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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Deutschland am internationalen Tag der Menschen mit Behinderungen

Moritz Hieronymi, Peking

 

Das Leben, in all seinen Erscheinungsformen, kennt keine Norm. Normalität und die Abweichung davon sind immer nur Blickwinkel gesellschaftlicher Konventionen. Ein Mensch wird geboren und mit seiner Geburt an medizinischen, sozialen, kulturellen und religiösen Indikatoren gemessen. »Sich im Rahmen befinden«, bietet den Schutz einer anonymen Normalität. Auf die Abweichung folgt die Einpassung und, sollte diese misslingen, der Ausschluss. 

Wie sehr dieser Prozess Betroffene und Angehörige zu Objekten des Geschehens macht und wie kräftezehrend die Rückgewinnung von Selbstbestimmung ist, beschrieb die DDR-Theaterwissenschaftlerin Roswitha Geppert eindrucksvoll in ihrem 1978 erschienenen Roman »Die Last, die Du nicht trägst«. Darin schildert die Leipziger Autorin das Schicksal einer Mutter, deren neugeborenes Kind infolge einer Immunerkrankung an Entwicklungsverzögerungen und einer geistigen Behinderung leidet. Entgegen ärztlichen Empfehlungen weigert sich die Mutter, ihren Sohn in einem Heim unterzubringen, und will ihn stattdessen wie jedes andere Kind aufziehen. Schonungslos beschreibt Geppert, wie die Mutter an den teils voreingenommenen Hürden der DDR-Gesundheits- und Sozialamtsbürokratie zu verzweifeln droht.

Diese gesellschaftliche Blindstelle stand im Zentrum von Gepperts Werk. In der Rückschau besteht ihre große Leistung nicht – wie heutzutage teils umgedeutet wird – in einer Fundamentalkritik an der DDR, sondern vor allem in der Enttabuisierung des Themas Kinder mit Behinderungen. Insbesondere das Schicksal geistig-behinderter Kinder, die Sorgen der Eltern und die rauen sozialen Realitäten wurden in diesem Roman ausdrucksstark und bewegend dargestellt und bilden zugleich ein Epochenbild beider deutscher Staaten.

Denn diese Problematik war keineswegs auf die DDR beschränkt. Auch die Versorgungslage für Menschen mit Behinderungen in Westdeutschland der 1970er Jahre stimmte längst nicht mit dem vielbeschworenen Würdebegriff des Grundgesetzes überein. Vielmehr lag der faschistische Geist vom unwerten Leben weiterhin drückend in der Luft. Beispielhaft hierfür ist ein Urteil des Frankfurter Zivilgerichts aus dem Jahr 1980, das eine Gruppe behinderter Kinder in einem Freizeitpark als Beeinträchtigung anderer Besucher einstufte und eine Minderung des Eintrittspreises rechtfertigte. Zwar kratzte dieses Urteil, das nur wenige Monate vor der Ausrufung des ersten Internationalen Tages für Behinderte durch die Vereinten Nationen erging, am Saubermann-Image der BRD, dennoch stellte es im internationalen Vergleich keine Besonderheit dar.

Behinderung – eine internationale Angelegenheit 

Zwar war das eugenische Denken überwunden, dennoch fand allerorts die Objektivierung von Menschen mit Behinderungen statt. Behinderungen galten gemeinhin als medizinische Angelegenheit, auf die mit Heilung, Behandlung, Pflege und Schutz reagiert wurde. Obwohl die Behindertenpraxis, trotz aller Negativbeispiele, auch von gutem Willen und nach den Regeln der ärztlichen Kunst getragen wurde, wurde die mit dem medizinischen Modell einhergehende systematische Ausgrenzung ignoriert. Wo früher Behinderte versteckt worden waren, übernahmen nun Sondereinrichtungen teilweise menschenunwürdige Verwahrungsaufgaben.

