Antifaschistischer Weltkrieg, Korea, Taiwan, Tibet und die chinesische Revolution
Dr. Wolfram Adolphi, Potsdam
Im Juni 2025 war in den Mitteilungen über den 75. Jahrestag des Beginns des Koreakrieges am 25. Juni 1950 zu lesen. [1] Nunmehr ist ein weiterer 75. Jahrestag zu bedenken: der des Eintritts der Volksrepublik China in diesen Krieg im Oktober 1950. Es ist ein guter Anlass, einen Blick auf die langen Bögen des chinesischen Welt-, Geschichts- und Revolutionsverständnisses zu werfen.
China als Siegermacht im Antifaschistischen Weltkrieg
Am 9. Mai 2025 stand Chinas Partei- und Staatschef Xi Jinping neben dem russischen Präsidenten Wladimir Putin auf der Tribüne am Roten Platz in Moskau, um an den Feierlichkeiten zum 80. Jahrestag des Sieges über den Faschismus teilzunehmen. Zur Einstimmung schrieb er für die russische Presse einen Artikel unter der Überschrift »Aus der Geschichte lernen, um gemeinsam eine bessere Zukunft zu erbauen«. Der Wortlaut ist ein trefflicher Schlüssel zum Selbstverständnis, zum Geschichtsbild und zur Außenpolitik der chinesischen Führung. China – so die Botschaft – ist Siegermacht des Zweiten Weltkrieges und Mitglied des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, und es beansprucht nicht nur die gleichen Rechte wie die anderen Siegermächte und Sicherheitsratsmitglieder, sondern auch die ihm im Westen noch immer verwehrte Achtung für den entscheidenden Anteil seiner Kämpfe am endlichen Sieg.
Das Jahr 2025, so beginnt Xi, »markiert den 80. Jahrestag des Sieges im antijapanischen Widerstandskrieg des chinesischen Volkes, im Großen Vaterländischen Krieg der Sowjetunion und im antifaschistischen Weltkrieg« und zugleich »den 80. Jahrestag der Gründung der Vereinten Nationen«. [2] »Im antifaschistischen Weltkrieg«, so fährt er fort, »kämpften das chinesische und das russische Volk Schulter an Schulter und unterstützten einander. In den dunkelsten Stunden des antijapanischen Widerstandskrieges des chinesischen Volkes kamen Freiwillige der sowjetischen Luftwaffe nach Nanjing, Wuhan und Chongqing, um an der Seite des chinesischen Volkes zu kämpfen, und zwangen die japanischen Invasoren mit großer Tapferkeit zu Luftschlachten, bei denen nicht wenige von ihnen ihr Leben opferten. An einem kritischen Wendepunkt des sowjetischen Großen Vaterländischen Krieges lieferte der legendäre Geheimdienstagent der KPCh Yan Baohang, der auch als ›Richard Sorge des Ostens‹ bekannt wurde, der Sowjetunion erstklassige Geheiminformationen. In den entscheidenden Kriegsjahren stellte die Sowjetunion China große Mengen an Waffen und Ausrüstungen zur Verfügung. China seinerseits sandte dringend gebrauchte strategische Güter in die Sowjetunion.«
Aus den »harten Lektionen« des Krieges, so Xi im Weiteren, müssten nun die Lehren gezogen werden. »Wir müssen Weisheit und Stärke aus dem großen Sieg im antifaschistischen Weltkrieg gewinnen und uns ganz entschieden allen Formen des Hegemonismus und der Machtpolitik widersetzen. Wir müssen, um der Menschheit eine bessere Zukunft zu bereiten, zusammenarbeiten.