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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Die Opfer von Nagasaki mahnen

Dr. Wolfram Adolphi, Potsdam

 

Liebe Menschen, die Sie hierher [1] gekommen sind, um gemeinsam der Opfer des Atombombenabwurfes der USA auf die japanische Stadt Nagasaki am 9. August 1945 zu gedenken, seien Sie gewürdigt für Ihren Mut, Ihre Entschlossenheit und Ihre solidarische Kraft, genau dies am heutigen Tage zu tun.

Denn es ist dies in Deutschland ja keine Massenbewegung. Es gibt ja keine großen Mobilisierungskampagnen, denen Sie sich einfach nur anzuschließen brauchten, um dann die Freude und Genugtuung zu empfinden, die es verschafft, wenn man sich mit Zehntausenden eins weiß. Trotzdem haben Sie Ihre Schritte zielstrebig hierher gelenkt, an diesen kleinen, etwas versteckten Ort, weil es Ihnen offensichtlich sehr wichtig ist, heute genau hier zu stehen, an dieser im September 1989 aus Japan nach Berlin gekommenen Weltfriedensglocke, die eine so ganz besondere, Hirn und Seele ansprechende Atmosphäre der Nähe zu den beiden Städten Hiroshima und Nagasaki schafft.

Warum meine ich, sagen zu müssen, dass Sie mutig sind? Weil an diesen von der Friedensglockengesellschaft Berlin mit bewundernswertem ehrenamtlichem Engagement gepflegten und in Ehren gehaltenen Ort zu kommen ja immer zwei Dinge miteinander verband und weiter verbindet: die Trauer und den Kampf. Die Trauer um die mehr als 500 Tausend Toten – ich stütze mich bei dieser Zahl auf die aktuellen japanischen Angaben – und den Kampf dafür, dass es zu einem weiteren Atombombenabwurf niemals kommen darf.

Und dieser Kampf, selbstverständlich, ist Kampf um den Frieden, und der Kampf um den Frieden ist – wir erleben es mit oft an die Grenze des Erträglichen getriebener Wucht – eine höchst komplizierte, umstrittene, keineswegs einigende, sondern im Gegenteil sehr gefährlich spaltende Angelegenheit.

Weshalb wir hier und heute an diesem Ort ja eben auch keine Tausende sind. Obwohl die Gefahr neuerlicher Atombombenabwürfe oder des Einsatzes anderer Atomwaffen so groß ist wie noch nie zuvor, die Kriege der Gegenwart ein ungeheures Eskalationspotential in sich tragen und daraus auch regierungs- und leitmedienseitig öffentlich überhaupt kein Hehl gemacht wird.

Was ist da geschehen, und was geschieht auch weiterhin mit uns?

Die Atommacht Russland führt Krieg gegen die Ukraine, und jemand, der angesichts dessen und der Tatsache, dass unter den die Ukraine sehr offen und massiv unterstützenden westlichen Mächten sich drei befinden, die ebenfalls Atommächte sind – nämlich die USA, Großbritannien und Frankreich –, und dass weiter die Atommacht USA einige ihrer Atomwaffen auf deutschem Territorium stationiert hat – jemand, der also angesichts dieser nicht anders als irrwitzig zu bezeichnenden Situation sofortige Friedensverhandlungen unter gegenseitiger Anerkennung der Interessen aller beteiligten Seiten fordert, um erstens das Blutvergießen zu beenden und zweitens eine nukleare Katastrophe zu verhindern, sieht sich in Deutschland ganz schnell einer politischen und medialen Kampagne ausgesetzt, die mit dem Vorwurf des »naiven Friedenswunsches« und »kindlichen Pazifismus« beginnt, sich mit der Verächtlichmachung anderer als der regierungsoffiziellen Darstellungen der Vorgeschichte, der Ursachen und des Verlaufs des Krieges fortsetzt und schließlich in Kampfbegriffe wie »Lumpenpazifismus« und »Russenknecht« mündet.

Aber warum muss ich das heute hier sagen? An dieser Stelle? An dieser Weltfriedensglocke, an der es doch heute um Nagasaki geht? Kann ich da diese Differenz nicht einmal ruhen lassen? Mit deren Benennung ich doch vielleicht selber spalte statt zu einen? Weil doch alle für den Frieden sind, bloß eben …

Ja, genau, auf dieses »Bloß eben« kommt es an. »Frieden« ist seit der von Bundeskanzler Scholz nach dem russischen Überfall im Februar 2022 verkündeten »Zeitenwende« ein besonders dramatisch umkämpftes Wort. Frieden sei nicht das Wichtigste, hören wir, und das Allerschlimmste sei ein Diktatfrieden, und wer den Frieden wolle, müsse den Krieg vorbereiten, und so seien also Aufrüstung und Herstellung von Kriegstüchtigkeit Friedenskampf und die Erzeugung und Pflege von Feindbildern auch. Und in dieser Feindbildproduktion ist der russische Präsident Putin dann an einem Tag jemand, der bedenkenlos seine Atomwaffen einsetzen würde, weshalb man dringend und schnellstens aufrüsten und gar – man will es nicht glauben! – nach eigenem Atomwaffenbesitz streben müsse, und dann wieder einer, der mit seinen Atomwaffen bloß blufft, weshalb man nicht in Angststarre verfallen dürfe.

