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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

50 Jahre nach dem Volksentscheid über die Verfassung der DDR

Prof. Dr. Herbert Graf, Berlin

Nachdenken über Fakten und Zusammenhänge

Der 6. April 1968 – ein Sonnabend – war von der Ostsee bis zum Thüringer Wald, von der Oder bis zur Werra ein außergewöhnlicher Sonnentag. Zwei Wochen vorher hatte die Volks­kammer der DDR die Entscheidung getroffen, an diesem 6. April einen Volksentscheid über die Verfassung der DDR durchzuführen. Ein am gleichen Tage verabschiedetes Gesetz regelte die Modalitäten der Durchführung dieser historischen Entscheidung. Darin wurde auch – entgegen der gängigen Wahlpraxis in der DDR – festgelegt: »Die Abstimmung er­folgt auf dem amtlich vorgedruckten Stimmzettel durch Ankreuzen eines der für ›Ja‹ oder für ›Nein‹ vorgesehenen Felder.« Jeder Bürger, der an diesem einzigen Volksentscheid, der je in Deutschland über eine Verfassung durchgeführt wurde, teilnahm, stand in der Abge­schiedenheit der Wahlkabine vor der Frage, dem seit Jahresbeginn 1968 öffentlich disku­tierten Verfassungsentwurf zustimmen oder ihn abzulehnen. Von den 12.208.968 Stimm­berechtigten bekundeten 11.536.803 (94,49 Prozent) mit Ja ihre Zustimmung zur Verfas­sung. 409.733 Bürger stimmten dem Verfassungsentwurf nicht zu. 24.353 ungültige Stim­men wurden abgegeben. Eine eindeutige Mehrheit der Bürger der DDR hatte sich in gehei­mer Stimmabgabe vor aller Welt für die neue Verfassung ihres Staates bekannt. Der Pro­zess der öffentlichen Verfassungsdiskussion und der Abstimmung über das Dokument wurden von Beobachtern der nationalen und der internationalen Presse begleitet.

Nunmehr, 50 Jahre danach, lohnt es sich zweifellos, an diesen einmaligen demokratischen Akt deutscher Verfassungsgeschichte der vergangenen zwei Jahrhunderte zu erinnern.

Die Blutspur deutscher Verfassungsgeschichte

Die Bestrebungen zur Schaffung eines deutschen Nationalstaats und einer demokra­tischen Verfassungsordnung führten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu ernsten politischen Auseinandersetzungen. 1832 erhoben auf dem Hambacher Fest 25.000 Teil­nehmer Forderungen nach einer demokratischen Ordnung. Das stuften die feudalen Herr­scher als Verschwörung ein und ließen alle Redner verhaften. Als sich ein Jahr danach Pa­trioten in Frankfurt am Main versammelten, machte das Militär kurzen Prozess. Neun Tote und 24 Verletzte gehörten zu den Opfern. In der Mitte des 19. Jahrhunderts erschütterten soziale und politische Forderungen die feudalen Herrschaften in Europa. Das stieß auf den brutalen Widerstand der feudalen Herrscher. Im März 1848 starben in Wien 35 Männer und Frauen im Kugelhagel des Militärs. Wenige Tage danach kam es zu den Märzkämpfen in Berlin, in denen 270 Demonstranten – vor allem junge Arbeiter – vom preußischen Mili­tär niedergemetzelt wurden.

Die Reichsverfassung vom 16. April 1871 wurde von Bismarck im unmittelbaren Ergebnis des militärischen Sieges über Frankreich als Verfassung eines Fürstenbundes gestaltet, in dem der Reichstag ohne Beschlussrecht über Gesetze blieb, während dem Kanzler ein fast unbe­grenztes Entscheidungsrecht eingeräumt wurde. Der deutsch-französische Krieg 1870/71 währte kaum mehr als ein halbes Jahr. 200.000 gefallene Soldaten gehörten zur Bilanz der kriegsführenden Seiten. Im März 1871 entschlossen sich die in der Pariser Kommune (dem Gemeinderat) vereinigten Patrioten der französischen Hauptstadt sich den preußischen Ag­gressoren und dem französischen Militär entgegenzustellen. In den zweiein­halb Monaten der Existenz der Kommune verdichteten sich die Klassenwidersprüche zu den historischen Alter­nativen: Demokratie oder Diktatur, Rätesystem oder bürgerlicher Parla­mentarismus. Sowohl die Volksbewaffnung, eine konsequente Säkularisierung wie die Frau­enemanzipation wurden in diesen wenigen Tagen zum Thema der Zeit. In seiner Analy­se »Der Bürgerkrieg in Frank­reich« bezeichnete Karl Marx die Pariser Kommune als »die endlich entdeckte politische Form, unter der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollziehen konnte«. Marx verwies an glei­cher Stelle darauf, dass »die Mannigfaltigkeit der Deutungen, denen die Kommune unterlag, und die Mannigfaltigkeit der Interessen, die sich in ihr ausge­drückt fanden, beweisen, dass sie eine durch und durch ausdehnungsfähige politische Form war …« [1]