« Und auch: »Wir müssen eine korrekte Sicht auf den Zweiten Weltkrieg bewahren. China und die Sowjetunion waren die Hauptkriegsschauplätze in Asien und Europa. Die beiden Länder bildeten das Hauptbollwerk des Widerstandes gegen den japanischen Militarismus und den deutschen Nazismus, leisteten den ausschlaggebenden Beitrag zum Sieg im antifaschistischen Weltkrieg. Der antijapanische Widerstandskrieg des chinesischen Volkes begann am frühesten und dauerte am längsten. Vereint unter dem Banner der chinesischen Einheitsfront gegen die japanische Aggression, die von der KPCh angestrebt und geschaffen wurde, führte das chinesische Volk einen unnachgiebigen Kampf gegen die brutalen japanischen Militaristen und besiegte sie. Zu gewaltigen Opfern bereit, schuf das Volk ein unsterbliches Epos des heldenhaften Widerstandes und schließlichen Triumphes. Auf dem europäischen Kriegsschauplatz wuchs die sowjetische Rote Armee zu einer eisernen Flut der Standhaftigkeit und des Heldenmutes, zerschlug Nazideutschlands Ambitionen, befreite Millionen von der brutalen Okkupation und schrieb so das Epos des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg.«
Das Weltkriegsbündnis der Aggressoren: Deutschland mit Japan gegen China
Es werden solche Reden und Artikel im deutschen Machtblock – dem Machtblock der Erben jenes deutschen Faschismus, der im antifaschistischen Weltkrieg niedergerungen wurde! – gewöhnlich als nicht der Rede wert abgetan. China soll eine Rolle gespielt haben bei der Niederringung Deutschlands? – Ja, hat es!, muss man diesen von ewigem Überlegenheitsdünkel getriebenen und seit der »Zeitenwende«-Rede von Bundeskanzler Scholz am 27. Februar 2022 ganz besonders geschichtsvergessenen »Kriegstüchtigkeits«-Aposteln ins Stammbuch schreiben. Indem die chinesischen Kommunisten nach dem Beginn der umfassenden japanischen Aggression in China am 7. Juli 1937 die vom Antikommunisten Jiang Jieshi (Tschiang Kaischek) geführte Guomindang im September 1937 zur »Zweite Zusammenarbeit« [3] genannten antijapanischen Einheitsfront drängten, schufen sie die Voraussetzung für einen Widerstandskampf, der das japanische Regime dazu zwang, seine Pläne zur Eröffnung einer fernöstlichen Front gegen die Sowjetunion aufzugeben. Nichts macht diesen Zusammenhang so deutlich wie die Tatsache, dass, als die faschistischen deutschen Truppen im November 1941 am Stadtrand von Moskau standen und drauf und dran waren, die Hauptstadt einzunehmen, das sowjetische Oberkommando im Wissen um die Gebundenheit der japanischen Truppen in China seine am Pazifik und an der Grenze zur von Japan okkupierten Mandschurei stationierten Gardeeinheiten über die Transsibirische Eisenbahn westwärts holen und damit den Umschwung im Kampf um Moskau einleiten konnte. [4]
Das war so keineswegs vorbestimmt. Das faschistische Deutschland wollte es ganz anders. Als Deutschland und Japan sich im November 1936 in ihrem Antikominternpakt zur Zusammenarbeit gegen den Weltkommunismus miteinander verbanden, verfolgte Japan das Ziel, Jiang Jieshi für diesen Pakt zu gewinnen und zum Partner bei der Errichtung seiner »Großostasiatischen Wohlstandssphäre« zu machen, und das war nicht unrealistisch, denn Jiang hatte seit seiner Machtübernahme 1927 mehrfach seine Bereitschaft zu erkennen gegeben, der Zerschlagung der kommunistischen Partei und ihrer Streitkräfte den Vorrang einzuräumen gegenüber der Zurückdrängung der von Nordosten her Schritt für Schritt in China eindringenden und 1931 die Mandschurei okkupierenden Japaner.
Und so kam es Ende 1937 zu einem Vorgang, der in der westdeutschen Geschichtsschreibung heruntergespielt wird, tatsächlich aber große Aussagekraft für die Beurteilung einer Lage hat, die Xi Jinping in seinem eingangs zitierten Artikel schon als zum Weltkrieg gehörig sieht: Deutschland drängte Jiang Jieshi zur Kapitulation, indem es äußerlich als Vermittler zu agieren vorgab, tatsächlich aber nicht vermittelte, sondern sich auf Japans Seite schlug.
