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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Appell an die Menschheit

Albert Schweitzer, 23. April 1957

Im SPIEGEL Nr. 45/2016 war zu lesen, im Falle eines Falles – nach einem möglichen Wahlsieg Trumps – sei »selbst eine Debatte über eigene deutsche Atomwaffen nicht ausgeschlossen«. Wir meinen, schon die bloße Debatte darüber wäre ein Verbrechen.

Als vom 1. März 1954 an Versuche mit Wasserstoffbomben von den Amerikanern auf Bikini, im Gebiete der Marshallinseln (im Stillen Ozean), und von den Russen in Sibirien gemacht  wurden, kam man dazu, sich davon Rechenschaft zu geben, daß es mit der Erprobung von Atomwaffen ein anderes Ding sei als mit den früheren nichtatomischen. Wenn ein neukonstruiertes Geschützungeheuer auf dem Versuchsfeld abgefeuert worden war, war damit die Sache zu Ende. Nicht so mit der Explosion einer Wasserstoffbombe. Es blieb etwas davon übrig: daß nämlich eine Unmenge kleinster Teilchen von radioaktiven Elementen in der Luft  vorhanden waren und radioaktive Strahlen aussandten. Dies war schon bei den Uranbomben, die auf Hiroshima und Nagasaki fielen und nachher noch weiter erprobt wurden, der Fall gewesen. Da es aber entsprechend der geringeren Größe und Wirkung dieser früheren Bombe sich noch nicht so bemerkbar machte wie bei der Wasserstoffbombe, hatte man ihm kaum Beachtung geschenkt.

Weil radioaktive Strahlungen, wenn sie in einer gewissen Menge und Stärke vorhanden sind, schädigend auf den menschlichen Körper einwirken, kam dann die Diskussion in Gang, ob die von bisherigen Explosionen von Wasserstoffbomben herrührende Strahlung schon eine Gefahr bedeute, die durch neu hinzukommende Explosionen eine Zunahme erfahren würde.

Seitdem haben, im Laufe von dreieinhalb Jahren, Vertreter der physikalischen und der medizinischen Wissenschaft sich mit dem Problem beschäftigt. Beobachtungen über das  Vorhandensein, die Herkunft und die Natur der Strahlungen wurden gemacht. Die Vorgänge, auf denen ihre Wirkung auf den menschlichen Körper beruht, sind erforscht worden. Auf Grund des in dieser Sache zusammengetragenen, wenn auch bei weitem nicht vollständigen Materials muß geurteilt werden, daß die radioaktive Strahlung, wie sie sich aus den bisherigen  Explosionen von Atombomben ergeben hat, eine nicht zu unterschätzende Gefahr für die Menschheit bedeutet und daß sie bei weiteren Explosionen von Atombomben in beängstigender Weise zunehmen würde.

Dieses Urteil ist, besonders in den letzten Monaten, des öfteren ausgesprochen worden. Merkwürdigerweise ist es nicht in dem Maße, wie man es hätte erwarten sollen, in die öffentliche Meinung übergegangen. Die einzelnen und die Völker fühlen sich nicht bewogen, der Gefahr, in der wir uns befinden, die Aufmerksamkeit, auf die sie leider Anspruch hat, zuteil werden zu lassen. Sie muß ihr vorgehalten und begreiflich gemacht werden.

Mit andern, die sich verpflichtet halten, in diesen Tagen als Mahner in Wort und Schrift aufzutreten, erhebe ich meine Stimme. Mein Alter und die Sympathie, die mir die von mir vertretene Idee der Ehrfurcht vor dem Leben eingetragen hat, lassen mich erhoffen, daß meine Mahnung mit dazu beitragen kann, der Einsicht, die not tut, den Weg zu bereiten. Der Radiosendestation von Oslo, der Stadt des Friedensnobelpreises, danke ich, daß sie mir dazu verhilft, das, was ich glaube aussprechen zu sollen, in die Ferne gelangen zu lassen.

Was ist Radioaktivität? Sie besteht im Vorkommen von Strahlen, die sich von denen des Lichts dadurch unterscheiden, daß sie unsichtbar sind und nicht nur durch Glas hindurchgehen, sondern auch  durch dünne Scheiben von Metall wie auch durch Schichten des Zellgewebes des menschlichen und tierischen Körpers. Strahlen dieser Art wurden erstmalig 1895 durch den Münchener Physiker Wilhelm Röntgen entdeckt und nach ihm benannt.

