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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Arbeitszeitkämpfe sind Kämpfe um Verteilungsgerechtigkeit

Arne Brix, Oldenburg

 

100 Jahre Achtstundentag – ein Blick zurück, ein Blick nach vorn

 

Für viele, vor allem jüngere, Beschäftigte ist der geregelte gleichmäßige Arbeitstag, der um 9 Uhr beginnt und um 17 Uhr endet, fern jeder Realität. Denn der zunehmend entgrenzte Arbeitsalltag in unserer Gesellschaft, in der heutigen Zeit, sieht dies kaum mehr vor. Viel­mehr wird von vielen Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen ständige Erreichbarkeit mit maximaler Flexibilität und der Bereitschaft zur Mehrarbeit verlangt. Oder, in Zahlen ausge­drückt: 77 Prozent der Berufstätigen leisten regelmäßig Überstunden. [1] Obwohl wir in Deutschland vor 100 Jahren den Achtstundentag eingeführt haben, ist dieser oftmals nur noch Makulatur. Was bedeutet dies für die Gewerkschaftsbewegung und für eine klassen­kämpferische Linke?

Ein kurzer Blick zurück: Als die industrielle Revolution im 19. Jahrhundert begann, waren 12- bis 14-Stunden-Tage keine Seltenheit. Der britische Frühsozialist Robert Owen war da­mals einer der ersten, der mit dem Spruch »Eight hours labour, eight hours recreation, eight hours rest« (Acht Stunden Arbeit, acht Stunden Erholung, acht Stunden Schlaf) den Achtstundentag einforderte. Auch in der deutschen Arbeiterbewegung fand diese Idee An­klang. Schon 1866 auf dem Genfer Kongress der Internationalen Arbeiterassoziation wur­de unter Mitwirkung von Karl Marx und Friedrich Engels die weltweite Einführung des ge­setzlichen Achtstunden-Arbeitstages gefordert. Aber es bedurfte noch vieler Jahre und vor allem einer konfliktbereiten, kämpferischen Arbeiterbewegung, um auf die Forderung einen wirksamen Kontrakt folgen zu lassen. Anfang November 1918, als die aus dem Norden und von den Matrosen ausgelöste Revolution nach Berlin rollte, kam es zu Massenprotes­ten und Streiks. Nur wenige Tage später wurde am 15. November 1918 das sogenannte Stinnes-Legien-Abkommen durch den Industriellen Hugos Stinnes und den Gewerkschafts­führer Carl Legien unterzeichnet. Das Abkommen sah vor, dass Betriebe ab 50 Beschäftig­ten Arbeiterausschüsse bilden durften, dass sich beide Seiten als gleichberechtigte Tarif­partner [2] anerkennen und der Achtstundentag bei vollem Lohnausgleich realisiert werden solle. Auf Grundlage dieses Abkommens erließ das Reichsamt am 23. November 1918 mit einer Demobilmachungsverordnung den Achtstundentag für Arbeiter und Arbeiterinnen. Im März 1919 wurde mit einer weiteren Verordnung auch der Achtstundentag für Angestellte eingeführt. Unter der Macht der Faschisten war der Achtstundentag abge­schafft worden.

Erfolge sind immer wieder neu zu verteidigen

Zur Einordnung des Ganzen muss erwähnt werden, dass die Sozialdemokraten und die Gewerkschaften zu keiner Zeit vorhatten, mit ihren Verhandlungen die wirtschaftlichen Machtverhältnisse durch einen Umsturz der Eigentumsordnung zu verändern. Die Einge­ständnisse, die das Kapital gemacht hatte, wurden daher in der Folge immer wieder unter­laufen bzw. angegriffen. Nur fünf Jahre später, aufgrund des Drucks vieler Unternehmer, erließ die Regierung eine neue Verordnung zur Arbeitszeit, welche die Mehrarbeit bis hin zu einem 11-Stundentag ermöglichte. Nichtsdestotrotz waren es aber große, wenn nicht sogar historische Schritte, die für die Arbeiterinnen und Arbeiter im Jahr 1918 erreicht wurden. Dies betrifft nicht nur den Achtstundentag, sondern auch die Regelungen für die Einstellungen und Entlassungen zugunsten der Lohnabhängigen. Oder dies betrifft die Ein­setzung von Arbeiterausschüssen, die Vorläufer der heutigen Betriebsräte. Anzuführen ist nicht zuletzt der Umstand, dass Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklärt wurden und sich von 1919 bis 1922 die Anzahl derer, für die ein Tarifvertrag Anwendung fand, mehr als verdoppelte.