Wie das aussah, erlaube ich mir hier aus einem Aufsatz zu zitieren, den ich im Dezember 1987 an der Beijing-Universität unter Beiziehung chinesischen Akten- und Artikelmaterials verfasst habe. Dort heißt es: »[Botschafter] Trautmann übt solchen Druck im Grunde längst aus – am 5. November [1937] in seinem ersten ›Vermittlungs‹-Gespräch mit Jiang Jieshi noch zurückhaltend; offener schon am 8. November 1937, als er [dem einflussreichen und außenpolitisch sehr erfahrenen Finanzminister] Kong Xiangxi nachdrücklich klarzumachen versucht, dass, wenn China nicht auf die japanischen ›Friedens‹-Bedingungen einzugehen bereit ist, ›es […] nach einiger Zeit eine Revolution in China geben [würde], und die Roten […] an die Macht kommen [würden]‹. Am 9. November benutzt Falkenhausen [der Chef der deutschen Militärberater bei Jiang Jieshi] gegenüber Kong Xiangxi und dem stellvertretenden Chef des Generalstabes, Bai Chongxi, genau die gleichen Argumente von einer ›kommunistischen Gefahr‹. Am 2. Dezember, bei seiner zweiten ›Vermittlungs‹-Begegnung mit Jiang, erhöht Trautmann den Druck zur Kapitulation weiter. Ende Dezember 1937, als Japan erneut verschärfte ›Friedens‹-Bedingungen formuliert, tut – wie Cai Dexin und Yang Lixian [in ihrem Aufsatz »Taodeman ›tiaoting‹ chu tan« (Zur ›Vermittlung‹ Trautmanns) in der Zeitschrift Minguo dang’an, Nanjing, Heft 1/1987, S. 100 ff.] überzeugend nachweisen – ›die deutsche Regierung das Äußerste, um die chinesische Regierung zu direkten Gesprächen mit Japan zu zwingen‹. Zu diesem Äußersten gehört auch die Forderung an China, ›sich aller Versuche freundschaftlicher Annäherung an Russland zu enthalten‹, da solche Versuche Deutschland veranlassen müssten, seine ›Beziehungen mit China zu überprüfen‹.« [5]
Dass Jiang Jieshi sich auf die deutsche Erpressung nicht einlassen konnte, lag ganz ursächlich an dem Druck der Kommunisten, die nie zu einer Kapitulation bereit waren und mit dieser Haltung und der auf ihr basierenden Praxis des in der chinesischen Bevölkerung verankerten Widerstandskampfes jene Kraft gewannen, mit der sie nach dem Sieg über Japan auch den Bürgerkrieg mit der Guomindang 1946-1949 für sich entscheiden konnten. [6]
Korea, Tibet, Taiwan: drei Konflikte in der Nachkriegsspaltung der Welt
Aber dieser Bürgerkrieg brachte China nicht den erhofften Frieden, sondern, weil sein Ergebnis den Interessen des Westens nicht entsprach, neue, in ihrer Schärfe existenzbedrohende Konflikte. Er war kein isolierter Vorgang, sondern Teil und Ausdruck der direkt mit dem Kriegsende in Gang gesetzten Spaltung der Welt unter den eben noch vereinten Siegermächten.
