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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Brief an eine Berliner Reporterin (II)

Erika Buchmann (1902 – 1971)

Liebe Frau Elisabeth! [… – Den ersten Teil druckten wir im Heft 9/2018, Seiten 2-7.] Wir wenigen Politischen haben unsere kämpferische Vergangen­heit, unser Wissen um die Zukunft, wir haben unsere Gedanken über alle Dinge unserer Umwelt. Die meisten anderen haben nichts hinter, nichts vor sich als den grauen, verhaß­ten Alltag. Und im Herzen einen unbändigen Haß gegen alles, was sie hindert, so zu leben, wie sie immer gelebt haben und wie sie leben wollen. Haß gegen jede Form von Disziplin. Kein Wissen darum, daß in einer Gemeinschaft wie der unseren das Leben nur zu ertragen ist, wenn ein bestimmtes Maß des Einfügens vom einzelnen erreicht wird. Protest ist ihr ganzes Leben hier im Lager, und da sie keine Möglichkeit sehen, wenden sie sich gegen die Gebote der Gemeinschaft. Nicht aus bewußter Bosheit, vielmehr einfach aus Hilflosig­keit.

Die am meisten darunter zu leiden haben, sind die Politischen und die Idioten. Auf sie wird systematisch jede schwere Arbeit abgewälzt, sie werden als Deckmantel für die eigenen Verstöße benutzt, sie treffen Hohn und Spott am tiefsten und am verletzendsten.

Können Sie sich einen Tag Häftlingsdasein überhaupt vorstellen, liebe Frau Elisabeth? Kön­nen Sie mitfühlen, was es heißt, bei Regen, Schnee und Kälte, unter sengenden Sonnstrah­len irgendwo draußen zu stehen bei schwerster Arbeit, Stunde um Stunde, Monat um Mo­nat? Die meisten Häftlinge sind ungenügend gekleidet, sie frieren, Gliedmaßen erfrieren im Winter, und sie haben faustgroße Wasserblasen von der Sonne im Sommer, vor der es kei­nen Schutz gibt. Es ist keine leichte Arbeit, Sand zu schaufeln. Auf die Dauer erlahmt der Arm, jede Bewegung wird zur Qual. Du liegst nachts in deinem Bett und weißt nicht, wie du dich legen sollst, alles schmerzt.

Im Sommer 1942 haben wir draußen am See gearbeitet; Kohlen und Briketts immer auf großen Schiffen. Sie müssen ausgeladen und auf einer Halde aufgeschüttet werden. Wir haben keine Strümpfe, keine Schuhe, barfuß stehen wir auf den spitzen Kanten der Kohle, unsere Fußsohlen sind wund, bluten aus vielen Ritzen. Wir stehen Höllenqualen aus. Sie glauben, das wäre für die Aufseherinnen ein Grund gewesen, uns irgendwo sitzen zu las­sen? Sie irren - weiter, weiter! Tempo! Die Hunde jagen uns herum, unaufhörlich bellend, immer bereit, auf den leisesten Befehl der Aufseherinnen hin den Häftlingen an die Waden, die Oberschenkel zu springen, tiefe Wunden hinterlassend, die Monate hindurch eitern, schmerzen, Fieber verursachen.

Eine alte Frau, 64 Jahre, kriecht auf Händen und Füßen in den Kohlen herum. Keuchend, nach Atem ringend, Schweiß in Strömen vergießend, hin und her, vom Schiff zur Halde, von der Halde zum Schiff. Unbarmherzig brennt die Sonne. Wir haben keine Möglichkeit, auch nur einen Tropfen Wasser zu trinken, so dicht wir auch am Ufer stehen. Die alte Frau kann nicht mehr. Wir sehen es alle. Immer wieder fällt sie in sich zusammen, schnellt wieder hoch, den jagenden Hund hinter sich. Was heißt das, sie kann nicht mehr, warum ist sie ins Lager gekommen, die alte Hure. Sie muß! Auch die Aufseherinnen wollen ihre Abwechs­lung, ein wenig Spaß haben. Und sie hetzen sie mit den Hunden, die Alte, ihre Schreie gel­len über das Wasser. Will sie stehen bleiben, wird sie geschlagen. Als sie wieder beim Schiff unten ankommt, wird sie ins Wasser geworfen, herausgezogen, hinein, heraus. Und dann: weitergekarrt, alte Hexe, nur keine Müdigkeit vortäuschen und nicht zu wenig Kohle in die Karre genommen, mit weniger als einem Viertelzentner wird nicht abgefahren. Und das Elend beginnt von neuem, Stunden dehnen sich zu Ewigkeiten, nicht nur für die Alte, für uns alle. Elend ist uns zumute, verzweifelt denken wir an die Kette von Tagen und Mo­naten, die vor uns liegen. Man weiß, es wird immer dasselbe trostlose Einerlei sein, diesel­be Qual. Vielleicht haben ein paar Glück und werden einer leichteren Arbeit zugeteilt. Aber die Masse der anderen? Tag und Nacht hast du die schrecklichen Bilder vor Augen, ver­gewaltigt erscheint dir die ganze Menschheit, geschändet. Und in der tiefsten Verzweife­lung holst du dir wieder dein Wissen um die Probleme hervor, suchst und findest Kraft in deiner Weltanschauung und schläfst in all dem Elend doch mit dem Trost ein, daß es einen Ausweg aus allem gibt, und über kurz oder lang die Befreiung für dich kommen muß. Und dein Haß wächst aus dem Gefühlsmäßigen heraus, der lodernde Haß gegen die Verant­wortlichen.

