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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Aufmischer und Einmischer in BELARUS

Günter Herlt, Berlin

 

Der folgende Beitrag erscheint Anfang Oktober im gedruckten Heft 10/2020 der »Mitteilungen«: 

Das Geschehen in und um Weißrussland (auch Belarus genannt) wurde zu einem Pulverfass. Noch ist nicht klar, ob daraus ein konstruktiver Dialog zwischen Regierenden und Oppositionellen – oder eine von oben und außen diktierte, gewaltsame Schlichtung wird. Ost und West reden vom »Protest gegen Wahlfälschung«. Doch nachdem der wiedergewählte Staatspräsident Lukaschenko auf 80 Prozent Ja-Stimmen kam, lohnt keine Nachzählung. Auch 78 Prozent oder 68 Prozent reichen überall auf der Welt zum Regieren. Erst recht in einer »Präsidialrepublik«, wie das die Verfassung für Belarus von 1994 festlegt. Wodurch sich Lukaschenko offenbar autorisiert fühlt, mit den zwei Kammern, harter Hand und sturem Kopf weiter zu regieren.

Das kann manchmal nötig sein, aber doch nicht über Jahrzehnte? Oder nur, wenn sich das geborene Musterdemokraten wie Kohl und Merkel oder Orban, Erdogan und ein Dutzend andere Oberhäupter erlauben. Anders, wenn Gegenkandidaten in die Verbannung geschickt wurden und wenn kein öffentlicher Meinungsstreit stattfindet. Dann wird das in diesem Jahrhundert anrüchig! Denn wenn in dieser global vernetzten Welt an strategisch nützlicher Stelle nach Freiheit und Menschenrechten gerufen wird, dann reicht das als Argumentation und Legitimation für eine politische Konfrontation – oder gar militärische Intervention. Die selbsternannten Lehrmeister der Menschenrechte in den USA, Deutschland und anderen NATO-Staaten zücken dann Scheckbuch und Marschbefehle für ihre erprobten Instrukteure, um die Ordnung nach westlichen Werten zu »ordnen«.

Lukaschenko und Putin müssten das gelernt haben: wer die Macht hat, hat die Sorgen und keine »Käseglocke«, die er über das Land stülpen könnte. Es gibt seit dem Kalten Krieg der frühen 60er Jahre eine bewährte westliche »Strategie der friedlichen Einmischung«. Die hat nun auch die Macht in Minsk bröckeln lassen. Manche träumen schon von einem Flächenbrand, der auch Moskau erfassen soll. Man muss nur mit Märtyrern nachheizen!

Merke: »Wer die Widersprüche nicht löst, den fressen sie auf!«

Natürlich geht es um die Grundrechte wie Freiheit und Frieden, Demokratie und Fortschritt. Auch, wenn jeder etwas anderes darunter versteht. Bei so viel Ratlosigkeit hilft es mitunter, auf die Weltkarte zu schauen und zu überlegen: »Wem nutzt das?«

Belarus und Russland sind Gründungsmitglieder der UNO und haben gemeinsame Wurzeln. Sie haben auch einen Beistandspakt und 50 Prozent gegenseitigen Export. Da zahlen doch beide drauf, wenn einer in die Knie geht.

Belarus war einst bettelarm – 4.000 Seen, aber ebenso viele Sümpfe, 30 Prozent Wälder, Hauptenergiequelle Torf. Das Land wurde oft von Litauen, Polen, russischen Zaren und deutschen Armeen okkupiert und geplündert. Der Zweite Weltkrieg zerstörte 200 Städte und 9.200 Dörfer. Das war auch Rache für mutige Partisanenaktionen. Nazi-Deutschland holte sich Kühe, Kartoffeln, Kali und Kulis. Die Juden kamen nach Auschwitz. Doch kein Russe vergisst, dass dieses gebeutelte Land zusammen mit der Ukraine seit dem 9. Jahrhundert im altrussischen Staat als »Kiewer Rus« zur Wiege des damaligen und heutigen Russland wurde. Da übt man doch keine Herztransplantation am offenen Leib – außer, wenn man aus Kurzsichtigkeit, Dummheit oder Machtgier auf die Vernunft und Vergangenheit pfeift.

