und den staatskapitalistischen Strukturen Chinas oder Russlands andererseits, sind aber von ganz anderem Charakter und gehen viel tiefer: Es sind verwandelte Formen der antagonistischen Widersprüche der gesamten kapitalistischen Gesellschaftsformation und der Welt des 20. und 21. Jahrhunderts.

Die VR China und die Russische Föderation sowie die meisten anderen BRICS-Länder erlangten ihren heutigen Entwicklungsstand, indem sie sich auf zwei grundlegende Faktoren stützen konnten: Erstens, auf die Ergebnisse der antiimperialistischen Weltrevolution des 20. Jahrhunderts in ihren frühsozialistischen und antikolonialen Ausprägungen, zweitens aber, auf ihre Integration in das System der internationalen kapitalistischen Arbeitsteilung, in dem das transnationale Kapital mit den USA als seiner Superresidenz vorherrscht. Außerhalb dieser Integration konnte der Kapitalismus als solcher in der Russischen Föderation und in China gar nicht existieren. Doch zugleich kann er diese Integration zu akzeptablen Bedingungen nur verwirklichen, wenn er sich weiterhin auf Faktoren objektiv antiimperialistischen Charakters stützt. […] 

Diese Länder können sich also gar nicht einfach organisch in jene Hierarchie einfügen. Sie rufen allein aufgrund ihrer Existenz als relativ souveräne und zugleich als im Erbe der weltweiten antiimperialistischen Revolution des 20. Jahrhunderts verwurzelte Länder die Feindschaft der gesamten imperialistischen Welt hervor, insbesondere seitens der Ultrarechten dieser Welt, und zwar ungeachtet aller Bestrebungen einiger Leader dieser Länder, z. B. russischer, zur globalen Elite gehören zu wollen. Sie versuchten das ja seit langem mit aller Kraft, und sie seien doch längst, wie Putin vor einigen Jahren beteuerte, »bourgeoisisch« geworden. Erfolglos.

Leute wie Putin werden heute so ähnlich wahrgenommen, wie einst Napoleon vom bürgerlich-aristokratischen England und den absolutistischen Staaten des übrigen Europas, der ihnen als »Robespierre zu Pferde« und Ausgeburt der Französischen Revolution galt, obwohl Napoleon bekanntlich dieser Revolution gegenüber überaus feindlich eingestellt war; er fürchtete sie und versuchte alles, was von ihr übrig geblieben war, zu tilgen. Ungeachtet dessen zählten ihn die damaligen europäischen konservativen Ordnungsmächte nicht zu den Ihren, er blieb ihnen zutiefst fremd, ein Feind. [...]

Ganz analog werden gegenwärtig Russland und China seitens der Vertreter des wirklichen, global organisierten Imperialismus wahrgenommen.

Schon daher stellen Versuche, dessen feindseligen Konfrontationskurs gegen unbotmäßige Staaten zurückzuweisen bzw. Gegenschläge auszuteilen, aus meiner Sicht Versuche zur Selbstverteidigung dar, Versuche dieser Regimes, in feindlicher Bedrängnis zu überleben, nicht aber Expansionsbestrebungen nach dem Vorbild Hitlers oder gar Napoleons. Doch besitzen sie nicht die geringste Chance, dabei irgendwelche ernsthaften Erfolge im Sinne einer »weltweiten Hegemonie«, ja auch nur regionaler Hegemonie zu erzielen. Das Maximum, was ein von Putin geführtes Russland am Ende erreichen könnte, wäre, einen Teil von »Noworossija« einzunehmen; auf mehr erheben sie selbst schon keinen Anspruch mehr. Ihre Absichten tragen jedenfalls einen gänzlich anderen Charakter und sind nicht vergleichbar mit den globalen Hegemonialansprüchen des US- und NATO-Imperialismus. Im Grunde handelt es sich um einen Abwehrkampf gegen diesen. Nur dadurch lässt sich auch der Umstand erklären, dass dem gegenwärtigen russischen Regime, einem antisowjetischen, antikommunistischen Regime, mit dem im Westen rechte und ultrarechte Kräfte sympathisieren, derzeit sämtliche antiimperialistischen Kräfte der Welt zulaufen – ob Kuba, Venezuela, Nikaragua, Nordkorea u. a. Russland trägt in sich »genetisch« noch das Erbe der Sowjetepoche, ob nun gewollt oder ungewollt (bekanntlich wollen das seine Führer überhaupt nicht), das ist einfach eine Tatsache. [...]