* * *

Glauben Sie nicht, Frau Elisabeth, daß das, was ich Ihnen vom Strafblock erzähle, aus dem allgemeinen Rahmen des KZ-Lebens herausfiele. Gewiß ist das Leben dort am schwersten zu ertragen, gewiß ist dort ein besonders günstiges Pflaster für das Austoben der SS-Lagerleitung, bester Nährboden für alle schlechten Instinkte. Aber überall, im ganzen Lager, tauchen die gleichen Probleme auf, überall leidet ein Teil der Frauen im gleichen Maße unter der Tatsache, in engste Gemeinschaft mit den schlechtesten und undiszipli­niertesten Elementen gezwungen zu sein. Können Sie sich denken, was es heißt, mit einer Syphilitikerin Körper an Körper in einem Bett schlafen zu müssen, die Liegestatt mit einem Menschen teilen zu müssen, der jedes Waschen als Luxus empfindet, sich nachts in den stinkenden Lumpen ins Bett legt, die ihm die Lagerleitung gegeben hat und die er nie reini­gen kann? Krank und elend, wie sie sind, weigern sich die meisten, nachts die Fenster auf­zulassen und du sollst schlafen in einer Luft, von der du glaubst, sie lasse sich mit dem Messer durchschneiden. Mit fremden, unsympathischen Menschen zusammen hast du eine einzige dünne Decke. Sie ist von den früheren Besitzern her noch voller Blut- und Ei­terflecke, ungewaschen geht sie von Hand zu Hand.

Tag um Tag, Monat um Monat, Jahr um Jahr mußt du mit den gleichen Menschen zu­sammenleben. Das geht, wenn es sich um Frauen handelt, die gemeinsame Interessen ha­ben und nach dem unvermeidlichen Zank Stunden hin immer wieder in die Gemeinschaft zurückfinden. Aber es ist unerträglich, an Menschen geschmiedet zu sein, zu denen du kei­ne andere Beziehung als das Mitleid mit ihnen hast. Geduld müßtest du haben, viel mehr Geduld, als du in dem ständigen Kampf für dich selbst aufbringen kannst. So sehr du dich auch zusammennimmst, deine Nerven versagen. Du sagst ein hartes, ungeduldiges Wort, weil du keine Zeit zu einem guten, duldsamen hast. Du bist müde ohne Grenzen, es gibt nichts, was dir kostbarer erscheint, als ein winziges Plätzchen, egal wo, aber ein Plätzchen, an dem du wenigstens ein paar Minuten ganz, ganz für dich allein sein kannst. Du läufst von Lagerstraße zu Lagerstraße, verzweifelt suchend – Menschen überall, überall. Gibt es nirgends einen Ausweg aus der Masse, nirgends? Nein, nirgends, du mußt wieder hin zu der grauen Masse, zu Lärm und Streit. Böse Schimpfworte fliegen hin und her, Schläge fal­len, hysterische Schreie gellen, Schreien und übersteigertes Lachen reißen an den Nerven aller. Kann es anders sein? 120 Menschen waren früher in einem Block, zwei- und dreitau­send und noch mehr sind es heute. Jeden Schritt mußt du dir erkämpfen, findest auf Stun­den keinen Platz an der Wasserleitung, um dich zu waschen, gehst mit allem Schmutz ei­ner zehnstündigen Erdarbeit auf deinen Strohsack.

