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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Die »Kriegsendphasenverbrechen« der Nazis

Ulrich Sander, Dortmund

 

»Wir machen nicht wieder den Fehler von 1918«, sagte Gestapo-Chef Müller

 

Ab Januar 1945: Gestapo-Massenmord an den »aufbauwilligen« Antifaschisten

 

In den letzten vier Monaten vor Kriegsende verschärften die Nazis noch einmal den Kurs ihrer historisch einmaligen Massenverbrechen. Sie ermordeten Zehntausende Häftlinge mittels »Todesmärschen« und Massakern, die von der Gestapo ausgeführt wurden. Im Januar 1945 wiesen Gestapoleitstellen auf Anweisung des obersten Chefs Heinrich Müller vom Berliner Reichssicherheitshauptamt die Gestapokommandos an, »umstürzlerischer Betätigung« deutscher Linker und ausländischer Arbeiter vorzubeugen per Massenerschießungen. »Die Betreffenden sind zu vernichten«. Die Gesamtzahl der Opfer der Kriegsendphase – einschließlich derer der Todesmärsche – wird auf 700.000 geschätzt.

Massenmord an den Linken

Diese Morde wie auch die Massaker in den Konzentrationslagern und auf den Todesmärschen von den KZ nach Westen entsprachen dem Nachkriegs und Überlebenskonzept des deutschen Faschismus. Gestapo-Chef Heinrich Müller erklärte der Frau von Graf Moltke: »Wir werden nicht den gleichen Fehler machen, der 1918 begangen wurde. Wir werden unsere innerdeutschen Feinde nicht am Leben lassen.« Nazigauleiter August Eigruber begründete einen Befehl, Häftlinge im KZ Mauthausen zu ermorden, mit den Worten: Die Alliierten dürften »keine aufbauwilligen Kräfte« vorfinden. Zugleich ging es darum, Zeugen der Naziverbrechen zu beseitigen. Dass die Leichen der beseitigten Zeugen dann doch auch Zeugnis von den Verbrechen ablegten, wog nicht so schwer. Die Naziverbrecher konnten sich darauf verlassen, dass der kommende Rechtsstaat die Einzelfallprüfung vornehmen würde. Somit genügte es nicht, der Mörderbande angehört zu haben, man musste auch beim Morden von Zeugen gesehen worden sein, und diese Zeugen waren dann nicht mehr am Leben.

Konservative Politiker und Wirtschaftsführer, die keine systemverändernden Aktivitäten erwarten ließen, wurden hingegen geschont und geschützt. Mit ihnen diskutierte man sogar ein Thema, das anzuschneiden für alle übrigen Deutschen den Kopf kostete: Wie soll es weitergehen nach dem verlorenen Krieg?

Schon am 10. August 1944, gleichzeitig mit den Massenverhaftungen im Rahmen der Aktion »Gitter« und den Massenhinrichtungen im Gefolge des 20. Juli 1944, fand laut US-Geheimdienstberichten im Straßburger Hotel Maison ein Geheimtreffen [Siehe die hinten angegebenen Quellen.] von Vertretern der SS und großer Konzerne statt. Repräsentanten des »Freundeskreises SS« aus Firmen wie Krupp, IG Farben, Messerschmidt, Siemens, Daimler Benz, AEG, Flick AG, Dr. Oetker, Wintershall/Quandt und Bosch schufen einen Fonds, der das Überleben der deutschen multinationalen Unternehmen wie auch vieler SS-Führer, ja sogar ganzer NS-Strukturen, sichern sollte. Gestapo-Müller beispielsweise wurde aufgrund dieser Verabredung im Ausland versteckt und nie gefasst. Und nicht nur die genannten Unternehmen, auch das von ihnen repräsentierte Wirtschaftssystem, überlebten.

An der Beantwortung der Frage »Wie weiter nach dem Kriegsende ohne Endsieg?« arbeiteten bereits seit der Wende im Krieg gegen die Sowjetunion Experten der Wirtschaftspolitik. Wilhelm Zangen, Chef von Mannesmann und der »Reichsgruppe Industrie«, erörterte diese Frage mit SS-Brigadeführer Otto Ohlendorf, der sowohl Staatssekretär im Reichswirtschaftsministerium als auch Chef des Sicherheitsdienstes Inland der SS war. Es ging um den Fortbestand des Kapitalismus und um die Wiedererlangung der Vormacht Deutschlands in Europa. Die »Reichsgruppe Industrie« hatte ein »Institut für Industrieforschung« geschaffen, dem der spätere westdeutsche Wirtschaftsminister und Bundeskanzler Ludwig Erhard vorstand. In Erhards Denkschriften für Zangen und Ohlendorf, ging es um die »Aufrechterhaltung der sozialwirtschaftlichen Ordnung«.