Im Jahre 1896 stellte der französische Physiker Henry Becquerel fest, daß Strahlen dieser Art in der Natur vorkommen. Sie gehen von dem seit 1789 bekannten Element Uran aus. 1898 entdeckten Pierre Curie und seine Frau in der Uranpechblende, einem Uranerz, das stark radioaktive Element Radium.

Zuerst herrschte eitel Freude und Stolz darüber, daß solche Strahlen den Menschen zur Verfügung stehen. Es stellte sich nämlich heraus, daß sie eine Einwirkung auf die relativ schnell wachsenden und relativ schnell zerfallenden Zellen bösartiger Tumoren wie Krebs und Sarkom besitzen. Sie vernichten sie, wenn sie ihrer Einwirkung öfters und länger ausgesetzt sind.

Mit der Zeit mußte man leider die Erfahrung machen daß die Vernichtung von Krebszellen nicht immer eine Heilung des Krebses bedeutet und daß auch die gewöhnlichen Zellen des menschlichen Körpers, wenn radioaktive Strahlen längere Zeit hindurch auf sie gerichtet sind, eine schwere Schädigung erleiden. Als Frau Curie nach vierjährigem Hantieren mit Uranerz das erste Gramm Radium in ihren Händen hielt, zeigte deren Haut Risse, die sich durch keine Behandlung heilen ließen. Mit den Jahren verfiel sie einem Siechtum, das seinen Grund darin hatte, daß die radioaktiven Strahlen ihr Knochenmark und damit ihr Blut geschädigt hatten. 1934 setzte der Tod ihrem Leiden ein Ende.

Weil man auf Jahre hindurch die Gefahr nicht in Betracht zog, welche Röntgenstrahlen für die bedeuten können, die ihnen häufig ausgesetzt sind, haben Hunderte von Ärzten und Schwestern von der Bedienung von Röntgenapparaten eine unheilbare, langsam zum Tode führende Erkrankung davongetragen.

Radioaktive Strahlen sind etwas Materielles. In ihnen schleudert das radioaktive Element ständig winzigste Teile von sich mit Wucht in die Ferne. Es gibt drei Arten von radioaktiven Strahlen. Sie sind nach den drei ersten Buchstaben des griechischen Alphabets Alpha, Beta, Gamma benannt. Die Gammastrahlen sind die härtesten und haben die stärkste Wirkung.

Daß Elemente radioaktive Strahlen entsenden, hat seinen Grund darin, daß sie im Verfall begriffen sind. Ihre Radioaktivität ist die Energie, die dabei nach und nach frei wird. Außer dem Uranium und dem Radium gibt es noch einige andere Elemente, die, wenn auch nur ganz schwach, radioaktiv sind. Zu der damit gegebenen, von der Erde ausgehenden radioaktiven Strahlung kommt noch die, die im Weltraum vorhanden ist; insoweit, als sie bis zu uns gelangen kann. Glücklicherweise schützt uns die unsere Erde in einer Höhe von 400 Kilometern umgebende Luftmasse gegen sie. Nur ein ganz kleiner Teil von ihr gelangt bis zu uns. Träfe sie in voller Stärke auf die Erdoberfläche, würde sie alles Leben auf ihr vernichten.

Wir sind also von der Erde und von der Höhe aus einer ständigen radioaktiven Strahlung ausgesetzt. Sie ist aber so schwach, daß sie uns nichts anhaben kann. Wir wissen aber durch die Erfahrungen, die man mit stärkerer Bestrahlung, wie sie vom Röntgenapparat, vom Uran und vom Radium ausgeht, gemacht hat, daß ihr nur einer gewissen Dauer ausgesetzt zu sein uns zu schädigen vermag. Die radioaktiven Strahlen sind eben unsichtbar. Wie können wir ihr Vorhandensein und ihre Stärke feststellen?

Das Instrument, das uns dies ermöglicht, verdanken wir dem deutschen Physiker Hans Geiger, der als eines der Opfer der Röntgenstrahlen 1945 starb. Dieser sogenannte Geigerzähler besteht aus einer Metallhülse, die verdünnte Luft enthält. In ihr befinden sich zwei Metallenden, zwischen denen eine starke Spannung besteht. Wirken radioaktive Strahlen von außen auf diese Röhre ein, so finden zwischen den beiden Metallenden Entladungen statt. Je stärker die Strahlung ist, um so rascher folgen sie aufeinander. Ein in den Apparat eingebautes kleines Gerät macht sie hörbar.   Handelt es sich um starke Strahlungen, so führt der Geigerzähler wahre Trommelwirbel aus.