Du mußt dich vor den Toiletten anstellen, die Füße in stinkender Flüssigkeit, Ekel würgt dich. Du stellst dich zum Essen an, von vorn und hinten, rechts und links geschubst und gestoßen. Und weil es keinen Tisch gibt und keinen Stuhl, auf den du dich setzen könntest, nimmst du deine Steckrüben und schüttest sie im Stehen in dich hinein. Nur raus aus der Enge! Raus! Raus!

Und draußen? Es regnet – Ravensbrück ist der traurigste Ort der Welt, wenn es regnet, will dir scheinen. Schwer legt sich Trostlosigkeit auf dich. Selbst wenn du zu den Glücklichen gehörst und Schuhe an den Füßen hast, der Regen läuft durch die dünnen Sohlen, das zer­rissene Oberleder. Und wenn du ganz großes Glück hast und trockne Füße behältst, dann laufen doch neben dir andere, Ärmere als du es bist, ohne Schuhe durch den Regen, so wie sie im Winter stundenlang ohne Strümpfe und Schuhe im Schnee gestanden haben. Und die großen Lagerhallen, zwei-, dreihundert Meter von uns allen entfernt, sind voller Schuhe! Wieder steigt Haß in dir hoch und du erinnerst dich an den gespenstischen Morgen, an dem du am Krankenrevier vorbeigingst und voller Entsetzen die tierischen Schreie halberfrorener Frauen über die Holzwand hinweg gellten. Fünf Stunden haben sie draußen gestanden in der Februarkälte, Höllenqualen müssen sie erdulden. Du denkst dar­an, daß es vielleicht, vielleicht möglich ist, irgendwo ein paar Holzpantinen für eine der Un­glücklichen zu organisieren, und du weißt doch, daß das sinnlos ist. Gibst du einer ein Paar, bleiben doch Tausende andere schutzlos der Kälte preisgegeben. Und die glückliche Empfängerin wird wahrscheinlich schon morgen wieder ohne Schuhe dastehen; denn sie sind ihr in der Nacht gestohlen worden, und du hast erneut Bitterkeit und Trostlosigkeit auf sie gehäuft.

So ist es mit allem, wenn du aus deinem eigenen knappen Besitz noch ein Stück wegge­ben kannst, dann weißt du nicht, wem, wo ist der Allerärmste, wer braucht Hilfe am nötigs­ten? Ich habe einer Irren ein Wäschestück gegeben, weil ich sah, sie hatte nur ein Kleid an dem zerschundenen, abgezehrten Körper, ein Kleid, sonst nichts. Und ich habe es schnell bereut. Blutig geschlagen wurde das arme Wesen wegen dieses Wäschestücks, in sich zu­sammengesunken, bitterlich weinend, hilflose Traurigkeit in den Augen, fand ich es in irgendeiner Ecke kauernd. Ohne meine Hilfe wäre es glücklicher gewesen, es hätte gefro­ren, aber es hätte nicht geblutet und nicht wieder erneut empfinden müssen, daß es nun einmal dazu verurteilt ist, immer und immer wieder zu den Armseligsten zu gehören. Nie­mand, der nicht Ravensbrück oder ein anderes Konzentrationslager am eigenen Leib ken­nengelernt hat, kann sich denken, in welchem Maße dort aus reinem Selbsterhaltungstrieb heraus die schlimmsten Dinge passieren. Wer genügend Rücksichtslosigkeit besitzt, kann zur Not existieren, alle anderen gehen den Weg zu Krankheit und Tod.

Wissen Sie, Frau Elisabeth, daß in Ravensbrück an einzelnen Tagen hundert und mehr Häftlinge starben? Wenn Sie die Türe zum Revier aufmachen, starren ihnen die wachsblei­chen Gesichter Verhungernder entgegen. Sie bahnen sich im wahrsten Sinne des Wortes ihren Weg in die Behandlungsräume über Tote und Sterbende. Unbeachtet von allen ande­ren sterben hier Hunderte, die Grenze zwischen Leben und Tod existiert nicht mehr.

Wagenweise werden die Toten weggebracht. Von Block zu Block wandern die Leichenträ­gerinnen und sammeln die unheimliche Tagesbeute ein. Nackt und bloß, so wie die Natur sie geschaffen hat, werden unsere Toten zu je fünfzehn, zwanzig auf einen alten Bretter­wagen geschmissen. Die Beine weit auseinandergespreizt, die Augen weit aufgerissen, in furchtbarer Klage und Anklage, von den Ratten bis zur Unkenntlichkeit zerrissen, so treten sie ihren Weg in die Ewigkeit an. Kinder sind darunter, unschuldige Menschen, die Jahre Haft hinter sich haben.

