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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Die NATO bedroht Russland – eine Propagandalüge?

Dieter Wahl, Ahrensfelde/Eiche

 

Am 24. Februar 2022, dem Tag des russischen Ukraine-Einmarsches, war auf der CDU-Webseite des damaligen Oppositionsführers, CDU-Chefs und heutigen Bundeskanzlers Friedrich Merz zu lesen: »Putin weiß, dass die NATO ihn nicht bedroht. Die NATO bedroht niemanden.«

In einem Satz gleich zwei Unwahrheiten! Die NATO bedrohte Jugoslawien nicht nur, sondern zerbombte es unter Beteiligung der Bundeswehr ab 24. März 1999 in einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg. Und wenn Merz meint, Putin würde sich nicht von der NATO bedroht fühlen, zeigt das nur, dass er ihm wohl nie zugehört hat.

Bereits auf der 43. Münchner Sicherheitskonferenz beklagte sich der russische Präsident am 9. Februar 2007 über die raumgreifende Ausuferung der NATO. Im Frühjahr 2014 äußerte er dann wiederholt Warnungen, denn die ukrainischen Streitkräfte wurden auf moderne NATO-Standards umgerüstet. Der »Spiegel« gab Argumente wieder, die Wladimir Putin am 17. April 2014 in der Moskauer TV-Fragestunde »Direkter Draht« zu bedenken gab: »Äußerst kritisch äußerte sich Putin über die NATO-Osterweiterung. Dadurch sei Russland vom Schwarzen Meer abgedrängt worden. Zumindest in Teilen sei die Annexion der Krim eine Reaktion auf das Verhalten des westlichen Militärbündnisses. ›Wenn militärische Infrastruktur an unseren Grenzen ausgebaut wird, sind wir gezwungen zu reagieren‹, sagte der Kreml-Chef.« 

Auf der 70. Tagung der UNO-Vollversammlung in New York schlug er am 28. September 2015 dieselben Töne an. Am 21. Februar 2022, drei Tage vor seiner Invasion, warnte er in einer Fernsehansprache: »Nachdem die USA den INF-Vertrag gekündigt haben, hat das Pentagon offen zahlreiche landgestützte Angriffswaffen entwickelt, darunter ballistische Raketen, die Ziele in einer Entfernung von bis zu 5500 km treffen können ... Das ist wie ein Messer an der Kehle.«

Noch am Tag des Angriffs sprach Putin in seiner Fernsehrede zur Lage der Nation Klartext, sogar live übertragen vom ARD-ZDF-Kanal »Phoenix«: »Es geht darum, was uns besonders beunruhigt und besorgt, um diese fundamentalen Bedrohungen, die Jahr für Jahr, Schritt für Schritt grob und ungeniert von unverantwortlichen Politikern im Westen gegen unser Land gerichtet werden. Ich meine damit die Ausdehnung des NATO-Blocks nach Osten, die Annäherung seiner militärischen Infrastruktur an die Grenze Russlands.« In außergewöhnlicher Schärfe kritisierte er »trotz all unserer Proteste und Bedenken« die beabsichtigte NATO-Schlinge einer Einkreisung, die durch eine Mitgliedschaft der Ukraine perfekt wäre.

Offensichtlich hatte Friedrich Merz bei allen Putin-Erklärungen nach einem bekannten Song von Gus Backus »Bohnen in die Ohren«. Die Fakten sprechen für sich. Am 12. März 1999 begann mit Polen, Tschechien und Ungarn die erste NATO-Osterweiterung mit Ländern des ehemaligen militärischen Ostblocks in Form des Warschauer Vertrages. Es folgten am 29. März 2004 Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, die Slowakei und Slowenien. Dann am 1. April 2009 weitere Beitrittsrunden mit Albanien und Kroatien, am 5. Juni 2017 mit Montenegro und am 27. März 2020 mit Nordmazedonien. In der Warteschleife stehen Bosnien und Herzegowina, Serbien, Georgien, Armenien, Aserbaidschan, Kasachstan, Moldau – und als Chefsache die Ukraine. Mit ihrem Beitritt als 33. NATO-Staat wäre die Umzingelung Russlands perfekt. Eine von Putin als existenzielle Bedrohung wahrgenommene Expansion eines übermächtigen Militärpotenzials, mit dem der Nordatlantikpakt die Sowjetunion totgerüstet hat. Als sie am 31. Dezember 1991 starb, war das ein Trauma für den ehemaligen Geheimdienst-Offizier Putin. 

