Zum Hauptinhalt springen
Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Der Fall »Grün« als Auftakt zum II. Weltkrieg

Klaus Kukuk, Berlin

1. Oktober 1938: Die Wehrmacht marschiert im Sudetenland ein

Die Tschechoslowakische Republik war keineswegs wehrlos, als die deutsche faschistische Clique mit ihrer antitschechoslowakischen nationalistischen Kampagne begann. Die dama­lige Regierung Großbritanniens hatte, im Bündnis mit Frankreich und toleriert von den USA, den Versuch unternommen, die expansive Politik Hitlerdeutschlands in Richtung Os­ten zu kanalisieren und dazu die sogenannte Appeasementpolitik zu praktizieren versucht. Das faschistische Deutschland sollte beschwichtigt werden, indem seine Forderungen ge­genüber der Tschechoslowakei toleriert werden sollten. Das erfolgte zunächst mit dem so­genannten Münchner Abkommen zwischen Nazideutschland, Großbritannien, Frankreich und dem faschistischen Italien im Jahre 1938 unter Ausschluss der legitimen tschechoslo­wakischen Regierung. Dieses Abkommen war – da es zu Lasten eines Drittstaates abge­schlossen worden war, bereits zum Zeitpunkt seines Zustandekommens – ein eklatanter Bruch des gültigen Völkerrechts und deshalb ungültig von Anfang an.

Tschechoslowakische Befestigungsanlagen an der nordöstlichen Grenze – gebaut von 1935 bis 1937, damals die modernsten in Europa – fielen 1938 der deutschen Wehrmacht kampflos in die Hände.

Die Anlagen waren mit ihrer Wasser- und Stromversorgung von der Außenwelt unabhängig. Die unterirdischen Versorgungsanlagen reichen bis zu 30 Meter in die Tiefe und hatten Ei­senbahnanschluss. Armeegeneral Ludvík Svoboda, der spätere Präsident der CSSR, schreibt in seinen Erinnerungen: »Das Verhältnis zwischen den Streitkräften der ČSR und Hitlerdeutschlands sah 1938 folgendermaßen aus. 45 tschechoslowakische Divisionen standen 47 deutschen gegenüber; auf 1.582 tschechoslowakische Flugzeuge kamen 2.500 deutsche; wir verfügten über 469 Panzer und 2.000.000 ausgebildete Soldaten, das faschistische Deutschland über 720 Panzer und 2.200.000 ausgebildete Soldaten. Auch der Laie kann aus diesen Zahlen erkennen, dass dem Aggressor zur mindestens zweifa­chen Übermacht, die er brauchte, um den Schlag schnell und erfolgreich zu führen, noch viel fehlte.« [1] Und weiter heißt es in Svobodas Erinnerungen: »Wie Hitler in seiner Rede am 28. April 1939 hervorhob, waren den Faschisten bei der Besetzung 582 Flugzeuge, 581 Flakgeschütze, 2.175 leichte und schwere Geschütze, 735 Minenwerfer, 468 schwere Pan­zer, 43.876 Maschinengewehre, 114.000 Pistolen, 1.020.000 Gewehre, 3.000.000 Grana­ten und Milliarden Schuß Infanteriemunition in die Hände gefallen.« [2]

Angesichts dieses von einem kompetenten tschechoslowakischen Militär dargestellten mi­litärischen Kräfteverhältnisses zwischen der Tschechoslowakischen Republik und dem fa­schistischen Deutschland erhebt sich allerdings die Frage, wieso es das faschistische Deutschland wagen konnte, trotz gültiger Bündnisverträge der ČSR mit Frankreich und der UdSSR Böhmen und Mähren zu annektieren.

Die tschechoslowakische Regierung hatte mit Frankreich und der Sowjetunion Bündnis- und Beistandsverträge abgeschlossen, die das Land vor einer Aggression schützen konn­ten, sofern die westlichen Verbündeten zu ihren Verpflichtungen gestanden hätten. Nach Abschluss des Münchner Schanddiktats war jedoch absehbar, dass Frankreich seiner Beistandspflicht nicht nachkommen würde. Die Beistandspflicht der Sowjetunion war jedoch mit dem Vertrag vom 16. Mai 1935 an den Beistand Frankreichs gebunden und konnte nicht ohne Beteiligung und Zustimmung Frankreichs wirksam werden. Die Regierung der UdSSR erklärte dennoch ihre bedingungslose Bereitschaft, der ČSR zur Seite zu stehen, sofern die Beneš-Regierung darum ersucht. Die Sowjetregierung konzentrierte Truppen an ihrer Westgrenze, es standen 30 panzer-motorisierte und Schützendivisionen sowie Einheiten der Luftstreitkräfte mit über 5.000 Kampfflugzeugen zum sofortigen Einsatz bereit. [3]

Präsident Beneš lehnte nach dem Schanddiktat das sowjetische Angebot ab und wandte sich nicht einmal an den Völkerbund.