Die Wirtschaft im NS-Regime nimmt am Terror teil

Die Historikerin Dr. Gabriele Lotfi hat mit ihrem Buch »KZ der Gestapo – Arbeitserziehungslager im Dritten Reich« sensationelle neue Informationen über einen bisher nicht erforschten Zweig des NS-Terrorsystems vorgelegt und zudem noch die Mittäterschaft, ja sogar die Initiative der deutschen Industrie beim Vorgehen gegen deutsche und ausländische Arbeiterinnen und Arbeiter nachgewiesen.

Die deutsche Industrie hat sich in der Nazizeit schwerster Verbrechen an in und ausländischen Arbeiterinnen und Arbeitern schuldig gemacht. In 200 Arbeitserziehungslagern und anderen Folterstätten, die in Komplizenschaft mit örtlichen SS und Gestapostellen geschaffen wurden, hat »die deutsche Wirtschaft« während der Kriegszeit ständig rund 40.000 Arbeiter unter grausamsten Bedingungen für viele Wochen eingepfercht. Der Industrie, so wird in der Untersuchung festgestellt, lag an einer »raschen und effektiven Bestrafung« von, wie es im Nazi-Jargon hieß, »Arbeitsvertragsbrüchigen«. Sie war daher bereit, in Zusammenarbeit mit der örtlichen und der regionalen Gestapo die Arbeitserziehungslager zu finanzieren und sogar Wachpersonal dafür bereitzustellen.

Tausende Opfer wurden ermordet, besonders viele Tote wurden in den letzten Kriegsmonaten gezählt, da die Gestapo einen Arbeiteraufstand und »einen Dolchstoß« befürchtete.

Der Nero-Befehl wird zurückgenommen, der Mordbefehl gegen Zwangsarbeiter und Kommunisten nicht

Gegen die deutschen und ausländischen Aktiven der Arbeiterbewegung handelten Wirtschaft und Nazis gemeinsam. Dissens gab es in der Frage, ob die ökonomischen Werte dem Feind in die Hände fallen sollten. Industrielle, die Mitglieder des Freundeskreises der SS waren, erreichten es, dass Hitler seinen »Nero«Befehl zur Zerstörung aller Industriebetriebe, Vorräte und Verkehrswege zurücknahm, den er am 19. März 1945 erlassen hatte. Nichts von Wert sollte dem Feind in die Hände fallen. Jedoch: Industrielle wirkten über den Rüstungsminister Albert Speer auf Hitler ein, der einen neuen Führerbefehl erließ. Joachim Fest, der Hitler- und Speer-Biograph schilderte die entscheidende Begegnung Speers mit Hitler so: »April 1945 in der Reichskanzlei. Speer, Architekt und Rüstungsminister, war längst geflohen. Er kehrt noch einmal in die Hauptstadt zurück, obwohl die Alliierten Berlin fast eingenommen hatten und der Minister gegen zahlreiche Anordnungen Hitlers verstoßen hatte. Mit belegter Stimme habe Speer dem Führer seine Befehlsverweigerungen gestanden. Hitler behielt nur mühsam die Fassung.« (WAZ, 29. Januar 2000) Aber Hitler hörte auf Speer und seine industriellen Hintermänner! Während die Massenexekutionen an den Arbeiterfunktionären noch anhielten, erreichten Generalfeldmarschall Walter Model am 5. April 1945 Anweisungen über die »Aufrechterhaltung der Industrie« an der Ruhr. Das war das Ende des Nero-Befehls und es war wie einst im Frühjahr 1933: Die Nazis vernichten die Funktionäre der Arbeiterbewegung und erhalten den Segen der Industrie.