Es muss nicht gerätselt werden, wer die führenden Akteure dieser Spaltung waren. Der klassenbewusste und zielklar antikommunistische britische Premierminister Winston Churchill hat aus seiner Rolle als Vorreiter in dieser Sache nie ein Hehl gemacht. Schon gleich nach der Kapitulation des faschistischen Deutschland im Mai 1945 habe für ihn – so schreibt er in seinem Weltkriegsrückblick – festgestanden, dass »die kommunistische Gefahr an die Stelle des bisherigen Feindes getreten« sei; »deutlich« habe er »die ungeheure Machtentfaltung des sowjetrussischen, über wehrlose Länder dahinbrausenden Imperialismus« wahrgenommen; und in Sorge, dass in den USA die Gefahr nicht klar genug erkannt werde, habe er Präsident Harry S. Truman ein Telegramm gesandt, in dem er »das Schlagwort vom ›Eisernen Vorhang‹ prägte«. Dies sei – so bekannte er – »von allen Dokumenten«, die er »dieser Frage halber geschrieben« habe, dasjenige, nach dem er »am liebsten […] beurteilt werden« wolle. Vom »enormen moskowitischen Vormarsch ins Herz Europas« ist in diesem Telegramm die Rede und von der Sorge, dass sich »die Aufmerksamkeit unserer Völker« so sehr »mit der Bestrafung Deutschlands, das ohnehin ruiniert und ohnmächtig darniederliegt, beschäftigen« werde, »dass die Russen, falls es ihnen beliebt, innerhalb sehr kurzer Zeit bis an die Küsten der Nordsee und des Atlantik vormarschieren können.« [7]
Am 5. März 1946 bekräftigte Churchill in seiner berühmt gewordenen Rede in Fulton in den USA seine Ansichten zum »Eisernen Vorhang« mit den Worten, dass das reale Nachkriegseuropa »sicher nicht das befreite Europa« sei, »um dessen Aufbau wir gekämpft« hätten, und auch »keineswegs ein Europa, das die Voraussetzungen für einen dauerhaften Frieden birgt«. [8] Einige Tage später legte er nach: »Der Fortschritt und die Freiheit aller Völker der Welt« könnten »nicht verwirklicht werden […] ohne die beharrlichen, ehrlichen und vor allem beherzten Bemühungen des britischen und amerikanischen Gesellschaftssystems.« [9] Am 19. September 1946 beschwor er in Zürich die Idee der »Schaffung einer Art Vereinigter Staaten von Europa«, die verwirklicht werden müsse auf der Grundlage eines »Glaubensbekenntnisses, an dem Millionen Menschen verschiedener Zunge bewusst teilnehmen müssen«, und der »erste Schritt« zu dieser »Neufassung der europäischen Völkerfamilie« müsse in einem »Zusammengehen von Frankreich und Deutschland« bestehen. [10] Denn »ohne Hilfe der Deutschen« – so legte er wenig später nach – sei es »unwahrscheinlich, dass ein Einbruch der Sowjets in Westeuropa jemals […] zurückgeschlagen werden konnte.« [11]
Was hat das alles mit China zu tun? Nun, Churchills Positionen wurden zu Grundzügen der Strategie und Politik der imperialistischen Welt in Europa und Asien zugleich. In Europa gab es für Churchill nur zwei Seiten: hier »uns« – sprich: die USA und Westeuropa – und da »den moskowitischen Vormarsch«, und in Ostasien war es das Gleiche: da sah er im Koreakrieg die »kommunistischen Versuche kulminieren«, den »Westen zu beunruhigen, die nationalistischen Gefühle in Asien auszunutzen und sich vorgeschobener Stellungen zu bemächtigen«, und war sich darum mit Truman darin einig, dass, »wenn wir den Untergang Südkoreas zuließen«, dies »die kommunistischen Führer ermutigen [würde], unseren Küsten näher gelegene Länder zu überrennen«, weshalb der US-Präsident auch Recht habe mit seiner Auffassung, dass im Falle des Nichteingreifens der USA »der dritte Weltkrieg fällig« gewesen sei. [12]
Die USA mit ihrem Koreakrieg und ihrem Vormarsch bis an die chinesische Grenze darin der große Weltfriedensstifter: So sah es die in der NATO seit 1949 militärisch organisierte westliche Welt, und in diese Anschauung passt genau das nicht hinein, was Xi Jinping heute einfordert: die Anerkennung Chinas als gleichberechtigte Siegermacht mit gleichberechtigten Interessen und Ansprüchen. Wie denn sollte chinesischerseits begreifbar sein, dass sich die USA im Koreakrieg anmaßten, im Resultat des gemeinsam mit China erfochtenen Sieges über den Aggressor Japan nun ihrerseits ein Herrschaftsgebiet direkt an Chinas Grenze – und damit Tausende Kilometer entfernt vom Territorium der USA – zu beanspruchen, dafür Krieg gegen China zu führen und sich für diesen Krieg des japanischen Territoriums und der japanischen Wirtschaftskraft – also der Potentiale des gerade noch gemeinsamen Gegners – zu bedienen? Und wie war zu erklären, dass die USA, nachdem sie mit ihrer Unterstützung der Guomindang im Bürgerkrieg gescheitert waren, sich nun als Schutzmacht Taiwans gerierten – also als Schutzmacht der auf diese zu China gehörenden Insel geflohenen Guomindang-Regierung unter Jiang Jieshi – und dafür sorgten, dass diese unter dem Namen »Republik China« in der UNO ihren Alleinvertretungsanspruch für ganz China zelebrieren durfte?