Damit zeigte sich der Glutkern des Problems: Zwar bestand die Schlussfolgerung aus der Nazi-Tyrannei in einer unzweifelhaften Verbesserung der Lage von Behinderten durch medizinische Betreuung, doch die sozialen Möglichkeiten blieben faktisch unverändert. Weiterhin war der Arbeitsmarkt verschlossen, weiterhin war der öffentliche Raum nicht barrierefrei, weiterhin war das Bildungswesen zu sehr generalisiert.

Erst in den 1970er Jahren entwickelte sich eine größere Behindertenbewegung, wodurch auch auf internationaler Ebene die Diskussion um den spezifisch menschenrechtlichen Schutz von Behinderten begann. Das Normalisierungsprinzip sollte eine gesellschaftliche Akzeptanz jenseits medizinischer Unterstützungsangebote anregen. Erstmalig standen alternative Hilfeangebote wie Wohngruppen, ambulante Betreuungsformen und konkrete Anreizmodelle zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt zur Debatte. 

Auch die Vereinten Nationen reagierten auf den veränderten Zeitgeist. So erklärten sie das Jahr 1981 zum Jahr der Behinderten. In der dazugehörigen UN-Resolution heißt es zur Begründung: »Um Menschen mit Behinderungen bei ihrer körperlichen und psychischen Eingliederung in die Gesellschaft zu unterstützen.« Damit wurde im Rahmen der UN-Generalversammlungen nun erstmalig den Anliegen von Menschen mit Behinderungen Gehör geschenkt. Von 1983 bis 1993 wurde die »Dekade der behinderten Menschen« ausgerufen und ein globaler Aktionsplan gegen Behindertendiskriminierung erarbeitet. Diese Aktionsdekade endete mit der Einführung des Internationalen Tages der Behinderten am 3. Dezember. Seit 2007 trägt er den Namen: Internationaler Tag der Menschen mit Behinderungen. Schließlich beschloss die internationale Staatengemeinschaft am 13. Dezember 2006 die UN-Behindertenrechtskonvention und erkannte damit an, dass Menschen mit Behinderungen Träger von Menschenrechten sind, zu deren Schutz Staaten verpflichtet sind.

Die deutschen Realitäten: Jenseits der Inklusion 

Der damit einhergehende Paradigmenwechsel von der medizinischen Sicht auf Behinderung hin zu einer gesellschaftlichen Perspektive brachte zwar rechtliche Fortschritte, doch die praktische Umsetzung hinkt hinterher. Besonders deutlich wird dies am Förderschulsystem, das sowohl in der DDR als auch in der BRD auf die Separierung von Kindern mit Behinderungen vom Regelunterricht setzte und ein spezifisch deutsches Phänomen darstellt. Trotz zahlreicher internationaler Kritiken und Bestrebungen, die Inklusion in das Regelschulsystem zu fördern, wird das Förderschulsystem in vielen Bundesländern, etwa in Nordrhein-Westfalen, sogar weiter ausgebaut. 

Die Professorin für Sonderpädagogik, Conny Melzer, stellte hierzu ergänzend fest: »Armut, sozioökonomischer Status, also die ganzen verschiedenen Ausgangslagen, die bei uns in Deutschland durchaus zu einer Bildungsbenachteiligung führen […]« – davon seien die Schüler in Förderschulen besonders betroffen. Das zeigt sich besonders bei Kindern aus Sinti- und Roma-Familien, die statistisch gesehen doppelt so häufig Förderschulen besuchen wie Kinder aus anderen ethnischen Hintergründen.

Gleichwohl sollte eine pauschale Kritik an sonderpädagogischen Einrichtungen vermieden werden. Stattdessen ist ein differenzierter Blick auf die Realität der Inklusion und die konkrete Ausgestaltung von Sonderpädagogik erforderlich. Die zentrale Frage, wie eine adäquate Eingliederung von Menschen mit Behinderungen in die Gesellschaft gelingen kann, die zu einer vollwertigen und gleichberechtigten Teilhabe führt, bleibt auch heute unbeantwortet. Dies zeigt sich besonders deutlich an der zunehmend unzureichenden Ausstattung von Regelschulen, die den Bedürfnissen von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf nicht gerecht werden kann.