Es gibt zwei Arten von Bomben: Uranbomben und Wasserstoffbomben.

Die Wirkung der Uranbombe beruht auf dem Vorgang der bei dem Zerfall des Urans frei werdenden Energie. Bei der Wasserstoffbombe beruht das Freiwerden von Energie auf der statthabenden Umwandlung des Elements Wasserstoff in das Element Helium. Interessant ist, daß dies derselbe Vorgang ist, der im Innern der Sonne stattfindet und ihr die sich stetig erneuernde Energie liefert, Licht und Wärme zu spenden. Ihrer Art nach sind die Effekte der beiden Bomben die gleichen. Aber der einer der neuesten Wasserstoffbomben soll, nach manchen Schätzungen, das 200fache derjenigen sein, die auf Hiroshima fiel. Zu diesen beiden Atombomben ist neuerdings die Kobaltbombe als Superatombombe hinzugekommen. Sie ist eine Wasserstoffbombe, die mit einem aus Kobalt bestehenden Mantel umgeben ist. Ihre Wirkung soll die der stärksten bisherigen Wasserstoffbomben um ein Vielfaches übertreffen.

Bei der Explosion einer Atombombe entstehen in unvorstellbar großer Anzahl kleinste Teilchen radioaktiver Elemente. Als solche haben sie mit dem Uran gemein, daß sie in Zerfall begriffen sind. Bei den einen, den stärksten, verläuft dieser sehr rasch, bei anderen langsam, bei anderen außerordentlich langsam. Die allerstärksten dieser Elemente haben schon zehn Sekunden nach der Detonation der Explosion der Atombombe zu existieren aufgehört. In dieser so kurzen Zeit können sie aber in einem Umkreis von mehreren Kilometern Menschen in Menge getötet haben. Übrig bleiben also nur schwächer wirkende Elemente. Mit diesen haben wir es in unserer Zeit zu tun. Die Gefahr, welche die von ihnen ausgehenden radioaktiven Strahlen trotz ihrer relativen Schwäche für uns mit sich bringen können, gilt es einzusehen.

Von diesen Elementen sind die einen nach Stunden, andere nach Tagen, andere nach Wochen oder Monaten oder Jahren oder Millionen von Jahren, in immer zunehmendem Zerfall, im Dasein. In radioaktiven Staubwolken ziehen sie in der Höhe dahin. Schwere Teilchen fallen früher nach unten. Leichtere halten sich länger in der Luft oder kommen im Regen und Schnee hernieder. Wie lange es dauert, bis in der Luft nichts mehr von dem vorhanden ist, was durch die bisherigen Explosionen von Atombomben in die Luft gelangte, läßt sich nicht mit Sicherheit ermessen. Nach manchen Schätzungen soll dies frühestens in 30 oder 40 Jahren der Fall sein. Als Knabe habe ich miterlebt, daß von dem im Jahre 1883 bei der Explosion der dem Archipel der Sundainseln zu gehörigen Vulkaninsel Krakatau in die Luft geschleuderten Staub in Europa in der Luft noch mehr als zwei Jahre lang so viel vorhanden war, daß die Sonnenuntergänge durch diesen Staub in besonderer Pracht stattfanden.

Mit Sicherheit aber können wir behaupten, daß die in der Luft entstandenen Wolken von radioaktivem Staube mit den Winden fort und fort um die Erde reisen und daß etwas von ihrem Staube fort und fort, sei es in freiem Fall, sei es durch Regen, Schnee, Nebel und Tau mitgenommen, allenthalben auf die feste Erdoberfläche, die Flüsse und die Meere niedergeht.