Zehn Jahre später sagte der Gewerkschafter Theodor Leipart (Vorsitzender des Internatio­nalen Gewerkschaftsbundes IGB): »Als wir 1918 den Achtstundentag errungen hatten, ha­ben wir ihn als großen Erfolg begrüßt. Besonders bedauerlich aber ist, dass viele Arbeiter und Arbeiterinnen auch jetzt noch länger arbeiten müssen, wo Millionen ganz ohne Arbeit sind. Die Verkürzung der Arbeitszeit ist mein Weihnachtswunsch.« [3]

Werfen wir einen Blick auf die aktuelle Lage am Arbeitsmarkt in Deutschland und Europa, hätte der Wunsch von Leipart auch angesichts des gerade vergangenen Weihnachtsfestes formuliert werden können. Denn hundert Jahre später zeichnet sich folgendes Bild ab: In der Europäischen Union sind fast 17 Millionen Menschen offiziell arbeitslos und davon (selbst unter mehr als fragwürdigen Berechnungsgrundsätzen, die realen Zahlen sind weit höher) etwa 2,3 Millionen Menschen aus Deutschland. [4] Und trotz der anhaltend hohen Ar­beitslosigkeit wurden im Jahr 2017 in Deutschland 2,1 Milliarden Überstunden geleistet. [5] Im krisengeplagten Griechenland ist jeder fünfte Erwerbsfähige arbeitssuchend. Unsere österreichischen Nachbarn haben den 12-Stunden-Arbeitstag wiedereingeführt, in Ungarn will die Regierung bis zu 400 Mehrarbeitsstunden pro Jahr genehmigen. Und deutsche Arbeitgeberverbände fordern seit einigen Jahren die Streichung des Achtstundentages aus den Arbeitsgesetzen, weil diese Regelung angeblich die Flexibilität mindere. [6]

Wir wissen, dass die Erfolge der Arbeiterbewegung im Kapitalismus immer wieder neu ver­teidigt werden müssen. Die Kapitalseite, sobald sie sich sicher fühlt, sobald die Kräftever­hältnisse es zulassen, ist um die Revision und Rücknahme gewerkschaftlich, sozial er­kämpfter Fortschritte bemüht. Wir wissen ebenso, dass die abhängig Beschäftigten seit Jahren soziale Rückschritte hinnehmen müssen, dass die sozialen Kräfte seit Jahren in ganz Europa in der Defensive sind. Insbesondere die sozialdemokratischen Parteien haben sich vom neoliberalen Mainstream korrumpieren lassen und programmatisch entkernt, mit der Folge von zum Teil deutlichen Reallohnverlusten für die Beschäftigten. Die Arbeits­märkte wurden flexibilisiert, die Arbeitsverhältnisse immer unsicherer. Im Zuge dieser mas­siven Verunsicherung und Prekarisierung geriet die Arbeitszeitpolitik bei den Gewerkschaf­ten ins Hintertreffen. Im Vordergrund standen die Verteidigung von Tarifstandards und die Beschäftigungssicherung. Nicht zu vergessen ist die Niederlage der IG Metall im Jahr 1984 bei ihrem Versuch, die 35-Stunden-Woche durchzusetzen, lange Zeit vor dem neoliberalen Umbau des Arbeitsmarktes. Das Scheitern dieser damals groß angelegten und kraft­zehrenden Kampagne steckt vielen Kolleginnen und Kollegen der IG Metall noch heute in den Knochen. Vieles scheint also dagegen zu sprechen, den Kampf um geringere Arbeits­zeiten bei vollem Lohnausgleich wieder prominent auf die gewerkschaftliche und links-pro­gressive Agenda zu setzen.