 

G. H.: War denn gar nicht vorhersehbar, was [nach dem Februar 2022 – »Mitteilungen«-Red.] folgen würde?

A. C.: So etwas in seiner ganzen Komplexität vorherzusehen bzw. zunächst überhaupt den ganzen Umfang der wechselwirkenden Faktoren und Einflüsse zu erfassen und womöglich andere Entscheidungen zu fällen, ohne einen Krieg zu beginnen, war wohl von einer bürgerlichen Regierung kaum zu erwarten.

Bekanntlich waren auch im Jahre 1914 die Entscheidungsträger aller Seiten so sehr in die Lösung ihrer konjunkturellen Nah-Probleme vertieft, darunter auch der Rettung ihrer innenpolitischen Positionen in einer heranreifenden gesamtnationalen Krise, dass niemand imstande war, verantwortlich vorauszudenken. So auch heute wieder. […] 

Die Folgen fallen insgesamt mehrheitlich natürlich negativ aus und gehen weit über den Rahmen der russisch-ukrainischen Beziehungen hinaus, auch weit über Europa.

Es geht ja nicht nur um die Erweiterung der NATO, die Aufnahme von Finnland, Schweden usw. Vielmehr wird damit endgültig das Nachkriegssystem des Völkerrechts und auch einer gewissen internationalen Moral, wenn davon noch die Rede sein konnte, zerstört. Niemand hatte sich bis dato offen dazu entschieden, bestehende Grenzen zu ignorieren, und wenn es doch jemand tat, wie beispielsweise Israel, wurde das international zumindest kritisiert. Nun aber sind sämtliche Tabus gefallen. Alle ahmen das jetzt nach, angefangen bei Trump. Der träumt vom Anschluss Grönlands, der Annexion Kanadas oder vom Panamakanal … Oder schauen wir nach Indien und Pakistan, dasselbe Bild, ganz zu schweigen von Israels Vorgehen im Gaza-Streifen.

Das am Ende des Zweiten Weltkriegs entstandene System des Völkerrechts mit seinem Eckpfeiler, der UN-Charta, war auch zuvor schon brüchig geworden – vor allem auf Grund des Verhaltens von Washington, das es längst mehr oder weniger feierlich über den Haufen geworfen hatte. Immerhin funktionierte es aber irgendwie noch in formaler Hinsicht, wenn auch zunehmend schlechter.

In der UN-Charta wurden damals sowohl das Recht auf nationale Selbstbestimmung fixiert (unter marxistisch-sowjetischem Einfluss), als auch der Grundsatz der territorialen Integrität von Staaten (unter dem Einfluss langer politischer Tradition und der kürzlichen Kämpfe gegen faschistische Annexionspolitik). Es war erwartbar, dass in der Anwendung auf Vielvölkerstaaten eindeutig ein Widerspruch zwischen den beiden Grundsätzen zutage treten musste. Was für die Verteidiger eines bestehenden Vielvölkerstaates Separatismus ist, d. h. Verletzung der territorialen Integrität, kann für eine ihrer Nationalitäten der verzweifelte Versuch der Erlangung von Selbstbestimmung sein. Beide Seiten können sich dabei zu Recht auf die UN-Charta berufen, so dass eine Sackgasse entsteht. 

In Europa hatte sich eine besondere völkerrechtliche Situation ergeben: Die Grenzen Nachkriegseuropas wurden völkerrechtlich bekanntlich erst am 1. August 1975 in der Schlussakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) in Helsinki fixiert, worin 35 Staaten einander die Unverletzlichkeit ihrer Grenzen garantierten. […] 