Die weltpolitischen Rechtfertigungen, wie sie Churchill und Truman für das Eingreifen der USA in Korea fanden, haben – wie umfassend belegt ist – keine solide Grundlage. Weder die sowjetische noch die chinesische Führung hatten ein Interesse an militärischer Einmischung oder gar einem eskalierenden Krieg. Sowohl Mao Zedong als auch Stalin hatten ein viel zu klares Bild davon, dass sich die wirtschaftlichen Verhältnisse ihrer im Krieg schwer geschundenen Länder unter einem neuerlichen Krieg nur weiter verschlechtern konnten, und beide sahen sich in der Herausforderung, die Ergebnisse ihrer Siege zu konsolidieren, mit ungeheuren gesamtgesellschaftlichen Aufgaben konfrontiert. Zudem zogen die erheblichen strategischen Widersprüche zwischen Mao und Stalin einem gemeinsamen Auftreten enge Grenzen. »Es spricht vieles dafür«, schreibt Eva-Maria Stollberg in ihrer vorzüglich recherchierten Untersuchung zum sowjetisch-chinesischen Verhältnis, »dass Stalin im März 1949 einen Konflikt in Korea voraussah und ein direktes militärisches Engagement der Sowjetunion vermeiden wollte.« [13] Jonathan D. Spence vermerkt in seinem Fundamentalwerk »Chinas Weg in die Moderne« für den Sommer 1950, dass sich Mao Zedong und die Seinen »nicht recht im klaren« darüber gewesen zu sein schienen, »welchen Kurs sie steuern sollten«, [14] und dass die chinesische Presse nach dem Beginn des Koreakrieges diesem nach anfänglich »schrillen Tönen« gegen Südkorea »kaum mehr Beachtung« geschenkt hätte. Die Chinesen hätten »keine Waffenhilfe in Aussicht« gestellt, und »selbst der erste Sieg der nordkoreanischen Streitkräfte über die amerikanischen Truppen« habe »nur ein geringes Echo« gefunden. [15] Zudem habe es im August 1950 »komplizierte Verhandlungen« in der UNO über die Frage gegeben, »ob der VR China als Gegenleistung für eine Vermittlung im Koreakrieg ein Sitz im Sicherheitsrat zugebilligt werden sollte,« die US-General McArthur als Oberbefehlshaber der UN-Streitkräfte in Korea [16] jedoch dadurch konterkariert habe, dass er Jiang Jieshi »in freundschaftlichen Gesprächen erneut Unterstützung für sein Regime« angeboten und »Taiwan als Teil der ›Inselkette‹ mit amerikanischen Luftstützpunkten« bezeichnet habe. [17]
Bruce Cumings als bedeutender Korea-Chronist vertritt vor diesem Hintergrund die Auffassung, dass es »die Roll-Back-Strategie [der USA – W. A.] selbst« war, die »zu Chinas Intervention führte, und nicht erst das Erscheinen der amerikanischen Truppen am Yalu-Fluss,« und er verbindet diese Ansicht mit einem Befund, der mit den Überzeugungen Xi Jinpings hinsichtlich des Charakters des Zweiten Weltkrieges korrespondiert: Das Eingreifen Chinas in den Koreakrieg habe nicht nur – und vielleicht nicht einmal vordergründig – mit der Überschreitung des 38. Breitengrades durch die US-Truppen zusammengehangen, sondern vielmehr mit der »Verpflichtung« Chinas, zurückzugeben, was »so viele Koreaner in der chinesischen Revolution und im antijapanischen Widerstandskrieg an Opfern gebracht« hatten. [18]
Das ist es, womit sich Churchill, Truman und die Ihrigen im Westen nicht abfinden wollten und wogegen sie die Schaffung eines weltumspannenden Netzes der eigenen Herrschaftssicherung betrieben: dass dem Handeln der chinesischen wie auch der koreanischen, mongolischen, vietnamesischen und anderen südostasiatischen Kommunisten im Weltkrieg ein revolutionärer Impetus innewohnte, der sowohl gegen den japanischen Aggressor als auch gegen die Kolonialherrschaft im Allgemeinen gerichtet war.