Digitalisierung im Interesse der Beschäftigten nutzen

Dennoch: Ich appelliere mit Nachdruck dafür, die Frage nach der Arbeitszeit wieder als eine Verteilungsfrage stark zu machen, neben dem Kampf um bessere Löhne. Einerseits geht es darum, die verstärkten Angriffe auf den Achtstundentag abzuwehren und das in­zwischen massenhafte Unterlaufen der gesetzlichen Höchstarbeitszeiten zu verhindern. Andererseits ist die Arbeitszeitfrage auch ein strategisch wichtiges Vehikel für die Gewerk­schaftsbewegung, um die Beschäftigten des gespaltenen Arbeitsmarktes in der eigenen Organisierung zusammenzuführen. Ziel muss es sein, die Solidarität zwischen jenen herzu­stellen, die zu viel arbeiten und jenen, die zu wenig verdienen. Noch wichtiger aber ist, auf den gesellschaftlichen Großtrend der Digitalisierung zu reagieren. Mit dieser verändert sich die Wirklichkeit des Einsatzes von Arbeitskraft enorm. Immer mehr Digitalisierungs­prozesse und künstliche Intelligenz halten Einzug auf dem Arbeitsmarkt. Im Ergebnis fallen Arbeitsplätze weg und die großen Produktivitätsfortschritte schlagen sich vor allem bei den Umsatzzahlen der Unternehmen nieder. Aktuell trifft es den Handel besonders hart. Dunkle Lager, die nur noch von Roboternavigation betrieben werden, selbstfahrende Kraft­fahrzeuge und natürlich der Onlinehandel verändern die Branche massiv. Sicherung von guter Arbeit kann hier nur gelingen, wenn es eine allgemeine gesellschaftliche Bewegung hin zu einer geringeren Arbeitszeit gibt. Dem Kapital muss Freizeit abgetrotzt werden und zwar mit vollem Lohnausgleich. Der Umverteilungsgedanke bei der Arbeitszeit muss also in der Breite der Gewerkschaften und in den linken Parteien wieder eine prominente Stellung einnehmen, nicht zuletzt um die Digitalisierung im Interesse der Beschäftigten zu nutzen und zu gestalten. Freilich geht es dabei, wie auch beim Achtstundentag im Jahr 1918, nicht um eine neue Wirtschaftsordnung. Aber es wäre ein erster Schritt, mit dem die sozialen Kräfte wieder stärker werden könnten. So utopisch der Achtstundentag im letzten Jahr­hundert gewesen sein mag, er ist schneller gekommen als viele gedacht haben. Die 28-Stunden-Woche mag in der derzeitigen Situation vielen ebenso utopisch erscheinen. Wer weiß, vielleicht wird auch sie schneller kommen als so manche denken. Dafür zu kämpfen, lohnt allemal.

 

Anmerkungen:

[1]  Arbeitszeitbefragung der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin 2017.

[2]  www.deutschlandfunk.de/vor-100-jahren-einfuehrung-des-achtstundentages-fuer-arbeiter.871.de.html?dram:article_id=433963.

[3]  Ebenda.

[4]  de.statista.com/statistik/daten/studie/1223/umfrage/arbeitslosenzahl-in-deutschland-jahresdurchschnittswerte.

[5]  www.welt.de/newsticker/dpa_nt/infoline_nt/wirtschaft_nt/article184713880/Arbeitnehmer-machten-mehr-als-2-1-Milliarden-Ueberstunden.html.

[6]  www.zeit.de/wirtschaft/2015-07/arbeitszeiten-modelle-deutschland-arbeitgeber-ruhezeit-pausen.

 

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