Otto Ohlendorf wurde dann noch Wirtschaftsminister in der sogenannten Dönitz-Regierung in Flensburg. In dieser Eigenschaft beriet er sich noch zehn Tage nach Kriegsende mit Vertretern des westalliierten obersten Hauptquartiers, um eine »explosive Entwicklung« zu verhindern. (Vor allem diente die Dönitz-Regierung dem Ziel, die Westalliierten und die Wehrmacht zusammenzufassen, um so gegen die Sowjetunion vorzugehen. Ein Konzept, das dann erst mit der Gründung der NATO Gestalt annahm.) 1951 wurde Otto Ohlendorf hingerichtet; er hatte neben seinen vielen Nazifunktionen auch die des Kommandeurs einer SS-Einsatzgruppe inne, die im Osten 90.000 jüdische Menschen ermordete. Als er hingerichtet werden sollte, protestierte die Bundesregierung bei den Amerikanern erfolglos dagegen. Sie wollte den Partner Erhards retten. Doch Ohlendorf machte einen Fehler: Er hielt sich nicht an das geheime Agreement, die Wehrmacht zu schützen, sondern er sagte aus, neben der SS habe die Wehrmacht am Holocaust mitgewirkt. Als Ohlendorf starb, war sein Berater Erhard schon dabei, »Vater des Wirtschaftswunders« zu werden.

Was in und um Dortmund geschah

Die »Kriegsendphasenverbrechen« sind besonders in Dortmund gründlich erforscht worden. Der Ablauf: Anfang Januar 1945 erhielt auch die Dortmunder Gestapo den Befehl des Reichssicherheitshauptamtes, der zum Massenmord an politischen Gegnern der Nazis und an Zwangsarbeitern führte. Am 9. Februar 1945 begannen die Massenverhaftungen. Im März und April 1945 wurden in der Dortmunder Bittermark und im Rombergpark bis kurz vor dem Einmarsch der Amerikaner am 12. April dann mindestens 289 Antifaschisten von der Gestapo ermordet.

Angefangenen hatte die Aktion am 24. Januar 1945 um 22:05 Uhr. Da spuckte der Ticker der Geheimen Staatspolizei in der Benninghofer Straße in Hörde die folgenschwere Nachricht aus. SS-Standartenführer Dr. Walther Albath, Chef der Sicherheitspolizei und des SD, funkte aus Düsseldorf: »Die gegenwärtige Gesamtlage wird Elemente unter den ausländischen Arbeitern und auch ehemalige deutsche Kommunisten veranlassen, sich umstürzlerisch zu betätigen.« Und weiter: »Es ist in allen sich zeigenden Fällen sofort zuzuschlagen. Die Betreffenden sind zu vernichten, ohne im formellen Weg vorher beim RSHA Sonderbehandlung zu beantragen.«

Das war der Freibrief zum Mord, der den örtlichen Gestapo-Leuten ausgestellt wurde. Die knappen Zeilen enthielten alles, was die Gestapo für die nun folgenden Gewalttaten brauchte: Die Warnung vor einem kommunistischen Umsturz und die Vollmacht, ohne einen Antrag in Berlin oder bei einem Gericht Menschen umbringen zu können. Die Namen der Opfer, soweit es nicht »auffällige« Ausländer waren, hatte die Gestapo in ihren Karteien und Akten gesammelt: Widerstandskämpfer, die in der Zeit seit 1933 bereits einmal inhaftiert waren und von denen ein antifaschistisches und antikapitalistisches Nachkriegsengagement zu erwarten war, und in Berichten von Spitzeln benannte Personen.

Der Dortmunder Polizeihistoriker Alexander Primavesi berichtete darüber in den »Ruhrnachrichten« vom 31. März 1994: »Hochmotiviert durch das Schreiben aus Düsseldorf brachten die Gestapo-Beamten in den Wochen vor Ostern immer mehr Menschen in die Zellen der Steinwache und des Gestapo-Kellers in der Benninghofer Straße. Zwangsarbeiter aus dem gesamten Bereich des Regierungsbezirkes Arnsberg, Holländer, Belgier, Franzosen, Polen, Jugoslawen und Russen, verschleppten die Gestapo-Beamten zu einem Lager im Bereich der Hütten-Union in Dortmund-Hörde. Von jeder Verantwortung gegenüber einer höheren Stelle entbunden, folterten die Beamten hemmungslos, um weitere ›umstürzlerische Elemente‹ aufzuspüren.«

Am 7. März begann dann die Aktion Rombergpark. Nachts, gegen Morgen, erschienen die Gestapo-Leute mit Namenslisten in den Kellern. Jeweils rund 20 Gefangene wurden aufgerufen und auf Lastwagen gezerrt, die zum Rombergpark oder zur Bittermark rollten. Zwei oder drei Beamte mit Hunden kamen mit, um sicherzustellen, dass niemand bei den Erschießungen zusah. Auf einem Acker, einer Wiese oder an einem Bombentrichter wurden die Gefangenen dann durch Genickschuss ermordet.