Die Niederschlagung der Pariser Kommune in der letzten Maiwoche 1871 kostete mehr als 30.000 Todesopfer, etwa 40.000 Kommunarden wurden verhaftet und zumeist auf karibi­sche Inseln verbannt. Die Reichsverfassung von 1871 blieb bis zur Verabschiedung der Weimarer Verfassung in Kraft. Auch diese bürgerliche Verfassung entstand in einer Atmo­sphäre politischer Kontroversen und Intrigen und unter Einsatz des Militärs gegen revolu­tionäre Arbeiter und Soldaten. Im Ergebnis der Novemberrevolution war am Ende des Jah­res 1918 die politische Macht in Berlin und in anderen deutschen Zentren in der Hand der Arbeiter- und Soldatenräte. Im Dezember fand in Berlin ein Reichsrätekongress statt. Der Antrag, das Rätesystem zur Grundlage einer deutschen sozialistischen Republik zu ma­chen, wurde entgegen allen Erwartungen abgelehnt. Dagegen fand die Einberufung einer verfassungsgebenden Nationalversammlung eine Mehrheit. Der Historiker Hagen Schulze veröffentlichte 1982, wie die Zusammensetzung dieses Kongresses zugunsten der Befür­worter der bürgerlichen Verfassungslösung manipuliert wurde. [2] Die politischen Verhältnis­se spitzten sich jedoch von Tag zu Tag zu. Am 5. Januar 1919 hatte die Ebert-Regierung fliehend Berlin verlassen. Sechs Tage danach, am 11. Januar 1919, rückten Regierungs­truppen in Berlin ein. Mit Panzern, Artillerie und Maschinengewehren gingen sie gegen die Revolutionäre vor. Vier Tage danach zählte die Berliner Polizei 165 Todesopfer. Am 15. Ja­nuar 1919 wurden Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht ermordet. Vier Tage später, am 19. Januar, fanden in der bedrückenden Atmosphäre dieser dramatischen Ereignisse die Wahlen zur verfassungsgebenden Nationalversammlung statt. Der Weg dahin war freige­schossen.

Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland folgt in vielerlei Hinsicht den rechts­politischen Positionen der Weimarer Verfassung. Was inzwischen gern verschwiegen wird – aber nicht vergessen werden sollte – ist die Tatsache, dass die Erarbeitung des Grundge­setzes auf Anordnung der westlichen Militärgouverneure im zweiten Halbjahr 1948 in einer Atmosphäre harter politischer und sozialer Auseinandersetzungen erfolgte. Im August 1948 fanden in vielen westdeutschen Großstädten Massendemonstrationen und Streiks statt. Am 28. Oktober 1948 legten in Stuttgart annähernd 100.000 Beschäftigte die Arbeit nieder. Sie protestierten gegen Reallohnverlust und für Arbeiterrechte. Amerikanische Truppen setzten Panzer, Kavallerie und Tränengas ein und räumten die von Demonstranten besetzte Innenstadt mit aufgepflanztem Bajonett. In der britischen und in der französi­schen Zone wurden Streiks und Demonstrationen durch die Militärregierungen verboten.

Verfassung ist nicht gleich Verfassung.

Wie der Staatenbildungsprozess ist die Entstehung und die Veränderung von Staatsverfas­sungen in den vergangenen Jahrhunderten außerordentlich virulent verlaufen. Im Jahr 1900 existierten auf dem europäischen Kontinent 22 Nationalstaaten, weltweit waren es im gleichen Zeitraum 50 Staaten. Ein halbes Jahrhundert danach (1950) war die Anzahl der Staaten der Erde auf 84 gewachsen. Danach beschleunigte sich der Prozess der Staaten­bildung. Im Jahr 2000 zählte man 192 Staaten. Die meisten dieser Staaten verfügen über Verfassungen. Bedeutende Staaten wie Großbritannien und Israel organisieren die staatli­che Macht und regeln die Rechte ihrer Bürger ohne ein Verfassungsdokument. Die Verfas­sung der USA stammt aus dem September 1787 und reflektiert in ihrem Kern die Gesell­schaftsvorstellungen einer fernen Vergangenheit. Sie besteht aus sechs Artikeln. Während der vergangenen 250 Jahre wurde das Dokument durch 27 Zusatzartikel unterschiedlicher Bedeutung ergänzt. Der zweite Zusatzartikel von 1791 – er regelt das Recht auf Waffenbe­sitz – macht noch heute die USA zum Eldorado Schießwütiger.