Umzingelt von Herrschern mit Helm

Es ist unübersehbar, dass sich die NATO – entgegen allen früheren Absprachen – an Moskau heranschleicht durch Unterwanderung und Abwerbung einiger strategisch wichtiger ehemaliger Sowjetrepubliken. Wer weiß denn, dass das von US-Investoren umworbene Kasachstan mit großem Abstand der Weltmeister der Uranförderung ist? Russland hat nur ein Achtel davon. Selbst die Ukraine fördert ebenso viele Tonnen Uran wie die USA. Andere Rüstungsgüter aus der früheren Arbeitsteilung mit Moskau sind auch sehr begehrt. Das spart Entwicklungskosten.

Da die Verfassung der UdSSR den Beitritt zur Union freiwillig und damit kündbar gemacht hat, sind das keine Kraftakte. Dennoch müssen Putins Generäle hellwach sein, wenn sie sehen, dass der Weg nach Moskau von der Ostgrenze Belarus’ halb so weit ist wie von der ukrainischen Metropole Kiew. Das spielt zwar bei den heutigen Waffen der Großmächte kaum eine Rolle, weil alle Raketen schneller sind als Panzer. Aber wenn sich die Vorwarnzeit erneut verkürzt, tut der Erstschlag mehr weh als die Antwort. Die Geschichte hat uns gelehrt: wer an den Grenzen rüttelt, rüttelt am Frieden! Und da wird von US-Präsident Trump jeden Monat irgendwo gerüttelt. Etliche NATO-Spießgesellen machen eifrig mit. Auch, weil westliche Beobachter beschwichtigen: »Hunde die bellen, beißen nicht.« Ja schön, aber ein Maulkorb zur kollektiven Sicherheit wäre doch wohl sicherer als ein von Trump zerrissener Abrüstungsvertrag?

Was lockt denn so an Belarus?

Na z.B. 200.000 Quadratkilometer Land. Das war das doppelte Terrain der DDR. Und das in bester strategischer Lage zur weiteren Amputation der Großmacht Putins. Das ist nicht mehr der Sumpf des 9. Jahrhunderts, sondern zu 40 Prozent ein Industriestaat und Dienstleister vor allem in der Logistik. Das stabilisiert die baltische und südliche NATO-Zange mit Estland, Lettland und Litauen. Das stärkt Polen, die Slowakei, Ungarn Bosnien, den Kosovo, Mazedonien. Auch Griechenland, Georgien und die Türkei.

Belarus, das sind 10 Millionen Menschen: 81 Prozent Weißrussen, 11 Prozent Russen, der Rest sind Polen, Ukrainer, Orthodoxe, Katholiken, Juden und Muslime. Zwei Drittel der Berufstätigen arbeiten in staatlichen Betrieben! Da wurde nicht so wild drauflos privatisiert wie in der Ukraine, wo die Oligarchen alle Fäden in der Hand haben.

Nein, Belarus ist eigentlich ein friedliches, bescheidenes, treues Völkchen. Wenn da nicht der alte Mann an der Spitze so verkrampft über Jahrzehnte seinen Thron umklammern würde. Das nutzten Frau Merkel und Frau von der Leyen namens der Europäischen Union, um eine Millionenspende an die Opposition in Minsk zu schicken. »Für die Familie der Verfolgten und zum Ausbau eigener Sender.« Neue alte Fahnen sind auch schon da. In Bonn arbeitet eine Fahnenfabrik, die auch 100 Meter am Stück in drei Bahnen – weiß-rot-weiß – zusammennäht.

Einmischer und Aufmischer Hand in Hand und Despoten sind gebannt?

Ich finde es beschämend, wie führende deutsche Politiker sich anmaßend zum Vormund gegenüber Russland machen, denn es waren doch deutsche Unmenschen, die dort 27 Millionen Menschenopfer verursacht hatten.

Aus der Ahnenreihe deutscher Kanzler

Kein Wunder, dass die leidgeprüften Nachbarvölker uns immer noch mit Argwohn beobachten. Es scheint ein genetischer Defekt unserer Obrigkeiten zu sein, dass sie gerne provozieren und marschieren.

Otto von Bismarck war der erste Kanzler nach der Bündelung der 36 deutschen Kleinstaaten im Januar 1871. Der verlegte die Reichsgründung tollkühn nach Frankreich in den Spiegelsaal des französischen Kaiserschlosses in Versailles. Worauf König Wilhelm I. gar nicht wusste, was er da anziehen sollte. Er kam dann – wie die folgenden preußischen Monarchen – am liebsten in Uniform mit Helm und Degen.