Die Grenzen der daraus entstandenen Einzelstaaten wurden jedenfalls, das lässt sich zumindest feststellen, als Völkerrechtssubjekte nicht mehr auf dieselbe Weise fixiert, wie die Grenzen der Sowjetunion oder Jugoslawiens. Nun hatte bekanntlich Russland selbst seine Loslösung von der Sowjetunion proklamiert und damit de facto die Grenzen der Nachfolgestaaten anerkannt. Doch es konnte begründet davon ausgehen, dass es sich bei diesen Staaten weiterhin um seine historische gewachsene Interessensphäre handeln musste, und zwar nicht im imperialistischen, sondern im rein völkerrechtlichen Sinn, und das hätte politisch berücksichtigt werden können und müssen. Die NATO hätte nie in diese Gebiete einrücken dürfen. Sie ist aber eingerückt, schon vor vielen Jahren, als die baltischen Republiken, selbstbestimmt und wunschgemäß, ins Bündnis aufgenommen wurden. Wenn das zulässig war, warum konnte dann nicht mit derselben Berechtigung gefolgert werden, dass der mehrheitlich russischsprachigen Bevölkerung Noworossijas wunschgemäß ebenfalls ein Recht auf Selbstbestimmung zuzugestehen war? Doch wen interessiert heute noch der Rechts- oder Völkerrechtsaspekt. […] 

Das ist alles sehr bedauerlich und inzwischen eine so komplexe Gemengelage, aus der ich derzeit keinen progressiven Ausweg erkennen kann. Leider.

Was ich nur feststelle, ist mein Unverständnis gegenüber der Position der westeuropäischen Länder. Wie immer man auch auf das Geschehen blickt – worauf hoffen sie? Wenn sogar die USA aufgehört haben, diejenige Linie bedingungslos zu unterstützen, die sie zuvor ihren NATO-Bündnispartnern selbst aufgezwungen hatten? Worauf warten sie, wenn sogar die USA anfangen, mit Russland zu verhandeln – abgesehen davon, dass noch unklar ist, wohin das führt – doch mussten doch die westeuropäischen Länder gerade deswegen selbst ohne weiteren Zeitverlust die Initiative zu eigenen analogen Verhandlungen ergreifen! Dazu hatten sich als Vermittler seit längerem mehrere Staaten angeboten, China, Brasilien, Südafrika. Möglichkeiten dazu gab und gibt es. Stattdessen – immer wieder gewisse infantile Verlautbarungen vom Kampf bis zum siegreichen Ende, von der Aufrüstung Europas, von einer eigenen europäischen Armee. All das ist hier schwer nachvollziehbar.

 

G. H.: Und was hältst du von gewissen Hoffnungen auf Trump als Deal-Maker für ein Kriegsende?

A. C.: Das ist sogar der mich am meisten alarmierende Aspekt. Bei diesen Deals könnte es zu politischen Zugeständnissen kommen, die für unsere wirklichen Bündnispartner und Freunde tödlich und auch für Russland extrem negativ ausfallen würden. Das befürchte ich, bisher ist es dazu noch nicht gekommen, mit einer Ausnahme:

Verdächtig war für mich von Beginn an in diesem Zusammenhang, was Ende letzten Jahres in Syrien geschah. Dort befanden sich russische Militärbasen – seinerzeit hatte Russland die wichtigste Rolle bei der Zerschlagung des extremistischsten Flügels der islamischen Fundamentalisten in Syrien, des IS, übernommen. Als aber ein anderer Flügel dieses islamischen Fundamentalismus seine Offensive auf Damaskus begann, gab es von russischer Seite her keinerlei Reaktion, mit Ausnahme der Aufnahme der geflohenen Assad-Familie. Das alles passierte nach dem Wahlsieg Trumps, vor seiner Inauguration und wohl darauf spekulierend, dass mit ihm Verhandlungen über die Ukraine beginnen könnten.

War das womöglich schon der Beginn weiter reichender Zugeständnisse? Ich habe keine Beweise dafür, aber die Sorge steht im Raum. Am meisten betrifft sie natürlich unsere lateinamerikanischen Freunde in Kuba, Venezuela, Nikaragua. Obwohl es noch keine klaren Symptome gibt, ist zu erwarten, dass Washington mit entsprechend erpresserischen Forderungen herausrückt. Ob dann die russische Führung genügend Festigkeit, Prinzipientreue, Verantwortungsbewusstsein gegenüber den eigenen Verbündeten in der heutigen Welt an den Tag legen wird?

Und sind die Positionen dieser Führung überhaupt noch fest genug innerhalb des Landes und innerhalb der herrschenden Klasse? Das alles wissen wir nicht.