Nicht nur aus dem Gestapo-Gefängnis wurden die Unglücklichen abgeholt. Die Stahlindustriellen im Ruhrgebiet hatten eigene »Auffanglager« geschaffen, um sich entlaufene und wieder eingefangene Arbeitssklaven vornehmlich für die Trümmerbeseitigung zu sichern. Erst nach dem Jahr 2010 entdeckten Dortmunder VVN-Leute das »Auffanglager« des Kriegsverbrechers Albert Vögler am Emschertor des ehemaligen Dortmund-Hörder Hüttenvereins. Es bot sich ein grausiges Bild eines fenster- und fast luftlosen Kellers von 180 Quadratmetern Größe für 70 Personen, vornehmlich Russen. Werkseigene Aufseher hatten die Gefangenen gequält, und vierzehn Tage vor Eintreffen der Amerikaner hatten sie die letzte Belegung von mindestens 70 Gefangenen zur Exekution der Gestapo übergeben.

Noch am 12. April 1945, als die Amerikaner schon in Dorstfeld im Norden Dortmunds standen, erschoss die Gestapo Widerstandskämpfer auf den Bahngleisen in der Nähe des evangelischen Friedhofes in Hörde im Süden der Stadt.

Primavesi: »Es war der wahnwitzige Vorsatz, niemanden aus den Reihen der politischen Gegner am Leben zu lassen, damit sie nach dem Zusammenbruch nicht führende Positionen besetzen konnten, der die Gestapo zu dieser letzten Abrechnung bewegte. Bereits Tage vor den Erschießungen verteilten die GestapoBeamten die Wertsachen der Opfer unter sich, danach betranken sie sich bis zum Umfallen.«

Von dem etwa 150köpfigen Exekutionskommando der Gestapo, das nach Ostern 1945 über Hemer und Iserlohn in alle Welt flüchtete, kamen 1951 und 1952 27 Mörder in Dortmund vor Gericht. 15 Angeklagte wurden freigesprochen. Niemand wurde wegen Mordes verurteilt, sondern allenfalls wegen Beihilfe zur Tötung. Die zwölf verurteilten Gestapo-Leute erhielten zwischen zwei und sechs Jahren Gefängnis. Die höchste Strafe von zehn Jahren erhielt ein ehemaliger KPD-Mann und KZ-Häftling, der als Spitzel einige Dortmunder Kameraden aufgespürt und verraten, jedoch nicht mitgeschossen haben soll.

Die Mörder waren »unter uns« – Aus den Akten der Dortmunder Polizei

Über Gauleiter Albert Hoffmann wurde nach dem Krieg bekannt, er habe den Nero-Befehl Hitlers zur »Verbrannten Erde« auch in Deutschland bedingungslos ausführen wollen. Das Industriegebiet, so die Weisung aus dem Führerbunker in Berlin, sei dem Feind nur zerstört zu hinterlassen. Gauleiter Hoffmann entschied sich, das Problem »Zwangsarbeiter« zusammen mit dem Befehl »Verbrannte Erde« zu lösen. Am 26. März 1945 befahl er, 23.000 ausländische Zwangsarbeiter und 7.000 Kriegsgefangene im Bereich der Polizeibehörde Dortmund in verschiedene Zechen zu bringen und die Stollen zu fluten. Mehrere Polizeibeamte und der Direktor der Gelsenkirchener Bergwerks-AG, Haake, hielten sich später zugute, den Befehl des Gauleiters nicht ausgeführt zu haben. Diese »Befehlsverweigerung« kann aber auch ihre Ursache darin gehabt haben, dass die Industrie ohnehin Hitlers Nero-Befehl, der die Zerstörung ihrer Produktionsstätten vorsah, ablehnte und wie oben geschildert über Rüstungsminister Speer eine Rücknahme des Befehls durchsetzte.