Welcher Art sind die radioaktiven Elemente, bei denen bei Explosionen von Atombomben allerkleinste Teilchen in die Luft flogen und nun wieder herunterkommen werden? Sie sind merkwürdige Abarten von gewöhnlichen, nichtradioaktiven Elementen. Sie haben dieselben chemischen Eigenschaften wie diese, aber ein anderes Atomgewicht. In der Bezeichnung, die sie führen, wird also nach dem Namen des Elements die Zahl ihres Atomgewichts angeführt. Dasselbe Element kann in mehreren radioaktiven Abarten existieren: Neben Jod 131, das nur 16 Tage am Leben ist, gibt es Jod 129, das es auf 200 Millionen Jahre bringt. Gefährliche Elemente dieser Art sind: Phosphor 32, Kalzium 45, Jod 131, Eisen 55, Wismut 210, Plutonium 239, Cerium 144, Strontium 89, Cäsium 137. War die Wasserstoffbombe mit einem aus Kobalt bestehenden Mantel umgeben, so kommt noch Kobalt 60 hinzu.

Besonders gefährlich sind die Elemente, die bei einem relativ langen Bestehen eine relativ starke Strahlung aussenden. Unter diesen nimmt Strontium 90 die erste Stelle ein. In der Menge des radioaktiven Staubes ist es besonders reichlich vorhanden. Auch Kobalt 60 ist als besonders gefährlich anzuführen. Die durch diese Elemente gesteigerte Radioaktivität der Luft kann uns von außen her nichts anhaben. Sie ist nicht stark genug, um unsere Haut zu durchdringen. Anders steht es schon mit ihrem Einatmen, wodurch radioaktive Elemente in unsere Körper gelangen können. Die vor allem in Betracht zu ziehende Gefahr ist aber die, daß wir infolge der erhöhten Radioaktivität der Luft radioaktives Wasser trinken und radioaktive Speisen zu essen bekommen.

Auf Grund der Explosionen auf Bikini und in Sibirien gehen über Japan zeitweise Regen nieder, deren Wasser derart radioaktiv ist, daß es nicht getrunken werden darf. Dies kommt aber nicht dort allein vor. In allen Welt, wo neuerdings Regenfälle Gegenstand der Beobachtung geworden sind, wird zeitweise Niedergang von radioaktivem Regen gemeldet. Darunter sind auch Niederschläge, die so radioaktiv sind, daß ihr Wasser nicht mehr als Trinkwasser in Betracht kommt. Brunnenwasser wird erst durch längeres und reichliches Niedergehen von radioaktivem Regenwasser in erheblichem Maße radioaktiv.

Wird irgendwo radioaktives Regenwasser festgestellt, so will dies heißen, daß die Erde in der betreffenden Gegend auch radioaktiv ist, und zwar in höherem Maße. Sie wird es ja nicht nur durch auf sie gelangenden Regen, sondern auch durch frei fallenden radioaktiven Staub. Und nicht nur die Erde, sondern auch die auf ihr wachsenden Pflanzen sind dann radioaktiv. Was sich an radioaktiven Elementen auf ihr ansammelt, gibt sie an Pflanzen ab. Und diese, was wohl zu beachten ist, speichern die Radioaktivität in sich auf. Infolge dieses Prozesses kann es vorkommen, daß wir es mit einer beträchtlichen auf uns lauernden Menge von radioaktiven Elementen zu tun haben. Handelt es sich um Gras, das Tieren, deren Fleisch einmal auf unseren Tisch kommt, zur Nahrung dient, so werden wir beim Essen dieses Fleisches radioaktive Elemente, die die Tiere durch jenes Gras in sich aufnahmen und aufspeicherten, in uns aufnehmen und aufspeichern. Handelt es sich um Kühe, so findet dieses Aufspeichern der Radioaktivität bereits beim Trinken der Milch statt. Schon kleine Kinder haben dann Gelegenheit, radioaktive Elemente in sich aufzunehmen. Für sie bedeuten sie eine besondere Gefahr. Essen wir Gemüse und Obst, so kommen die in ihnen aufgespeicherten radioaktiven Elemente in unseren Körper.

Um welche Zahlen es sich bei der Aufspeicherung radioaktiven Materials handeln kann, läßt sich aus Feststellungen ermessen, die man bei der Untersuchung der Radioaktivität des Columbiaflusses in Nordamerika machte. Verursacht war sie durch Abwässer der Atomenergie der für die Industrie  produzierenden Hanford-Atomwerke, die in den Columbiafluß münden. Die Radioaktivität des Wassers war nicht bedeutend, aber die des in ihm befindlichen Planktons war es 2000mal mehr, die von Enten, die sich von diesem Plankton nährten, 40000mal mehr, die der Flußfische 150000mal mehr; die von jungen Schwalben, die von den Eltern mit Wasserinsekten gefüttert wurden, 500000mal mehr, die des Eigelbs von Wasservögeln über 1000000mal mehr.