So spielen sie mit einer Waffe – und lassen dieses Spiel alltäglich in die Köpfe sickern so lange, bis der Krieg zu einer alltäglichen, irgendwie dazugehörenden und daher leichthin zu beredenden Angelegenheit wird –, von der 1945 ganze zwei Exemplare genügten, um 500.000 Menschen zu Tode zu bringen. Fünfhunderttausend. Einen Großteil davon binnen weniger Sekunden, und viele Zehntausende Weitere nach wochen-, monate-, jahre- und jahrzehntelanger quälender Strahlenkrankheit.

Den unbedingten Friedensimperativ erneuern!

Liebe Mitdenkende, Mitfühlende, auf der Ankündigung dieser unserer heutigen Versammlung an der Friedensglocke ist zu lesen, dass ich auch über die UNO-Charta reden werde. Warum?

Die Charta der Vereinten Nationen wurde am 26. Juni 1945 in San Francisco unterzeichnet. Das ist fast genau einen Monat, bevor US-Präsident Truman von Potsdam aus den Befehl zum Atombombenabwurf auf japanische Städte gab. Es ist diese schwierige Volte der Geschichte, dass sich die Sieger über den deutschen Faschismus zu ihrer weltweiten internationalen Konferenz in San Francisco schon trafen, als Japan, der Achsenpartner Deutschlands, noch nicht geschlagen war. Japan kapitulierte erst am 15. August, das endgültige Kriegsende war erst am 2. September erreicht. Die beiden Atombombenabwürfe fallen also in eine Zeit, da in San Francisco schon eine Charta beschlossen war, in der in der Präambel der Wille zum Ausdruck kam, »künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat«, und im Artikel 1 das Ziel benannt wurde, »den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren und zu diesem Zweck wirksame Kollektivmaßnahmen zu treffen, um Bedrohungen des Friedens zu verhüten und zu beseitigen, Angriffshandlungen und andere Friedensbrüche zu unterdrücken und internationale Streitigkeiten oder Situationen, die zu einem Friedensbruch führen könnten, durch friedliche Mittel nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit und des Völkerrechts zu bereinigen und beizulegen«.

Nichts, aber auch gar nichts findet sich in der Charta, womit ein unablässiges Aufrüsten, die Entwicklung von Atombomben oder gar deren Einsatz zu begründen oder zu rechtfertigen wäre. Alles in ihr ist vielmehr darauf ausgerichtet, zu verhindern, dass Kriege überhaupt entstehen können.

Nun hat sich die Welt nicht so entwickelt, dass diese Ziele bisher erreicht werden konnten. Aber ist das ein Grund, sie nun völlig vergessen zu machen? Ist mit dem bisherigen Nichtgelingen gerechtfertigt, diese Ziele ganz und gar in die Tonne der Weltgeschichte zu treten und sich aller Beschränkungen und universalen Regeln zu entledigen? Und damit die Auslöschung der Menschheit selbst zu riskieren?

Ich weiß, es gibt viele, die wollen um des lieben Friedens willen – und niemand kann ihnen dieses Wollen verdenken! –, dass man in einer Rede wie der heutigen auf scharfe, gar Klassenfragen aufrufende Argumentationen verzichte. Ich aber, der ich mich seit 50 Jahren mit dieser Frage von Krieg und Frieden befasse und 1981 als Journalist aus der DDR das erste Mal im Friedenspark von Nagasaki stand und 1985 das erste Mal in dem von Hiroshima (worauf in Hiroshima 2004 ein zweiter, nun touristischer Besuch folgte), kann das nicht. Denn die Atombombenabwürfe hatten nun einmal einen konkreten Akteur mit konkreten Weltherrschaftsinteressen, und das waren der militärisch-industrielle Komplex und die Regierung der USA, und es war der Premierminister Großbritanniens Winston Churchill, der in seinem Geschichtswerk »Der zweite Weltkrieg« die weit über den Krieg hinausreichende Bedeutung der Atombombenabwürfe so beschrieb: »[…] wir brauchten die Russen nicht mehr. […] Plötzlich schien uns das Mittel in die Hand gegeben, durch das sich nicht nur das Gemetzel im Fernen Osten gnädig abkürzen ließ – auch die Aussichten für die Zukunft Europas schienen rosiger geworden.« [2]