Freispruch für Massenmörder

Von einem Nachkriegsgericht dennoch freigesprochen wurde Gauleiter Albert Hoffmann, und nicht vor dem Gericht in Dortmund stand SS-Führer Dr. Walther Albath. Albath starb 1989 im gesegneten Alter von 85 Jahren in Dortmund. Was aus den Angeklagten im Fall Rombergpark wurde, ob sie ihre lächerlich geringen Strafen abgesessen haben? Das ist nicht zu vermuten. Die Gestapobeamten waren vielfach nach 1945 wieder in ihre Funktionen als Kriminalbeamte zurückgekehrt. Primavesi schreibt: »Laut Anweisung der Militärbehörden wurden alle Gestapobeamten als Mitglieder einer ›verbrecherischen Organisation‹ grundsätzlich für 18 Monate inhaftiert. Die Dauer war von den Alliierten mit Bedacht gewählt: Ab einer Haftzeit von zwei Jahren hätten die Beamten später nicht wieder eingestellt werden können und alle Pensionsansprüche verloren.« Als dann der Rombergparkprozess vorbereitet wurde, kam es zu grotesken Situationen: Einige Polizeibeamte, die die Vernehmungen durchführten, hatten genauso viele Straftaten begangen, wie die von ihnen vernommenen Angeklagten. Entsprechend dünn waren die Ergebnisse der Verhöre.

Sonja Zekri fällt in den bürgerlichen »Ruhrnachrichten« vom 1. April 1994 ein vernichtendes Urteil über die »Entnazifizierung«: »Die Zeit arbeitete für die Gestapo, Mit der neuen Kluft zwischen West und Ost verloren die englischen Alliierten spürbar das Interesse an einer Aburteilung. Schließlich sollten die Beamten den neuen deutschen Staat, der als Puffer gegen den Kommunismus funktionierte, stabilisieren. Ein erheblicher Teil der Gestapo-Beamten wurde später wieder bei der Dortmunder Polizei eingestellt.« So wurde ein Dr. Braschwitz 1957 zum stellvertretenden Leiter der Dortmunder Kriminalpolizei berufen. Braschwitz war in der Zentrale des SS-Führers Himmler, dem Reichssicherheitshauptamt, als Sachbearbeiter für die Bekämpfung des Kommunismus tätig.

In den 50er und 60er Jahren waren viele alte Nazis wieder in Amt und Würden. Sie wurden von dort nur aus biologischen Gründen »abberufen«, nicht aus politischer Einsicht.

Forschungsarbeit des Internationalen Rombergpark-Komitees

Bereits bei der Buchpräsentation mussten wir feststellen, dass mit der Herausgabe von »Mörderisches Finale« die Arbeit an diesem Thema nicht abgeschlossen ist. So wurden uns Massaker am Kriegsende aus vielen Gegenden gemeldet. Die genaue Zahl der »Tatorte« wird nicht zu ermitteln sein.

Vor allem erhielten wir wichtige Neuigkeiten aus Frankreich und Russland. Frederic Scamps aus Hyeres/Frankreich hat uns geschrieben und uns um Auskünfte über seinen Großvater Léon Chadirac gebeten, der im Frühjahr 1945 in Lippstadt Zwangsarbeit verrichten musste und dann in der Bittermark/Rombergpark ermordet wurde. Die Familie dankte für die Hilfe des Internationalen Rombergpark-Komitees bei der Beschaffung von Informationen über ihren Vater, und die Tochter sagte: »Einige meiner Mitbürger waren 1945 so boshaft, und die Geschehnisse waren allen so unklar, dass meine Mutter sich damals in Schweigen gehüllt hat.« Léon Chadirac, das wisse sie nun, habe »den Kopf oben behalten und gehandelt, während andere den Kopf hängen ließen und nichts taten.« Er habe »immer sein Bestes mit Großmut und Menschlichkeit gegeben. Dieses Engagement hat er sehr teuer bezahlt. Seine Enkelkinder können stolz auf ihn sein, und er wird ihnen als Vorbild dienen. Sein Beispiel zeigt, dass man auch im Kleinen dem Frieden dienen kann.«

Erstmals seit langer Zeit war auch das Russische Komitee der Kriegsveteranen wieder mit einem Delegierten hier vertreten, und zwar mit Wladimir Gall (1919 2011). Er hat 1945 an der Befreiung Deutschlands vom Faschismus teilgenommen; unvergessen ist seine Befreiungstat an der Spandauer Zitadelle, die er gemeinsam mit dem späteren Filmregisseur Konrad Wolf (»Ich war neunzehn«) und einem weiteren Offizier ausführte, um Hunderten Zivilisten das Leben zu retten. Hier haben wir es mit der Verhinderung eines Kriegsendphasenverbrechens zu tun, und der daran mitwirkte, ist dann mit 89 Jahren Mitglied des Internationalen Rombergpark-Komitees geworden.