Wenn uns immer wieder von amtlicher und nichtamtlicher Seite versichert wird, daß eine festgestellte erhöhte Radioaktivität der Luft noch nicht über das hinausgehe, was der menschliche Körper ohne Schaden ertragen könne, so ist dies ein Vorbeireden an dem Problem. Werden wir auch nicht in direkter Weise durch die radioaktiven Elemente der Luft geschädigt, so doch in indirekter; durch das, was davon schon heruntergekommen ist, noch herunterkommt und noch herunterkommen wird. Dies nehmen wir im radioaktiven Wasser und in unserer pflanzlichen und tierischen Nahrung auf in dem Maße, als es in unserer Gegend in den für uns in Betracht kommenden Pflanzen aufgespeichert war. Die Natur wuchert — zu unserem Schaden — mit dem, was ihr von der Luft herkommt. Keine Radioaktivität der Luft, die durch die bei Explosionen entstandenen radioaktiven Elemente verursacht wurde, ist so geringfügig, daß sie nicht auf die Dauer durch Bereicherung dieser Elemente in unserem Körper sich zu einer Gefahr für uns auswachsen kann.

Was unser Körper an radioaktiven Elementen auf nimmt, wird in seinem Zellgewebe nicht gleichmäßig verteilt, sondern an besonderen Orten abgelagert, vornehmlich im Knochengewebe, wohl auch in der Milz und in der Leber. Von diesen Orten aus findet dann eine von innen kommende Bestrahlung statt, durch welche die für sie empfindlichen Organe in besonderer Weise geschädigt werden. Was ihr an Kraft abgeht, ersetzt diese Strahlung durch Dauer. Durch Jahre hindurch ist sie Tag und Nacht in Gang. Auf welche Weise werden die Zellen eines Organs durch sie geschädigt? Dadurch, daß die Zellen durch die Strahlung ionisiert, das heißt elektrisch geladen werden. Diese Veränderung hat zur Folge, daß in diesen Zellen die chemischen Prozesse, mit denen sie die ihnen im  Körperhaushalt zufallenden Aufgaben auszuüben haben, nicht mehr in der rechten Weise ablaufen. Sie vermögen ihre für uns lebenswichtigen Funktionen nicht mehr auszuüben. In Betracht kommt auch, daß durch die Strahlung Zellen eines Organs in großer Zahl degenerieren oder zugrunde gehen können.

Welche Erkrankungen kann die von innen her erfolgende Strahlung zur Folge haben? Diejenigen, die wir als von der von außen kommenden radioaktiven Strahlung verursacht kennengelernt haben. In der Hauptsache handelt es sich um schwere Erkrankungen des Blutes. Die Zellen des Knochenmarks, in denen die roten und weißen Blutkörperchen gebildet werden, die in Menge in unserem Blute vorhanden sind und es befähigen, eine so große Rolle zu spielen, sind sehr empfindlich für radioaktive Strahlen. Erkranken sie unter ihrer Einwirkung, so hat dies zur Folge, daß von ihnen zu wenig weiße Blutkörperchen oder abnorme, in Degeneration begriffene produziert werden. In beiden Fällen kommt es zu Blutkrankheiten, die in den meisten Fällen zum Tode führen. Daran sind die Märtyrer der Röntgen- und Radiostrahlen gestorben. An einer dieser Krankheiten litten die japanischen Fischer, die in einer Entfernung von 150 Kilometern von Bikini mit ihrem Schiff in den Aschenregen der Explosion einer Wasserstoffbombe rieten. Frisch und relativ leicht erkrankt, konnten sie, bis auf einen, durch  Infusionen, in denen ihnen fort und fort gesundes Blut zugeführt wurde, gerettet werden.