* * *

Wissen Sie auch, Frau Elisabeth, wie es an den Nerven zerrt, die Leiden der Kinder mitan­sehen zu müssen, die Ravensbrück seinen Kindern ausdenkt? Wie die Erwachsenen stehen sie Stunde um Stunde Schlagappell, wie die Erwachsenen krümmen sie sich unter seeli­schen und körperlichen Schmerzen. Hungrig sind sie, unsere Kinder, wie wir, jedes Stück Brot verfolgen sie mit gierigen Blicken. Sie betteln vor den Blocks um fettlose Steckrüben, essen Kartoffelschalen wie wir, sie stehlen wie die Raben, und sie kennen die Laster, die ihnen für das ganze Leben verborgen bleiben sollten.

Zwischen ihnen befinden sich Kinder einer besonderen Art, nachdenkliche junge Men­schen, sensible kleine Mädchen, ernste Jungen. Groß gehen die Augen meiner zehnjähri­gen französischen Freundin über eine nackte Frauenleiche, pressen sich die roten Lippen in einen schmalen Strich: »Ich werde das nie vergessen! Und wenn ich eines Tages auch hier sterben werde, weil ich ein Jude bin, ich werde nicht umsonst gelebt haben.« Weil ich ein Jude bin! Schmerz zieht das Herz zusammen. – Ein Kind steht als Ankläger vor meinem Volk. Ich schäme mich.

Eine Siebzehnjährige, Tuberkulose, Todesschweiß auf der jungen Stirn, bettelt. »Ich werde heute sterben, ich weiß es bestimmt. Ich habe eine große Bitte, eine allerletzte Bitte: Ich habe so lange kein eigenes Bett gehabt. Lassen Sie mich allein im Bett sterbenl« Und ich verspreche, den Wunsch zu erfüllen, später aber erst, am Abend erst. Und ich flehe das Schicksal an, es möge die leuchtenden Augen vor dem Abend sich schließen lassen. Weil diese letzte Bitte nicht zu erfüllen ist. Wo soll ich ein Bett hernehmen, ohne einer anderen Sterbenden Unrecht zu tun, Bitterkeit zu geben? Und das Schicksal hat Erbarmen.

Immer wieder denke ich an Jolan, eine vierzehnjährige Lungenkranke, ein jüdisches Mäd­chen aus Jugoslawien. Ihre behütete Kindheit hat man ihr gestohlen, beide Eltern in Ausch­witz vergast. Verzweifelt pressen sich ihre dünnen Ärmchen um meinen Hals: »Ich bin so allein. Haben Sie mich lieb.« Noch im Tod scheinen die schönen dunklen Augen um Liebe zu flehen. »Ich bin so alleinl« Ein Kind krümmt sich in seelischen Schmerzen, und man kann nichts für dieses Kind tun, als einmal im eiligen Vorbeigehen über die dunklen Locken streicheln, Zärtlichkeit geben, wo schwerste Infektion droht. Tag und Nacht wird man von dem Flehen dieser jungen Stimme verfolgt und sehnt sich nach dem Tag, der der letzte im Leben dieses zarten Menschenkindes sein wird.

Das alles, Frau Elisabeth, ist Ravensbrück. Es hat keinen Zweck, weiterzuschreiben. Das meiste muß ungesagt bleiben. Und ich habe sicherlich nichts so gesagt, wie es gesagt sein müßte, um sich in die Hirne und Herzen vor allem unserer deutschen Menschen einzugra­ben als ewiges Mahnmal. Müde werden im Kampf um eine andere Menschlichkeit kann es nicht geben, darf es nicht geben, wenn sich nicht wiederholen soll, was wir in diesen Jah­ren erlebt haben, wir alle. Denn es führt eine Linie von Ravensbrück zu den gequälten Menschen in den zerstörten Städten des halben Erdballs. Und jeder Einsatz lohnt sich. Schwierigkeiten wird es geben, wir müssen sie überwinden, wir alle. Müde werden heißt verantwortlich sein für neues Elend.

Quelle: Ravensbrücker Ballade oder Faschismusbewältigung in der DDR, mit einem Essay von Hedda Zinner, Herausgegeben von Klaus Jarmatz, Texte zur Zeit, Aufbau Taschenbuch Verlag 1992, S. 32-47.