Im Zangengriff

Wie soll er sich heute entspannen, wenn er aus Deutschland unverblümte Ansagen hört, die NATO möge ihr Werk doch nun endlich zu Ende bringen mit dem Sowjet-Nachfolgestaat Russland. Beispiel, Ex-Außenminister Sigmar Gabriel in einem Interview mit dem »Stern« vom 12. Juni 2024: »Aber wir werden Russland noch einmal so niederringen müssen, wie wir das im Kalten Krieg mit der Sowjetunion gemacht haben.« Dass Putin der NATO für diese Absicht mit seinem leidvollen Krieg das Geschenk einer Steilvorlage gegeben hat und sich damit zum Aggressor stempelte, war verhängnisvoll. Daraus schlussfolgerte der CDU-Politiker Johann Wadephul, Russland werde »immer ein Feind für uns bleiben«. Und wird mit dieser Ansicht deutscher Außenminister. Damit folgt er nur seinem Bundeskanzler, dessen Regierungserklärung vom 14. Mai 2025 die »Tagesschau« vom selben Tag so zusammenfasst: »Für Merz ist akut Russland der Feind«. 

Im Dezember 2021 präsentierte der Kreml im Sinne von Gorbatschows »Haus Europa« ein Bündel von Vorschlägen für eine neue europäische Sicherheitsarchitektur, die rechtsverbindlich festgeschrieben werden sollte. Das hätte die Gewaltoption verhindern können. Nach strikter Ablehnung durch NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg wies Moskau letztmalig mit Nachdruck darauf hin, dass die Ausweitung der NATO eine beängstigende Dimension erreicht habe. Damit sei Russland im Zangengriff von 32 Ländern des Westmilitärs.

In einem am 1. Mai 2022 an US-Präsident Biden adressierten 12-Punkte-Memorandum konstatieren selbst ehemalige amerikanische Top-Geheimdienstoffiziere in Punkt 7: »Russland kann nicht mehr daran zweifeln, dass die USA und die NATO das Ziel haben, Russland zu schwächen (und wenn möglich zu beseitigen) – und dass der Westen auch glaubt, dies erreichen zu können, indem er Waffen in die Ukraine liefert und die Ukrainer zum Weiterkämpfen auffordert. Wir halten diese Ziele für illusorisch.«

Was Putin sicher auch nicht gerade ruhig schlafen lässt, sind die mit System installierten US-Militärbasen in den ehemaligen Sowjetrepubliken Georgien, Aserbaidschan, Kirgisien und Tadschikistan. Hinzu kommen Raketenrampen des »Aegis-Typs« mit angriffsfähigen Systemen in Polen und Rumänien, flankiert von britischen und kanadischen Standorten in Estland und Lettland. Militarisiert durch den NATO-Staat Türkei wurde auch das Schwarze Meer, an das Russland und die Ukraine grenzen. Hinzu kommen in Deutschland die US-Militärbase in Ramstein und das in Stuttgart ansässige EUCOM, das Europäische Militärkommando der Vereinigten Staaten. Auch die im Bundeswehr-Fliegerhorst Büchel in der Eifel gelagerten US-Atomwaffen stärken Putins Sicherheitsgefühl nicht gerade, zumal auch die NATO-Neulinge in die »atomare Garantie« einbezogen wurden.