In den angeführten Fällen handelt es sich um von außen her kommende Strahlung. Daß die von innen her kommende, durch Jahre hindurch auf das Knochenmark wirkende Strahlung dieselbe Wirkung haben wird, ist leider sehr wahrscheinlich, besonders da ja die Strahlung vom Knochengewebe aus auf das Knochenmark geht. Wie schon gesagt, speichern sich die radioaktiven Elemente ja mit Vorliebe im Knochengewebe an. Zugleich mit unserer Gesundheit ist auch die unserer Nachkommen durch die in uns von innen her stattfindende radioaktive Strahlung gefährdet. Überaus empfindlich für sie sind nämlich die Zellen der für die Fortpflanzung in Betracht kommenden Organe. Bei ihnen bewirkt sie sogar eine Schädigung des Zellkernes, die im Mikroskop sichtbar gemacht werden kann. Der so tief gehenden Schädigung dieser Zellen entspricht eine ebenso tiefgehende der Nachkommenschaft. Sie besteht in Totgeburten und Mißgeburten, sei es mit körperlichen, sei es mit geistigen Defekten. Auch hier können wir uns auf das berufen, was die radioaktiven Strahlen, in der Einwirkung von außen her, schon angerichtet haben.

Tatsache ist, wenn auch die in der Presse im Umlauf befindlichen Statistiken der Nachprüfung bedürfen, daß in Hiroshima in den Jahren nach dem Abwurf der Atombombe abnorm viele Totgeburten zu verzeichnen waren und abnorm viele Kinder mit Mißbildungen zur Welt kamen. Um über diese Frage ins klare zu kommen, in welcher Weise radioaktive Strahlen sich auf die Nachkommenschaft auswirken, hat man Nachforschungen angestellt, ob zwischen derjenigen von Ärzten, die Jahre hindurch Röntgenapparate bedienten, und derjenigen von solchen, bei denen dies nicht der Fall war, ein Unterschied bestünde. Die Untersuchung erstreckte sich auf etwa 3000 Ärzte jeder Gruppe. Ein nicht zu übersehender Unterschied gab sich kund. In der Nachkommenschaft der Radiologen gab es 14,03 pro Tausend Totgeburten, bei den anderen Ärzten nur 12,22 pro Tausend. Angeborene Fehler bei den ersten 6,01 Prozent der Kinder, bei den letzteren nur 4,82 Prozent. Die Zahl der gesunden Kinder betrug bei den ersteren 80,42 Prozent, bei den letzteren bedeutend mehr, nämlich 83,23 Prozent. Zu bemerken ist, daß auch die schwächste von innen her kommende Bestrahlung sich auf die Nachkommen schädigend auswirken kann. Die ganze Verheerung, welche die bei den Vorfahren stattgehabte radioaktive Strahlung in den Nachkommen anrichtet, wird sich nach den in der Vererbung geltenden Gesetzen nicht gleich in den folgenden Generationen, sondern erst in den späteren, nach 100 oder 200 Jahren, offenbar.

So wie die Dinge liegen, kann man also noch keine stattgehabten Fälle der schweren und schwersten Fälle anführen, welche die von innen kommende radioaktive Strahlung verursacht hätte. Soweit sie besteht, ist sie ja noch nicht in der Stärke vorhanden und noch nicht lange genug wirksam, daß sie die in Frage kommenden Schäden hätte anrichten können. Man kann nichts anderes tun, als von den Schäden, welche durch von außen kommende Strahlen verursacht werden, auf die zu schließen, welche von der von innen wirkenden Strahlung einmal zu erwarten sein können. Ist diese Strahlung nicht so stark wie jene, so kann sie es nach und nach dadurch werden, daß sie Jahre hindurch ununterbrochen wirkt und damit eine Leistung erreicht, die ähnliche Folgen haben kann, wie sie die von außen kommenden an sich stärkeren Strahlen hatten. Ihre Wirkungen summieren sich. In Betracht zu ziehen ist auch, daß diese Bestrahlung nicht wie die von außen kommende Schichten von Haut, Bindegewebe und Muskeln durchdringen muß, um die Organe zu treffen. Sie bestrahlt sie aus der Nähe und in keiner Weise abgeschwächt.

Vergegenwärtigt man sich die Bedingungen, unter denen die Bestrahlung von innen her stattfindet, hört man auf, gering von ihr zu denken. Wenn es auch wahr ist, daß man in Sachen der Gefährdung durch sie vorerst noch keine Fälle anführen, sondern nur Befürchtungen äußern kann, so sind diese in Tatsachen doch so tief begründet, daß sie für unser Verhalten das Gewicht von Wirklichkeiten annehmen. Wir sind also genötigt, jede Steigerung der bereits bestehenden Gefahr durch weiterhin stattfindende Erzeugung von radioaktiven Elementen durch Explosionen von Atombomben als ein Unglück für die Menschheit anzusehen, das unter allen Umständen verhindert werden muß.