Die »gnädige Abkürzung« und die »rosigere Zukunft Europas« bezahlten eine halbe Million Zivilisten – überwiegend Japanerinnen und Japaner, aber auch Zehntausende aus dem damals von Japan kolonisierten Korea verschleppte Koreanerinnen und Koreaner [3] – mit dem Leben in einem Krieg zwischen den USA und Japan, in dem die USA schon zuvor mit dem konventionellen Bombenangriff auf Tokio am 9. März 1945 Zehntausende Zivilisten zu Tode gebracht hatten. – Damit hier kein Missverständnis aufkommt: Japan, mit dem faschistischen Deutschland verbündet, war der Aggressor in diesem asiatisch-pazifischen Krieg, daran gibt es nichts zu deuteln. Die Zahl der Toten aber sagt etwas über die Kriegführung: Die USA verloren im Pazifikraum 161.000 Menschen, darunter vorwiegend Soldaten; Japan verlor ungefähr 1,2 Millionen Soldaten und mehr als eine halbe Million Zivilisten. Japanische Angriffe auf das Festland der USA gab es abgesehen von einigen kleinen, für den Kriegsverlauf völlig bedeutungslosen Attacken gar nicht.

Was geschehen ist, kann wieder geschehen. Weil wir nicht wollen, dass es wieder geschieht, stehen wir hier. Und lassen uns darin nicht beirren.

Als die Welt in Trümmern lag – und es war im Sommer 1945 tatsächlich die Welt, die in Trümmern lag, nach diesem ungeheuerlichen Krieg mit seinen über 60 Millionen Toten –, war der Ruf nach Frieden so stark und so allgemein, dass es zur Vereinbarung der besagten und zitierten UNO-Charta mit ihrem unbedingten Friedensimperativ kommen konnte.

Die Menschheit braucht, will sie fortbestehen, eine Erneuerung dieses Imperativs. Und wer da meint, dies sei naiv, der stelle sich vor, die ungeheuren Finanzmittel, die derzeit in die Rüstung fließen, flössen in friedliche Mittel zur Friedenssicherung.

Lassen Sie mich Ihnen noch zwei Beobachtungen mit auf den Weg geben:

Die erste: Bundespräsident Walter Steinmeier hat am 6. August auf Facebook gepostet: »Die Welt darf niemals vergessen, was in Hiroshima und Nagasaki passiert ist. Gerade in Zeiten unverantwortlicher atomarer Rhetorik muss die internationale Staatengemeinschaft alles tun, um die Schrecken eines erneuten Atomwaffeneinsatzes zu verhindern. Das schulden wir der Menschheit.« – Vom 17. bis 20. Juni 2025 war Steinmeier in Japan. Wie gut wäre es gewesen, er hätte eine der beiden Städte auf seinem Programm gehabt. Um – zum Beispiel – mit den Bürgermeistern gemeinsam die weltweite Bewegung der Mayors for Peace zu stärken. Und warum, eigentlich, würden wir uns wundern, wenn er heute hier wäre?

Die zweite: Im Friedenspark von Nagasaki steht eine Stele der Völkerfreundschaft, gewidmet vom Friedensrat der DDR, eingeweiht von Erich Honecker bei seinem Japan-Besuch am 31. Mai 1981. Dass wir hier diese Friedensglocke haben, aufgestellt, als der Osten Berlins noch Hauptstadt der DDR gewesen ist, hat auch mit der Stele dort zu tun. Ich wünsche Ihnen, dass Sie gestärkt nach Hause gehen. 

 

Anmerkungen:

[1] Rede zum 80. Jahrestag des Atombombenabwurfes der USA auf die japanische Stadt Nagasaki am 9. August 1945, gehalten auf der Gedenkveranstaltung an der Weltfriedensglocke im Berliner Volkspark Friedrichshain am 9. August 2025.

[2] Winston Churchill, Der zweite Weltkrieg, Fischer Taschenbuch Verlag Frankfurt a. M. 2003, S. 1090. 

[3] Die Nennung der nach Japan verschleppten Koreanerinnen und Koreaner habe ich für die Druckfassung der Rede eingefügt. Für den entsprechenden Hinweis danke ich der Japanologin Prof. Dr. Steffi Richter, die sich seit Langem für die Würdigung des Schicksals dieser großen Volksgruppe einsetzt, die in Japan nach wie vor auf heftigen konservativen Widerstand stößt und daher nur selten Teil des Gedenkens an die Atombombenabwürfe von Hiroshima und Nagasaki ist. 

 

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