Die Bitte der Verwandten von Léon Chadirac um Recherchehilfen brachte uns auf eine Spur zu einer deutschfranzösischen Widerstandsgruppe, die ansatzweise ein gesamteuropäisches Friedenskonzept für die Nachkriegszeit besaß. Dies erfuhren wir aus dem Bundesarchiv in Berlin: Zu den Opfern der Karfreitagmorde gehörten auch die deutschen Arbeiter Fritz Sprink, Franz Engelhardt, Stefan Freitag, Albert Klar und ihre französischen Kollegen, die Zwangsarbeiter Robert Vanderyssen, Robert Deyredk und der schon genannte Léon Chadirac. Und sie alle gehören zu den nahezu 300 Ermordeten aus der Bittermark und dem Rombergpark vom Frühjahr 1945. Sie unterschieden sich von den anderen Opfern dadurch, dass gegen sie eine Anklage vor dem Volksgerichtshof in Berlin erhoben worden ist. Die Anklageschrift stammt vom 22. März 1945; an diesem Tag waren die angeklagten Arbeiter aus Lippstadt noch in Herne in Untersuchungshaft. Danach wurden sie nach Dortmund gebracht, ihr genauer Todestag ist nicht bekannt.

Die Entdeckung einer deutschfranzösischen Widerstandsgruppe

Die Anklageschrift des »Oberreichsanwalts beim Volksgerichtshof« wurde jetzt von uns im Bundesarchiv entdeckt (Aktenzeichen 9 J 29/45 Bez. 6), nachdem bereits Lore Junge in ihrem Buch »Mit Stacheldraht gefesselt« aus DDR-Quellen aus der Anklageschrift zitiert hat.

Über den 1911 geborenen Kesselschmied Léon Chadirac aus St. Amandles-Eaux heißt es in der jetzt aufgefundenen Anklageschrift, er sei im Mai 1940 in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten und nach »verschiedenartiger anderer Verwendung« im Mai 1942 der Firma Westfälische Union AG in Lippstadt zugeteilt worden. In Frankreich habe er während der Volksfrontregierung Leon Blum sozialistische und kommunistische Versammlungen besucht. In Lippstadt hätten die Angeklagten sich auf der Grundlage »feindlicher Hetzsendungen« politisch abgestimmt, der »Grundton der Gespräche war kommunistisch«.

Die Gruppe wurde »der Feindbegünstigung und der Vorbereitung zum Hochverrat, der Wehrkraftzersetzung und des Rundfunkverbrechens« angeklagt; zu einem Verfahren kam es nicht mehr. Im Falle von Léon Chadirac wurde die Anklage von der Berliner Reichsanwaltschaft und von der Gestapo Dortmund so begründet: »Der Angeschuldigte Chadirac beschäftigte sich im Gespräch mit den Verhältnissen der deutschen und französischen Arbeiter und wünschte für sie den Kommunismus herbei. Er trat für ein Pan-Europa mit Einschluß Sowjetrußlands ein. (...) Die von den Angeschuldigten gebildete Gruppe wurde im Werk allgemein als Unruheherd empfunden, von dem alle möglichen alarmierenden Gerüchte ausgingen. (...) Als Urheber der Gerüchte galt vornehmlich der Angeschuldigte Sprink. Die Mitangeschuldigten Vanderyssen und Chadirac beteiligten sich aber ebenfalls an der Verbreitung der feindlichen Nachrichten.« Die Anklageschrift lässt den Schluss zu, dass die deutschfranzösische Widerstandsgruppe eine politische Plattform hatte und sie auch mit Flugzetteln – die Anklageschrift spricht vom »Hetzgedicht« – an die Kollegen herantraten.