Es kann einen jedenfalls nicht kalt lassen, wenn Trump ganz offen verkündet, dass es zu seinen Zielen gehört, Russland und China gegeneinander auszuspielen. Der wichtigste strategische Gegner der USA sei China, nicht Russland. Hier scheint jemand eine Situation wiederaufleben lassen zu wollen, wie sie durch das Anheizen des sowjetisch-chinesischen Konflikts in den 1960-1970er Jahren durch Washington schon einmal entstanden war. Dieser Konflikt spielte damals eine nicht unwesentliche Rolle beim Untergang der UdSSR, beim Zusammenbruch des sozialistischen Weltsystems. Würde das erneut versucht werden, würde Russland seinerseits zum Schlachtfeld zwischen China und dem US-NATO-Block werden. Ein schrecklicheres Szenario kann es für unser Land nicht geben, davon bin ich überzeugt. Das wäre dann nicht ein Ukraine-Krieg, nicht ein Afghanistan-Krieg, sondern etwas weitaus Furchtbareres.

Die ganze Hoffnung liegt natürlich noch bei einem minimalen Sieg der Vernunft. Die Anreise von Präsident Xi Jinping zum 9. Mai 2025 nach Moskau, die wegen des aktuellen Pakistan-Indien-Konflikts doch nicht abgesagt wurde, wie ich zuvor befürchtet hatte, sein Empfang auf höchster Ebene und die vertraulichen Verhandlungen mit Putin säen zumindest Grund für gebremsten Optimismus, dass Russland und China ihre Interessen miteinander ausbalancieren könnten und beide in einen Dialog mit Washington treten. Der ist absolut unverzichtbar, er muss gefunden werden, ein Ausweg kann nicht in weiterer militärischer Eskalation oder gar im Kreuzzug gegen die chinesische Bevölkerung gesucht werden.

Ein solcher Konflikt wie der unlängst zwischen Indien und Pakistan an der Südgrenze zu China ausgebrochene hat gerade noch gefehlt. Es gab dort früher immer wieder Spannungen und Terroranschläge, aber seitdem beide Staaten Atommächte geworden waren, noch nie einen so heftigen militärischen Zusammenstoß wie jetzt. Indien beantwortet einen Terroranschlag mit einem Raketenschlag gegen Pakistan, Pakistan droht als Antwort mit der Atombombe: Wenn man auf jeden Terrorakt so überreagieren würde, wäre die Welt schon längst in einem weltweiten Atomkrieg untergegangen. […] 

 

G. H.: Warum tut sich Russland so schwer, sich auf einen 30-tägigen Waffenstillstand einzulassen?

A. C.: Ich denke, dass das nur zum fortgesetzten abwechselnden Bruch der Waffenruhe durch die eine oder andere Seite führen würde. Wir hörten in diesen Stunden, wie die ukrainische Seite aus Anlass des 9. Mai dazu anstachelte, einen nachhaltigen Schlag gegen Moskau zu führen. Selenskis Drohungen, es während der Siegesfeier allen zeigen zu wollen und letztlich mit dieser ganzen dort zu erwartenden Führungsriege der Welt abzurechnen – immerhin versammeln sich dort ja keine ganz unbedeutenden Vertreter – lassen eine rein terroristische Position erkennen. Niemand aber beschuldigt oder sanktioniert ihn wegen Förderung des internationalen Terrorismus, eigentlich merkwürdig.

Für einen Waffenstillstand jedenfalls wird eine Art minimal vorauszusetzendes wechselseitiges Vertrauen darauf benötigt, dass sich auch die andere Seite an die Vereinbarungen hält. Davon ist man heute weit entfernt, ich denke, deswegen lässt sich niemand darauf ein.

Doch kennen wir weder die genauen Details und Umstände dieser Situation, noch wissen wir, welcher Art und welchen Ausmaßes die reale militärische Präsenz und Aktivität von NATO-Staaten in der Ukraine ist, in welchem Maße diese Kriegsmaschine überhaupt noch von Kiew beeinflusst wird. Daher kommt es eben darauf an, nicht so sehr mit Kiew, als mit den USA in Verhandlungen zu treten, so wie einst im Vietnam-Krieg mit den USA selbst und nicht mit ihren Saigoner Marionetten verhandelt wurde. Das ist nicht erfreulich, aber so ist die Lage.