Für die Führung der VR China schloss der revolutionäre Impetus ganz selbstverständlich die Einbeziehung Tibets und Taiwans in ihr Staatsgebiet ein – und zwar nicht als außen-, sondern innenpolitische Frage. Das wurde in den ersten Wochen und Monaten nach der Gründung der Volksrepublik international auch noch kaum in Frage gestellt. So sei man – wie Spence schreibt – im Sommer 1950 im US-amerikanischen Außenministerium bereits daran gegangen, »die offizielle Erklärung, die nach der Eroberung Taiwans durch die Kommunisten verlautbart werden sollte, aufzusetzen.« [19] Der westliche Furor entfaltete sich erst allmählich; die Hardliner à la Churchill gewannen zunächst nur schrittweise, dann aber mit großer Wucht die Hegemonie. [20] Am Anfang jedenfalls sah es Jonathan D. Spence zufolge so aus: Das chinesische Militär »konzentrierte sich nach der Eroberung der Insel Hainan durch Lin Biaos Truppen im April auf die letzten beiden Aspekte der Konsolidierung des Staatsgebiets: die Eroberung Tibets und Taiwans. Die Operationen in Tibet waren zwar logistisch schwierig, stellten aber die mittlerweile kampferprobten Truppen der VBA [21] vor keine sonderlichen Herausforderungen, zumal die Briten seit der Entlassung Indiens in die Unabhängigkeit (1947) ihr einst starkes Interesse an Tibet als Pufferstaat verloren hatten. Im Oktober 1950 marschierten kommunistische chinesische Truppen in Tibet ein, um das Land ›von imperialistischer Unterdrückung zu befreien‹. Trotz des heftigen Protestes der Tibeter […] intervenierten weder die Vereinten Nationen noch Indien oder Großbritannien, und so konnten die Chinesen die Schlüsselstellungen binnen Jahresfrist besetzen.« [22]
Indien, das von der Eingliederung Tibets ins chinesische Staatsgebiet besonders betroffen war, verhielt sich übrigens – und das gehört zum Bild des Jahres 1950 unbedingt dazu – keineswegs so holzschnittartig wie der Westen, sondern trat im Koreakrieg als Vermittler auf. B. N. Mullik, langjähriger Berater des ersten Ministerpräsidenten des 1947 unabhängig gewordenen Indien Jawaharlal Nehru (Amtszeit 1947-1964), erinnert sich: »Die Situation änderte sich dramatisch, als im September die amerikanischen Truppen in Inchon landeten. […] Am 2. Oktober 1950 gab Zhou Enlai in einem mitternächtlichen Gespräch mit dem indischen Botschafter, nachdem er Pandit Nehru [23] ausführlich für all das gedankt hatte, was von ihm für den Frieden getan worden war, klar zu verstehen, dass, wenn die Amerikaner den 38. Breitengrad überschritten, China intervenieren würde. […] Premierminister Nehru setzte seine Anstrengungen, Korea den Frieden zu bringen, fort, indem er forderte, die UN-Resolution, mit der die USA autorisiert wurden, die Grenze zu überschreiten, für null und nichtig zu erklären. Aber während Indien und sein Botschafter sich in der Koreafrage engagierten und Zhou Enlai Pandit Nehru äußerlich überschwänglich für seinen Einsatz […] feierte, […] drangen die Chinesen in aller Stille in Tibet ein und realisierten dort ihren lange schon gefassten Plan.« [24] Dennoch – so heißt es später im Buch – »fuhr Indien darin fort, in den Vereinten Nationen Chinas Sache gegen Taiwan zu vertreten,« [25] und dann kommt das langfristig ganz Entscheidende: Am 29. April 1954 unterzeichneten beide Länder nach monatelangen Verhandlungen jenes chinesisch-indische Abkommen, dass als Pancha Shila weltweit bekannt geworden ist. Seine fünf Grundsätze lauten: (1) gegenseitiger Respekt der territorialen Integrität und Souveränität, (2) gegenseitiger Nichtangriff, (3) gegenseitige Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten, (4) Gleichheit und gegenseitiger Nutzen, (5) friedliche Koexistenz. »Es war da nichts Neues in diesen Prinzipien«, schreibt Mullik, »aber sie wurden in dieser Zeit gefeiert als Vorboten einer neuen Ära in den internationalen Beziehungen.« [26]
Vorboten einer neuen Ära. Die chinesische Führung gründet ihr heutiges, im wachsenden Gewicht des BRICS-Zusammenschlusses und der Shanghai-Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit besonders eindrucksvoll zum Ausdruck kommendes Eintreten für eine multipolare Weltordnung und eine starke UNO auf genau diese Prinzipien, und sie hat die indische Regierung darin nicht widerspruchsfrei, aber stabiler werdend an ihrer Seite. Die langen Bögen entfalten ihre Kraft.