Der antisowjetische Hass der Entente und die antikommunistische Verblendung der tsche­choslowakischen Bourgeoisie hat es verhindert, dass die europäische Geschichte einen anderen Verlauf nehmen konnte. General Svoboda schreibt in seinen Erinnerungen: »Wenn es im Herbst 1938 zwischen der Tschechoslowakei und Hitlerdeutschland zum Krieg gekommen wäre, hätten wir keine Niederlage erlitten. Im Gegenteil. Mit Hilfe der Sow­jetunion hätten wir die Republik verteidigt ...« [4]

Mit der deutschen Besetzung der Grenzgebiete Böhmens und Mährens (die fälschlicher­weise noch heute als Sudetengebiete bezeichnet werden) [5] firmierten diese Gebiete zu­nächst unter der Bezeichnung Sudetengau als Bestandteil des deutschen Reiches. Nach der Annexion Böhmens und Mährens im März 1939 wurde das Territorium zum Protektorat Böhmen und Mähren erklärt, das bis zum Mai 1945 existierte. Mit der Gründung des fa­schistischen Separatstaates Slowakei am 14. März 1939 war die Bevölkerung Böhmens und Mährens rundum von deutschen und mit den Faschisten verbündeten slowakischen Grenzgebieten umgeben.

Ohne Zeit zu verlieren begannen nach dem Münchner Abkommen die direkten Kriegsvor­bereitungen der deutschen Faschisten.

Für den Bau einer Durchgangsautobahn vom damals deutschen oberschlesischen Breslau/Wroclaw über Brno bis Wien wurde bereits im November 1938 der damaligen tschechoslowakischen Marionettenregierung ein Vertrag aufgezwungen, der der deutschen Seite die kostenlose Überlassung des gesamten Geländes und dessen exterritorialen Sta­tus zusicherte.

Der Plan einer Reichsautobahn von Hof bis an die Südspitze der Slowakei ebenfalls auf ex­territorialen Gemarkungen sollte dem folgen. Auf dem Streckenabschnitt Wroclaw–Brno wurden bis 1942 80 km Autobahn fertiggestellt und in Betrieb genommen (Die bis heute befahren werden). Das sogenannte Protektorat wurde mit seinen industriellen Ressourcen und seinem Arbeitskräftepotential zu einem wichtigen Hinterland für den geplanten Weltkrieg.

Der weitere Verlauf der Geschichte ist bekannt.

Wenn man den Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich im Jahre 1938 und Hitlers antitschechoslowakische Politik einbezieht, kommt man mit dem Verweis auf den Fall Grün, die von Hitler am 5. November 1937 in Auftrag gegebene Planstudie der Wehrmacht zur Besetzung der Tschechoslowakei, unweigerlich zu der Schlussfolgerung, dass der II. Weltkrieg nicht mit dem 1. September 1939, sondern dem Abschluss des Münchner Ab­kommens begonnen hat.

Nach den bitteren Erfahrungen der Tschechoslowakei mit wortbrüchigen Verbündeten wurde am 12. Dezember 1943 der Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand zwischen der UdSSR und der Tschechoslowakischen Republik abge­schlossen, der auch von Präsident Beneš in Moskau unterzeichnet worden ist.

Anmerkungen:

[1] Ludvík Svoboda »Von Busuluk bis Prag« Deutscher Militärverlag, Berlin 1967, S. 10.

[2] Ebenda, S. 11.

[3] Ebenda, S. 12.

[4] Ebenda, S. 15.

[5] Der Begriff »Sudetenland« wurde ab Beginn des 20. Jahrhunderts von chauvinistischen politischen Kräften für die vorwiegend deutschen Siedlungsgebiete als Volksgruppenkonstrukt verwendet. Die Sudeten (tschechisch und polnisch Sudety) sind lediglich ein Gebirgszug, der die nordöstliche Umrandung des Böhmischen Beckens zwischen dem Zittauer Becken und der Mährischen Pforte bildet. Er ist 310 km lang und 30 bis 45 km breit. Die höchste Erhebung der Sudeten ist die Schneekoppe im Riesengebirge mit 1602 Metern über NN.