Wortbruch und Lüge

Es ist schon erstaunlich, wie gesicherte, verbürgte Tatsachen zu Russenpropaganda umgedichtet werden. Der Präsident des deutschen Verfassungsschutzes, Thomas Haldenwang, erklärte am 22. Mai 2023 im ARD-Morgenmagazin: »Das ist all das, was man aus dem Kreml hört, der Westen habe Russland unter Druck gesetzt, der Westen wolle die NATO ausweiten. Eins zu Eins werden diese Kreml-Narrative durch die entsprechenden Gruppierungen und Teile der AfD weiterverbreitet.«

Klar ist heute zudem, dass die NATO-Osterweiterung ein Wortbruch war. Obwohl es dazu keine schriftliche Vereinbarung gibt, beweisen dies neben noch lebenden Augenzeugen dokumentierte mündliche Versprechungen hoch- und höchstrangiger Politiker des Westens. Unleugbare Zeitzeugnisse mit erdrückender Eindeutigkeit sind vor allem 30 geheime US-amerikanische, sowjetische, deutsche, britische und französische Dokumente, die am 12. Dezember 2017 vom Nationalen Sicherheitsarchiv der George Washington Universität in Washington D.C. freigegeben wurden. 

Dem Vorwurf der gefährlich ausufernden Ostexpansion begegnen die NATO-Strategen mit dem Argument der »offenen Tür«: Man könne keinem Staat verbieten, dem Bündnis freiwillig beizutreten. Dem entgegen steht das »Prinzip der gleichen Sicherheit für alle«, zementiert auch in der Gemeinsamen Erklärung von Bundeskanzler Kohl und dem sowjetischen Partei- und Staatschef Gorbatschow vom 13. Juni 1989. Darin ist in Abschnitt III formuliert: »Die Bundesrepublik und die Sowjetunion erklären, dass man eigene Sicherheit nicht auf Kosten der Sicherheit anderer gewährleisten darf.« Festgeschrieben wurde dies auch von allen europäischen Staaten sowie den USA und Kanada in der KSZE-Schlussakte und deren Verhaltenskodex zur politisch-militärischen Sicherheit vom 3. Dezember 1994. In Absatz 1, Punkt 3 heißt es: »Die KSZE-Staaten »sind nach wie vor davon überzeugt, dass Sicherheit unteilbar ist und dass die Sicherheit eines jeden von ihnen untrennbar mit der Sicherheit aller anderen verbunden ist.«

Dieser Grundsatz ist außerdem verankert sowohl in der 1999 in Istanbul angenommenen OSZE-Charta der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa als auch in der vom OSZE-Gipfel in der kasachischen Hauptstadt Astana verabschiedeten Erklärung von Astana vom 2. Dezember 2010. Darin steht: »Die Sicherheit jedes Teilnehmerstaats ist untrennbar mit der aller anderen verbunden. Jeder Teilnehmerstaat hat dasselbe Recht auf Sicherheit.«

Dieses Prinzip wurde durch eine grenzenlose NATO-Überdehnung ohne Rücksicht auf die Sicherheitsbelange anderer Staaten in eklatanter Weise verletzt. Es widerspricht zudem der »Charta von Paris für ein neues Europa« von 1990 mit dem Anspruch einer neuen Sicherheitsarchitektur.

Der nordrhein-westfälische Politiker Frank Sarfeld nannte in der »Berliner Zeitung« vom 6. September 2024 die NATO das »größte Friedensprojekt der Geschichte«. Dem widersprach der Regierungschef des NATO-Landes Ungarn. Viktor Orbán schrieb im Vorfeld des NATO-Jubiläumsgipfels vom 9. bis 11. Juli 2024 im US-Nachrichtenmagazin »Newsweek«, dass die NATO als Friedensprojekt begonnen habe. Dann wörtlich: »Doch heute steht nicht mehr Frieden auf der Agenda, sondern Krieg; statt Verteidigung geht es um Angriff. All dies widerspricht den Gründungswerten der NATO.« 

Mehr zum Thema: Dieter Wahl, Der Krieg ins Ungewisse, Band 1, Wie es zum Ukraine-Drama kam, novum Verlag München, 26. September 2024, 612 Seiten, ISBN: 978-3-99146-869-1. – Der Autor war Korrespondent des DDR-Fernsehens in Paris, Brüssel und Moskau.

 

Mehr von Dieter Wahl in den »Mitteilungen«:

2025-05: Ist der Russe unser Feind?

2025-03: Deutschland im Rezessions- und Militärmodus – und kein Aufschrei!

2024-09: Das Ukraine-Drama wäre zu verhindern gewesen