Hinzu kommt die stetig steigende Zahl von Kindern mit sonderpädagogischem Bedarf an Regelschulen bei gleichzeitig unverändert hohen Schülerzahlen an Förderschulen, die die Vermutung einer bloßen »Umetikettierung« aufkommen lässt. Es besteht der Verdacht, dass Inklusionsprogramme an allgemeinen Schulen zunehmend dafür genutzt werden, mithilfe sonderpädagogischer Extrastunden die chronische Überbelastung und die Masse an Fehlstunden zu kompensieren. Letztlich ist das System schlichtweg überlastet, was die Frage aufwirft, ob diese Programme tatsächlich eine Erfolgsgeschichte der Inklusion darstellen oder lediglich eine Umbenennung bestehender Probleme sind.

Besonders sichtbar wird diese Problematik bei Kindern mit Autismus-Spektrum-Störungen. Die Diagnose und der Umgang mit Autismus sind so komplex wie der Verlauf und die Behandlung der Störung selbst. Obwohl eine frühzeitige Therapie und sonderpädagogische Unterstützung entscheidend für den Verlauf der Erkrankung sind, fehlen bundesweit spezialisierte Kapazitäten, sodass Kinder mit Autismus an Regelschulen oft von Pädagogen betreut werden, die die Komplexität des Autismus-Spektrums nicht ausreichend verstehen können. Denn Lehrer sind keine Therapeuten, und die Einrichtungen sind weder diagnostisch noch pädagogisch darauf ausgerichtet, eine umfassende Unterstützung zu bieten.

Diese Entwicklungen werfen die grundlegende Frage auf: Was ist mit der Inklusion tatsächlich erreicht worden? Denn Inklusion ist kein einmaliger Akt oder eine Beschlusssache – sie misslingt tagtäglich, wenn etwa ein Fahrstuhl nicht funktioniert oder Brailleschrift in öffentlichen Einrichtungen fehlt. Sie misslingt, wenn Kinder mit Behinderungen in den Schulen täglich Misserfolge und Demütigungen erfahren, wenn Eltern von einem Arzt zum nächsten geschickt werden, ohne die notwendige Unterstützung zu erhalten, oder wenn ein Mensch mit Behinderung nach dem Tod seiner Eltern zum Pflegefall erklärt wird, ohne dass eine adäquate Versorgung oder Unterstützung angeboten wird.

Das Bundesverfassungsgericht: Die Richtung stimmt. 

Ein aktuelles Beispiel für die Komplexität dieser Entwicklungen zeigt das Triage-Urteil des Bundesverfassungsgerichts: In einer Krise, in der knappe Ressourcen wie auf den Intensivstationen, während der COVID-19-Pandemie verteilt werden müssen, stellte sich die Frage, ob Menschen mit Behinderungen benachteiligt werden dürfen. Das BVerfG entschied, dass Menschen mit Behinderungen in solchen Fällen nicht diskriminiert werden dürfen und dass der Staat verpflichtet ist, ihre Rechte in allen Lebensbereichen zu schützen – auch in extremen Situationen. Dieses Urteil ist ein wichtiger Schritt in der Anerkennung der Gleichwertigkeit aller Menschen, unabhängig von ihren körperlichen oder geistigen Fähigkeiten. Dennoch bleibt die Umsetzung dieser Grundsätze in der praktischen Politik und Gesellschaft eine große Herausforderung.

Der Internationale Tag der Menschen mit Behinderungen sollte weniger Anlass für Symbolpolitik sein, sondern vielmehr als Mahnung dienen: Wir sind von tatsächlicher Inklusion noch weit entfernt. Solange Inklusion als Option statt als Menschenrecht behandelt wird, bleiben Lippenbekenntnisse vorherrschend. Statt jährlicher Solidaritätsbekundungen braucht es konkretes Handeln. Die fortbestehenden Lücken sind kein Schicksal, sondern Ergebnis kollektiven Versagens – und müssen als Ansporn für grundlegende Veränderungen verstanden werden.

 

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