Noch 1952 wurden NS-Gesetze angewandt

Angesichts der Platzierung von Nazis in allen Ämtern in jener Zeit wundert es nicht, einen solchen Brief in dem Archiv der VVN zu finden, mit dem die Stadt Dortmund der VVN Dortmund am 12. September 1952 eine Gedenkfeier vor dem Forsthaus im Rombergpark zu »Ehren der Opfer der blutigen Karfreitags 1945« mit den Auflagen genehmigte, keinen geschlossenen An- und Abmarsch vorzunehmen, auf das Zeigen von FDJ-Emblemen zu verzichten, keine »hoch und landesverräterischen« Inhalte zu zeigen, in Reden nicht gegen Gesetze zu verstoßen, in Straßen keine Zettel zu kleben – und dies alles gemäß Kontrollratsgesetz, Grundgesetz und »§1 Abs. 2 der Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutze des deutschen Volkes vom 4.2.1933«. Es war der erste Terrorbefehl Hitlers, der da 1952 von den Behörden angewendet wurde.

Suche nach den Tätern

Zu den Tätern gehören nicht nur Juristen und Polizisten. Ab Januar 1997 veranstaltet die VVN-BdA jährlich Informationstreffen aus Anlass des Jahrestages der Machtübertragung an Hitler. Sie belegte die Tatsache, dass 1933 auch Dortmunder Industrielle an der Machtübertragung mitwirkten und später von der Rüstung, dem Krieg und der Ausbeutung von Zwangsarbeitern profitierten. Deshalb forderten wir, die Springorum-Straße in Paul-Mainusch-Straße umzubenennen. (Mainusch war einer der Ermordeten.) An dieser Thematik sind wir drangeblieben. Am 7. Januar 2008 erklärten nun Mitglieder der VVNBdA und des IRPK bei einer Mahnwache vorm Gelände der ehemaligen Springorum-Villa: »Hier, im Haus des Fabrikanten und Hoesch-Stahlkonzernchefs Friedrich Springorum in der Dortmunder Hainallee trafen sich am 7. Januar 1933 Franz von Papen und führende RuhrIndustrielle – die Ruhrlade –, um über eine Regierungsbildung aus Nationalsozialisten und Rechtskonservativen zu beraten. In einem Gespräch wurde die Weichenstellung für Hitlers Ernennung zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 erörtert und die Voraussetzungen für die menschenverachtende Diktatur der Nationalsozialisten geschaffen. Franz von Papen kam von einem Treffen mit dem Privatbankier Kurt von Schröder und dem NS-Führer Adolf Hitler in Köln. Viele Ruhrindustrielle unterstützten bereits vor 1933 die Ziele des Nationalsozialismus und organisierten nach 1933 finanzielle Leistungen der deutschen Wirtschaft an die SS.« Gefordert wurde, die Stadt solle ein Schild anbringen, auf dem über das Geschehen vom Januar 1933 berichtet wird.

Seit vielen Jahren weisen wir in Aktionen darauf hin, dass Tausende Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter in Dortmunder Betrieben, vor allem den Zechen und Stahlwerken, im Krieg Sklavenarbeit leisten mussten. Wir treten für ihre Entschädigung ein. Die VVN-BdA forderte vergeblich Denkmalschutz für das Lagergelände des ehemaligen Auffanglagers der Stahlindustrie und der Gestapo an der Hermannstraße/Hoesch-Emschertor in Hörde. Von hier sind 1945 viele Opfer zur Erschießung in die Bittermark gebracht worden, darunter zwei Essener Jüdinnen und viele Russinnen. Wir bekamen die Zusicherung, dass ein Gedenkort an der Hermannstraße auch dann entsteht, wenn dort der Phoenix-See geflutet wird. Wir werden aufpassen müssen, dass es geschieht. Im Jahr 2007 wurde erreicht, dass vor der Westfalenhalle ein Gedenkstein errichtet wurde, der an die Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen erinnert, die im Stalag VI D in der Westfalenhalle und ihrer Umgebung eingekerkert waren.