Für die USA selbst stand sicherlich auch als unmittelbares Ziel ihres ganzen Engagements zur Schwächung Russlands im Vordergrund, sich dadurch die Europäische Uni­on, die europäischen NATO-Partner vollständig gefügig zu machen. Das haben sie nun nahezu erreicht. Auch wenn Trump etwas von dieser Linie abzuweichen scheint, so möchte er doch ganz offensichtlich das bisherige Selbstverständnis der EU als eigenständiges politisches Subjekt endgültig brechen, möchte erreichen, dass sie sich den Verlust dieser Eigenständigkeit eingestehen und sich vollständig dem Diktat der USA unterwerfen. […] 

 

G. H.: In welchem Maße werden die diesjährigen Feierlichkeiten zum Tag des Sieges für die gegenwärtige Kriegspropaganda vereinnahmt? Wir sehen überall neben den schwarz-goldenen Georgiew-Bändern, -Schleifen und -Flaggen auch rote Fahnen, das Hammer-und Sichel-Symbol taucht vielerorts in der Stadt auf …

A. C.: Nur werden Hammer und Sichel heute längst nicht mehr wahrgenommen als kommunistisches Symbol, höchstens noch von Einzelnen. Für die Mehrheit ist das nur eine Anspielung auf weit zurückliegende Zeiten. Die Sowjetunion wird heute als Staat erinnert, der u. a. im Vaterländischen Krieg siegte, als einstige Supermacht, für die meisten durchaus auch als Quelle positiver Erinnerungen. Doch konnte sich niemand offiziell entschließen, die Sowjetunion nach ihrer Destruktion vollständig zu rehabilitieren, ganz zu schweigen von Sozialismus oder Kommunismus.

Wird allerdings die heutige sowjetische Symbolik in Berlin als pro-russisch verboten, schlägt man dort die Richtung der Nazi-Interpretation ein: Der Sieg über den Faschismus soll nicht mehr anerkannt werden.

Natürlich wird bei uns die Sowjetsymbolik heute bewusst von linken oder nationalpatriotischen Bloggern verwendet, von Regierungsseite aber keinesfalls, nicht einmal, um die Spezialoperation zu legitimieren, wie unterstellt wird. Im Gegenteil, unsere Machthaber versuchen auch hier eine strenge Balance einzuhalten zwischen rechter antikommunistischer und linker pro-sowjetischer Interpretation des Sieges. Sie nehmen weder die eine noch die andere Position ein, sondern sind peinlichst darauf bedacht, den Mittelweg zwischen ihnen nicht zu verlassen. […] 

Die heutigen russischen Führer vermeiden tunlichst, die Erinnerung an die eine oder die andere Tradition zu betonen. Auch wenn es uns, die wir mit sowjetischen Werten aufgewachsen sind, widerwärtig scheint, ist diese Haltung vielleicht sogar rational, weil sie ihnen eben eine gewisse politische Stabilität verschafft, die Abwesenheit einer inneren Opposition und innerer Erschütterungen. Darin besteht einer der Faktoren der politischen Stabilität der gegenwärtigen Russischen Föderation im militärischen Konflikt. Wenn man sich in ihre Position hineindenkt, lässt sich das sogar nachvollziehen. Viele machen sich das selbst gewiss nicht bewusst, auch wenn sie keineswegs dumm sind, aber sie sehen einfach keine andere Möglichkeit: Sie können weder die Rechtskonservativen vor den Kopf stoßen (»spontan Rechte« machen heute einen nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung aus); noch können sie das Privatkapital verprellen, denn dessen Einbindung in das staatskapitalistische System ist ihnen teuer, und sie wissen außerdem, dass sie von links gerade keine ernste Herausforderung zu erwarten haben, während das von rechts durchaus passieren kann. Und so schlingern sie auf neo-bonapartistischem Wege durch die Situation. Natürlich in einer anderen Epoche, mit einer anderen Basis, als während des ersten oder zweiten französischen Imperiums. Doch innerhalb der Dynamik von Revolution, Konterrevolution und Postrevolution lässt sich das durchaus als Neo-Bonapartismus bezeichnen.