25. September 2025
Anmerkungen:
[1] Wolfram Adolphi, Vor 75 Jahren: Beginn des Koreakrieges, in: Mitteilungen der Kommunistischen Plattform der Partei Die Linke, Heft 6/2025, S. 19-23.
[2] Hier und im Weiteren zitiert in eigener Übersetzung aus dem Englischen nach english.scio.gov.cn/m/topnews/2025-05/07/content_117862707.html.
[3] Die Zählung »Zweite Zusammenarbeit« nimmt Bezug auf die »Erste Zusammenarbeit«, mit der die Einheitsfront von Gongchandang (Kommunistischer Partei) und Staats-Volks-Partei (Guomindang) von 1923 bis 1927 bezeichnet wird. Die »Erste Zusammenarbeit« wurde im April 1927 durch Jiang Jieshi mit blutigem Terror gegen die Kommunisten beendet.
[4] Es ist von Bedeutung, darauf hinzuweisen, dass dies alles vor dem Überfall Japans auf Pearl Harbor am 7. Dezember 1941 und dem damit beginnenden Krieg mit den USA stattfand und nicht erst in dessen Folge. So deutlich machte der chinesische Widerstand die ursprünglichen japanischen Pläne zunichte, gleichzeitig Krieg gegen die Sowjetunion und gegen die USA zu führen. Diesen Plänen hatte die Überzeugung zugrunde gelegen, die Chinafrage spätestens 1938/39 »gelöst« zu haben und über ein durch Okkupation »befriedetes« China zu herrschen – wie es ab dem 30. März 1940 im besetzten Ostteil des Landes mit der in Nanjing installierten Regierung des Überläufers Wang Jingwei auch versucht worden war. Wang Jingwei starb im November 1944, seine Regierung wurde 1945 gemeinsam mit der japanischen Besatzung hinweggespült.
[5] Wolfram Adolphi, Das faschistische Deutschland als »Freund«. Archivalien in der VR China zu den Erfahrungen der Guomindang-Regierung 1935-1941, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Berlin (DDR), Heft 3/1989 (37. Jg.), S. 211-227. – Eine von Ma Zhendu besorgte chinesische Übersetzung unter meinem chinesischen Namen An Wuxing ist unter dem Titel »Faxisi Deguo shi Pengyou ma« in Heft 2/1989 der Zeitschrift Minguo Dang’an in Nanjing erschienen (S. 119-130). – Den Artikel siehe auch auf meiner Website asiaticus.de.
[6] Wie wenig Zustimmung in der chinesischen Bevölkerung mit dem Konzept des Antikommunismus zu gewinnen war und wie sehr sich auch die Führung in Tokio in dieser Frage verschätzte, zeigt sich u. a. darin, dass es der Kollaborationsregierung unter Wang Jingwei nichts nützte, dass sie als Nationalflagge die Fahne der Guomindang mit den Worten »friedvoll, antikommunistisch, konstruktiv« bedruckte, um damit nicht nur ihrer Kampfansage an die Kommunisten selbst, sondern auch an die in der »Zweiten Zusammenarbeit« mit den Kommunisten verbundene Jiang-Jieshi-Regierung im unbesetzten Chongqing Ausdruck zu verleihen.
[7] Winston S. Churchill, Der zweite Weltkrieg. Mit einem Epilog über die Nachkriegsjahre, a d. Engl. v. Eduard Thorsch u. a., Fischer Taschenbuch Verlag Frankfurt a. M., 6. Aufl., August 2011, S. 1078 f.