Die Verbindung zu Frankreich, die neu entsteht, freut uns sehr. Am 25. Februar 2008 lasen wir in der Westfälischen Rundschau, dass der damalige NRW-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU) in Frankreich weilte, um in Mont Valerien die Kämpfer der Rèsistance zu ehren. Anwesend war auch der damalige Staatspräsident Nicolas Sarkozy. Dieser setzte damit die Ehrungen für die Widerstandskämpfer fort. So die Ehrung für den 1941 erschossenen französischen jungen Kommunisten und antifaschistischen Widerstandskämpfer Guy Móquet. In seinem Abschiedsbrief hat er geschrieben: »17 ½ Jahre, mein Leben ist kurz gewesen, aber ich bereue nichts, außer, dass ich Euch verlassen muß.« Präsident Nicolas Sarkozy hat, nachdem ihm eine Schülerin diesen Brief vorgelesen hatte, angeordnet, dass der Brief des jungen Guy Móquet jedes Jahr in allen Schulen bei Schuljahresbeginn vorgelesen wird. Etwas Vergleichbares hat es in unserem Land nicht gegeben.

Gesucht werden auch: Verantwortliche für Verbrechen der Wirtschaft in der Nazizeit

Vor einigen Jahren hat die VVN-BdA – nach der Herausgabe von »Mörderisches Finale« ein weiteres Projekt eingeleitet: »Verbrechen der Wirtschaft 1933–1945«. Es geht um das Zusammentragen von Berichten aus den Städten, in denen die Täter in Gestalt der Wehrwirtschaftsführer wirkten. Das Zusammentragen geschieht in Form einer Rallye durch NRW.

Das Projekt ist nicht abgeschlossen. Das Anliegen besteht darin, ganz konkret aufzuzeigen, wie die Herren des großen Geldes den Faschismus förderten und am Faschismus und am Krieg verdienten, ohne nach 1945 dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden. Vielfach machten sie weiter – so im Rüstungsgeschäft. Dies spielt in der Erinnerungsarbeit eine zu geringe Rolle. Während die Stolpersteine an die Opfer erinnern, gibt es zu wenige Zeichen der Mahnung und Warnung im Umgang mit den Tätern aus dem Kreis der ökonomischen Eliten.

Wir haben Homepages eingerichtet und sehen interessierten Nachfragen und Beiträgen aus der Leserschaft entgegen: www.verbrechen-der-wirtschaft.de (für die Zeit bis März 2018) und nrw.vvnbda.de/category/verbrechen-der-wirtschaft.

Ulrich Sander, Geschichtskommission der VVNBdA NRW,

Marktstraße 165, 46045 Oberhausen, vvn-bda-nrw@mailbox.org.

 

Quellen:

Das Internationale Rombergpark-Komitee hat das Buch »Mord im Rombergpark« als Tatsachenbericht über jene Zeit herausgegeben. Ein weiteres Buch zu diesem Thema »Mit Stacheldraht gefesselt. Die Rombergparkmorde. Opfer und Täter« von Lore Junge erschien im Ruhr-Echo-Verlag 1999. Weitere Literatur, die obiger Darstellung zugrunde lag: Artikelserie »Geschichte der Dortmunder Gestapo« (aus der Forschungsarbeit Alexander Primavesis) in »Ruhrnachrichten«, März/April 1994, letzte Folge 1. April 1994. – Gespräch Ulrich Sanders mit Kriminalhauptmeister a.D. Alexander Primavesi (19261996) in: Neues Deutschland, 23. 10. 1995. – Vortrag von Dr. Klaus Drobisch (Berlin), gehalten am 16. April 1981 in Dortmund, zum Thema: »Amoklauf oder gezielter Mord? Zu den Hintergründen der Dortmunder Massenverbrechen im Frühjahr 1945« (als Manuskript gedruckt) – Prof. Dr. Dietrich Eichholtz: »Hitlers ›Nerobefehl‹«, Neues Deutschland, 18./19. März 1995. – Heinz Bergschicker »Deutsche Chronik 19331945«, Verlag der Nation Berlin 1982, zum Treffen in Straßburg im August 1944. Andere Quelle: »Der Banditenschatz« von Julius Mader, Deutscher Militärverlag, Berlin 1966, Seite 9 ff. – Ulrich Sander u.a.: »Von Arisierung bis Zwangsarbeit – Verbrechen der Wirtschaft an Rhein und Ruhr«, 2012 Papy Rossa, Köln, 16,90 Euro.

 

Mehr von Ulrich Sander in den »Mitteilungen«: 

2016-09: Gegen alle Linken

2012-10: Der Kampf der Bundeswehr im Landesinneren