 

G. H.: »Alles für den Sieg« wird also in diesen Tagen gar nicht besonders akzentuiert: Wenn man sich in Moskau umschaut, so ist dort vom gegenwärtigen Kriegsgeschehen nichts zu spüren.

A. C.: Auch das ist in der Geschichte völlig beispiellos – nicht mal in den Vereinigten Staaten gab es das, als sie ihre Kriege jenseits der Ozeane führten, stets war das doch im Land zu bemerken. Hier aber – als ob gar nichts geschieht. Genau dieser Eindruck soll auch tunlichst aufrechterhalten werden. Die Ideologie der Stabilität wird hier wohl zum Selbstzweck erhoben, eine andere ideologische oder politische Perspektive gar nicht erst aufgemacht.

Die Hoffnungen auf ein Einlenken des Westens jedenfalls erwiesen sich als völlig vergeblich, der Westen tickt anders und scheint seinen ideologischen Stereotypen aufgesessen. Irgendwie scheint man sich auch dort auf einen vergangenen Krieg vorbereiten zu wollen. […] 

 

G. H.: Und deine abschließende Prognose – zum Ausgang der kriegerischen Sackgasse?

A. C.: Mir scheint, dass die meisten politischen Führer in Kategorien des gestrigen Tages befangen sind. Und das betrifft nicht nur Putin, ich befürchte, selbst Präsident Xi Jinping.

Wie die Realitäten des 21. Jh. beschaffen sind, scheint nicht wirklich die Grundlage ihrer Einschätzungen abzugeben. In seinem letzten Diktat (»Lieber weniger, aber besser«) hat Lenin folgende Idee vorgebracht, hier sinngemäß formuliert: Der Ausgang des gegenwärtigen weltweiten Kampfes hängt von viel zu vielen Faktoren ab, als dass man ihn vorhersagen könnte. Nur eines stehe außer Frage: Russland, Indien, China und ihnen verwandte Länder stellen die absolute Mehrheit der Menschheit dar: In diesem Sinne ist der Ausgang des weltweiten Kampfes vorherbestimmt. [2]  

Irgendwie scheint sich in den Zusammenkünften der BRICS-Staaten ein entferntes Echo dieser Idee wiederzufinden. Doch stammt diese aus dem 20. Jahrhundert, aus einer weltumspannenden antiimperialistischen Revolutionsepoche, in der die Hegemonie des transnationalen Kapitals noch nicht endgültig besiegelt war. Kommt diese Initiative zur Schaffung der BRICS im 21. Jh. nicht ein wenig zu spät? Ohne den im 20. Jh. noch revolutionären sozialistischen Macht-Pol und den antiimperialistischen Aufschwung in der übrigen Welt als Basis zu haben, dafür aber die totale Hegemonie des transnationalen Kapitals als Tatsache vor den Augen?

Ich sehe leider zur Zeit keine sozialen Kräfte, die wirklich eine reale fortschrittliche Alternative hervorzubringen imstande wären. Die Arbeiterbewegung ist in einem äußerst labilen, schwachen Zustand; im Massenbewusstsein herrschen spätkapitalistische Stereotype vor, auch bei den am meisten ausgebeuteten Volksmassen. […] 

Wann und wie der Krieg beendet werden kann – ich weiß es nicht. Das lässt sich heute deswegen so schwer analysieren und prognostizieren, weil es kaum objektive Informationen und de facto keinen legalen politischen Kampf mehr gibt. Alles spielt sich hinter den Kulissen ab. Welches wirkliche Kräfteverhältnis sich dahinter verbirgt, kann heute niemand mit Bestimmtheit sagen! Mit der Wirtschaft ist es ähnlich, und es gilt genauso für die internationalen Beziehungen. Unter der unsichtbaren, scheinbar unbeweglichen Oberfläche kann sich etwas zusammenbrauen und plötzlich hervorbrechen, das niemand vorausgesehen hat. Eine höchst beunruhigende, unsichere, instabile Gesamtsituation für die ganze Welt.

(Das Interview führte und übersetzte Gudrun Havemann)

 

Anmerkungen:

[1] Siehe charlamenko-weltgeschichte.de.

[2] Vgl. W. I. Lenin, Lieber weniger, aber besser. In: Lenin Werke, Bd. 33, S. 488.