Bismarck erklärte das Wunder der Vereinigung übrigens so: »Politik ist Außenpolitik. Aber Außenpolitik, die alle Karten aufdeckt, ist Selbstmord. Nicht durch Reden und Mehrheitsbeschlüsse werden die großen Fragen der Zeit entschieden, sondern durch Blut und Eisen!«

Kaiser Wilhelm der II. hatte sich dann für jeden Tag im Jahr eine andere protzige Uniform schneidern lassen, um zu verkünden: »Am deutschen Wesen muss die Welt genesen!« Er ließ es auf den 1. Weltkrieg als Machtprobe ankommen. Als Anlass genügte ihm ein Pistolenschuss auf den Erbherzog im fernen Sarajevo.

Den Scherbenhaufen leimte 1918/19 im Gewitter der Novemberrevolution der Sozialdemokrat Friedrich Ebert. Der forderte die Reichswehr an, um die Arbeiter- und Matrosenräte auseinanderzujagen. Dann wurden Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg ermordet und versucht, mit den kaisertreuen Offizieren und Beamten eine Demokratie ohne Demokraten aufzubauen. Die Weltwirtschaftskrise wirbelte alles in den Keller.

Das war für Hitlers braune Horden das Sprungbrett! Mit Terror und Konzernspenden holten sie sich in drei Wahlkämpfen die Mehrheit im Reichstag. Hitler rief, dass wir ein »Volk ohne Raum« seien. Dass wir wieder in die Welt hinaus müssen. Dass die arische Rasse berufen sei, die Welt zu regieren. Man müsse nur vorher die Marxisten und Juden verbannen. Sein Propagandaminister sorgte dann für die Zustimmung zum »totalen Krieg«.

Merke: Der erste Schritt zum Krieg sind nicht die Bomben, sondern die Lügen und Intrigen zur Verteufelung des Gegners. Für den Einmarsch in Polen genügte 1939 ein gefälschter Aufruf  im Sender Gleiwitz.

Für das Gemetzel der USA in Nordvietnam genügte eine Beule im Bug eines US-Zerstörers in der Bucht von Tonking.

Für den Überfall auf den Irak genügten gefälschte Fotos, die eine Aufrüstung mit ABC-Waffen vortäuschen sollten.

In Hongkong wurden Studenten zum Stoßtrupp.

In Sibirien hieß es, dass dem Hauptfeind Putins »vermutlich vergifteter Tee« eingetrichtert wurde.

Und in Belarus wurde der Haudegen Lukaschenko mit einer Kalaschnikow fotografiert und durch die Welt getwittert.

Solche Meldungen, Lügen, Hassgesänge, Intrigen wühlen die Gemüter beider Seiten auf, bis sie aufeinander einschlagen. Es war hohe Zeit, dass Lukaschenko Reformbereitschaft zeigte!

EUROPA als Schachbrett

Im Herbst 1957 traf die Nato-Strategen der Sputnik-Schock. Das kaputte und rückständige Russland hatte einen Satelliten ins All geschossen! Nun war es vorbei mit den Träumen vom »Roll-back der roten Welt«. Jeder Punkt der Erde – auch in Washington oder Brüssel – wurde mit Kernwaffen verletzbar!

US-Präsident Eisenhower hatte noch den CIA ermuntert, Kuba durch eine Invasion in der Schweinebucht auszuradieren. Das ging schief.

1961 trat Präsident Kennedy an. Der riet zum »Brückenschlag«, zur Kooperation mit dem Osten. Drum wurde er zwei Jahre später ermordet. (Nicht mit Gift aus Moskau!)

In Bonn regierten aber immer noch die Bremser: der »Befreier der Zoffjetzone« Adenauer. Dem folgte nach 14 Dienstjahren der »Erfinder der Konsumgesellschaft«, Ludwig Ehrhard. Der wurde nach 3 Jahren vom Altnazi Kiesinger abgelöst. Die verstanden alle nicht, warum man die Konfrontations-Politik gegen den Osten aufgeben sollte.

So kam Willy Brandt mit seiner »neuen Ostpolitik« ins Kanzleramt.