[8] Ebenda, S. 1104.
[9] Ebenda, S. 1105.
[10] Ebenda, S. 1106.
[11] Ebenda, S. 1110. – Dieses Signal ist von den Eliten der westlichen Besatzungszonen schnell und nachdrücklich verstanden worden. Nur ein Beispiel: Als im März 1952 – also zu Zeiten des Koreakriegs – Stalin die Wiedervereinigung Deutschlands zu den Bedingungen »Neutralität mit eigener Streitmacht, Abzug aller fremden Truppen, Friedensvertrag und Beitritt Deutschlands zur UNO« vorschlug, »dachte [Bundeskanzler] Adenauer nicht daran, dieses Angebot, und sei es auch nur um den Schein guten Willens, zu bewahren, zu prüfen und zu diskutieren«, denn er war »überzeugt, dass die Sowjet-Union unter dem vereinten Druck innerer Schwierigkeiten und der ständig wachsenden Stärke des ›freien Westens‹ zusammenbrechen und dass der Kalte Krieg mit einem vom Westen diktierten Frieden enden würde.« (Konrad Adenauer, mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten dargestellt von Gösta v. Uexküll, Reinbek bei Hamburg 1976, S. 95.)
[12] Ebenda, S. 1119. – Die Truman-Passage zitiert Churchill aus dessen Memoiren.
[13] Eva-Maria Stolberg, Stalin und die chinesischen Kommunisten 1945-1953. Eine Studie zur Entstehungsgeschichte der sowjetisch-chinesischen Allianz vor dem Hintergrund des Kalten Krieges, Band 48 der Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa, Stuttgart 1997, S. 220.
[14] Jonathan D. Spence, Chinas Weg in die Moderne, A. d. Amerik. v. Gerda Kurz und Siglinde Summerer, München – Wien 1995, S. 624.
[15] Ebenda, S. 626.
[16] Zur Firmierung der US-Truppen als UN-Streitkräfte siehe Näheres im hier schon genannten Aufsatz zum Koreakrieg in Heft 6/2025 der Mitteilungen.
[17] Jonathan D. Spence, a. a. O., S. 627.
[18] Bruce Cumings, Korea’s Place in the Sun. A Modern History, Updated Edition, New York – London 2005, S. 284.
[19] Jonathan D. Spence, a. a. O., S. 625.
[20] Ein entscheidender Schritt auf diesem Weg in den USA war die Rede des Senators Joseph McCarthy am 9. Februar 1950, mit der begründet wurde, was als McCarthyismus in die Geschichte eingegangen ist (siehe dazu auch Heft 3/2025 der Mitteilungen mit dem Titel »Vor 75 Jahren: McCarthy bläst zur Kommunistenjagd«). – Jonathan D. Spence schreibt dazu: »Die für Amerika so quälende Phase des Antikommunismus, der die Einwanderungs- und Arbeitsgesetzgebung beeinträchtigte, die Drehbuchautoren Hollywoods wie die Medien ganz allgemein behinderte und in den vagen, aber verheerenden Umsturzbeschuldigungen des Senators Joseph McCarthy gipfelte, verhinderte über ein Jahrzehnt lang jede konsequente, unvoreingenommene Bewertung der amerikanisch-chinesischen Beziehungen.« – a. a. O., S. 631.
[21] Volksbefreiungsarmee.
[22] Jonathan D. Spence, a. a. O., S. 623 f.
[23] Pandit Nehru ist ein anderer Name für Jawaharlal Nehru.
[24] B. N. Mullik, My Years With Nehru. The Chinese Betrayal, Allied Publishers Bombay – Calcutta – New Delhi – Madras – Bangalore – London – New York 1971, S. 62 f.
[25] Ebenda, S. 146 f.
[26] Ebenda, S. 151 f. – Zum 70. Jahrestag der Pancha Shila erschien im Aprilheft 2024 der Mitteilungen der Aufsatz »70 Jahre ›Fünf Prinzipien der friedlichen Koexistenz‹«.
Mehr von Wolfram Adolphi in den »Mitteilungen«:
2025-09: Die Opfer von Nagasaki mahnen