Ein anderes Verhalten kann für uns schon allein darum nicht in Betracht kommen, weil wir es im Hinblick auf die Folgen, die es für unsere Nachkommenschaft haben könnte, nicht zu verantworten vermögen. Dieser droht ja die erste und furchtbarste Gefahr. Daß in der Natur von uns geschaffene radioaktive Elemente vorhanden sind, ist ein unfaßliches Ereignis in der Geschichte der Erde und der Menschheit. Es zu unterlassen, sich mit der Bedeutung und seinen Folgen abzugeben, ist eine Torheit, welche die Menschheit furchtbar teuer zu stehen kommen kann. In Gedankenlosigkeit wandeln wir in ihr dahin. Es darf nicht sein, daß wir uns nicht noch beizeiten aufraffen und die Einsicht, den Ernst und den Mut aufbringen, ihr zu entsagen, um uns mit der Wirklichkeit auseinanderzusetzen.

Im Grunde denken die Staatsmänner der Atombomben bauenden Völker nicht anders. Durch die ihnen zugehenden Berichte sind sie genügend unterrichtet, um sich ein Urteil zu bilden. Und Verantwortungsbewußtsein müssen wir bei ihnen auch voraussetzen.

Jedenfalls lassen Amerika und Rußland und England einander neuerdings wissen, daß sie nichts Besseres verlangen, als miteinander ein Abkommen über die Einstellung der Versuche mit Atomwaffen zu schließen. Zugleich erklären sie aber, daß sie, solange ein solches Abkommen nicht besteht, nicht davon ablassen können, weitere Versuche zu machen. Warum kommen sie nicht dazu, ein Abkommen abzuschließen? Der letzte und eigentliche Grund ist, daß eine öffentliche, dies verlangende Meinung in ihren Ländern nicht vorhanden ist und auch sonst bei keinen Völkern, die Japaner ausgenommen. Diesen wurde sie dadurch aufgenötigt, daß sie von den üblen Folgen der Gesamtheit der Versuche fort und fort in schwerster Weise betroffen werden und dadurch in eine bemitleidenswerte Lage kommen.

Ein Abkommen wie dieses erfordert Zuverlässigkeit und Vertrauen. Die Garantien müssen vorhanden sein, daß es von keinem der Partner mit aus dem Grunde abgeschlossen wird, daß ihm dadurch nebenbei ein erheblicher, nur von ihm vorauszusehender, taktischer Vorteil erwächst. Es muß von einer den betreffenden Völkern gemeinsamen, öffentlichen Meinung eingegeben und ratifiziert werden.

Wenn also in den Ländern, für die das Abkommen in Betracht kommt, und in den Völkern überhaupt eine öffentliche Meinung entsteht, die sich von den großen Gefahren der Fortsetzung der Versuche Rechenschaft gibt und sich durch die damit gebotene Vernünftigkeit leiten läßt, können die Staatsmänner sich über ein Abkommen, die Versuche zu unterlassen, einigen. Eine öffentliche Meinung dieser Art bedarf zu ihrer Kundgebung keiner Abstimmungen und keiner Kommissionsbildung. Sie wirkt durch ihr Vorhandensein. Kommt es zur Einstellung der Versuche mit Atombomben, so ist dies die Morgendämmerung des Aufgehens der Sonne der Hoffnung, auf die unsere arme Menschheit ausschaut.

Albert Schweitzer: Appell an die Menschheit (stark gekürzt in der Printausgabe – hier vollständig). Bspw. in: Albert Schweitzer, Ausgewählte Werke in fünf Bänden. Band 5. Berlin: Union-Verlag 1971, S. 564–577 .

Am 23. April 1957 ließ der Friedensnobelpreisträger über Radio Oslo diesen Appell verbreiten. 140 Sender in 50 Ländern übernahmen die Ausstrahlung, andere Staaten, wie auch die USA, verboten die Ausstrahlung. Drei weitere Appelle folgen im April 1958: »Verzicht auf Versuchsexplosionen«, »Die Gefahr eines Atomkrieges«, »Verhandlungen auf höchster Ebene«, a.a.O., S. 578-611.