Die konservativen Christdemokraten riefen bei den Ostverträgen zwar: »Verrat! Die Sozis machen Verzichtpolitik!« Aber Brandt und Chefberater Bahr erklärten: Wer an den Grenzen rüttelt, verfestigt sie nur. Man muss die Grenzen anerkennen, um  sie abbauen zu können. In den Verträgen steht zwar die »Unverletzlichkeit« der Grenzen, was aber nicht »Unveränderbarkeit« bedeutet! 

Damit war die Marschrichtung des Westens zur Vorbereitung der Europäischen Sicherheitskonferenz 1973/75 in Helsinki klar: von der Konfrontation zur Kooperation zwecks Infiltration bis zur Liquidation. Der Osten freute sich über Korb 1 der Schlussakte wegen der Anerkennung der bestehenden Grenzen. Der Westen freute sich über Korb 3 mit den »menschlichen Erleichterungen« und der Multiplikation der Kontakte.

Die »friedliche Einmischung« wurde zur Brechstange

Natürlich nicht so plump wie es klingt! Wie beim Kaiser die Paraden
den Nationalstolz bewegten, so waren es bei Hitler das Radio und Kino, die den Chauvinismus und Rassismus anheizten. Danach das Fernsehen und Reisen zum Dabeisein oder Träumen. Und heute geht das über die Videos und Twitter im Handy mit viel mehr Tempo und Breitenwirkung.

Der ehemalige Schachweltmeister Kasparow weiß doch als geflohener Regimekritiker auch, wie man gesellschaftspolitisch Schach spielt. 

Er sprach in der BILD-Zeitung von seiner Hoffnung, dass die Funken von Minsk bis nach Moskau überspringen. Und schon war ein Video zur Hand, wie ein Satiriker in Petersburg auf einem Silbertablett ungiftigen Tee anbot.

Am Abend vor der Präsidentschaftswahl in Belarus hatte der junge Stepan Putila, der inzwischen in Polen lebt, über seinen Telegramm-Kanal NEXTA mit drei Helfern Bilder an seine zwei Millionen Fans in Belarus verschickt, die zeigen, wie grausam die Polizei in Minsk vorgeht. Das schafft böses Blut!

Wer wissen will, welche Konzeption zur »Blaupause« für die Volksaufstände im Osten wurde, muss tiefer greifen. Die offiziöse Bonner Zeitschrift »Außenpolitik« schrieb im November 1962 folgendes:

Unser Gedankengut ist unter Ausnutzung aller Mittel der modernen Propaganda in die kommunistischen Länder hineinzutragen.

Dazu müssen populäre Anführer und Kristallisationsparolen gefunden werden, die geeignet sind, den Volkszorn zu schüren.

Die Themen sind Ängste und Hoffnungen, Mode und Musik, Umweltfragen und religiöse Unterstützer, Amtsmissbrauch der Herrschenden usw.

Geht dann der Staat gegen einzelne Abtrünnige vor, ist deren Freilassung zu fordern und jede Form der Misshandlung anzuklagen.

Das verlangt eine zentrale Lenkung der Mittel und Personen zur Beurteilung der Revolutionslage und der nächsten Aktionen.

Durch Abstimmung der Außenpolitik der nichtkommunistischen Länder ist für internationale Aufmerksamkeit und Hilfe zu sorgen …

Dieses Konzept wurde zur Schablone, weil es 1968 in Prag funktionierte. Die Linken unterschätzen zu oft die Rolle der Massenpsychologie. Ein dumpfes Gefühl verdrängt schnell zehn sachliche Argumente. Daher gebe ich an dieser Stelle auch auf, zu schreiben. Wir wissen ja, wo das endet.

Doch das alles sind ja nur Schlachten unterwegs. Am Ende muss und wird eine andere, bessere Ordnung stehen, wo nicht die Profitrate von 1 Prozent der Besitzenden über das Schicksal der ärmeren 50 Prozent der Erdenbürger bestimmt. In den 20 führenden Staaten der Erde kommt es zum multiplen Versagen der Staatsmacht. Die Coronakrise wurde zur ökonomischen Krise und die Wirtschaftskrise zur politischen Krise. Dieses System muss vom Kopf auf die Beine gestellt werden. Je eher, umso besser – aber tunlichst ohne Blut und Eisen oder falsche Ratgeber.

 

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