Saudi-Arabien regelt in seinem Grundgesetz von 1993, dass diese absolute Monarchie von dem männlichen Nachkommen des Staatsgründers auf der Basis des islamischen Rechts, der Scharia, geführt wird. Weder Wahlen noch politische Parteien sind zugelassen. Schon dieser kurze Überblick macht die Unterschiedlichkeit von Verfassungsregelungen deutlich und lässt erkennen, dass die oft wiederholte Behauptung von den angeblich universellen Verfassungswerten den Realitäten widerspricht.

Verfassungen reflektieren in ihrem Text und in der Wirklichkeit ihrer Anwendung in jedem Fall den politischen Willen der jeweils herrschenden politischen und ökonomische Kräfte. Daraus folgt, dass sich Verfassungen bürgerlicher Staaten von denen sozialistischer Staa­ten in wesentlichen Fragen grundsätzlich unterscheiden. Das gilt besonders für die Defini­tion der politischen Macht, für die rechtliche und praktische Ausgestaltung der Mitwirkung der Bürger in Staat, Gesellschaft und in der Wirtschaft, ebenso in Hinblick auf die Macht­vollkommenheit der gewählten Volksvertretungen, auf die Rechenschaftspflicht der Regie­rung und der Rechtspflegeorgane gegenüber den gewählten Vertretungen und in der Kardi­nalfrage jeder Gesellschaft, dem Verhältnis zum Eigentum an Produktionsmitteln.

Die Verfassung der DDR von 1968 – ein Programm des politischen und sozialen Fortschritts

Die Verfassung der DDR von 1968 entstand in der Periode, in der die sozialistische Ent­wicklung eine besondere soziale Schubkraft herausbilden konnte. Eingeleitet wurde diese Phase mit der programmatischen Erklärung des Vorsitzenden des Staatsrates vom 4. Ok­tober 1960. Darin hieß es u.a.: »Aber um Menschen zu überzeugen, braucht man nicht nur prinzipielle Klarheit, sondern große Geduld. Nicht die Lautstärke ist ausschlaggebend, son­dern das bessere Argument. Wer das Leben kennt und wer selbst zutiefst von der Gerech­tigkeit und der hohen Moral des Sozialismus erfüllt ist, wem die Wünsche und Sor­gen der Werktätigen nicht fremd sind, der wird immer das richtige Wort und den richtigen Ton fin­den. Menschen zu überzeugen ist eine schwierige, aber schöne und dankbare Auf­gabe. Sie erfordert viel Zeit und Mühe, viel Takt und Fingerspitzengefühl und menschliche Größe«. [3] Zielgerichtet wurde am Beginn der 60er Jahre an der Ausarbeitung eines Neuen ökonomi­schen Systems der DDR gearbeitet, um die Vorzüge der sozialistischen Gesellschaftsordn­ung mit den Erfordernissen der wissenschaftlich-technischen Revolution zu verbinden. In gleicher Zeit wurden wirksame Initiativen entwickelt, um die Arbeit der Volks­kammer und ihrer Ausschüsse zu aktivieren, die Rechte und Verantwortung der örtlichen Staatsorgane zu erhöhen und um das Wahlrecht der Bürger auszubauen. Im April 1963 wurden grundlegende Entscheidungen zur Verbesserung der Rechtspflege in der DDR be­schlossen. Am 15. Jahrestag der Gründung der DDR orientierte Walter Ulbricht darauf: »Die herangereiften gesellschaftlichen Bedingungen machen es erforderlich, der theore­tischen Durchdringung der staatsrechtlichen Ausgestaltung der Rechte und Pflichten noch größere Aufmerksamkeit als bisher zu widmen«. [4] All diese Maßnahmen waren mit einer Verlagerung der Verantwortung von Parteileitungen zu den gewählten Staatsorganen und mit einer erkennbaren Belebung der Beratungen in den gewählten Parteiorganen vom Zentralkomitee bis zu den Grundorganisationen verbunden. Der im April 1967 durchge­führte VII. Parteitag konnte eine positive Bilanz und einen gewachsenen Reifegrad der ge­sellschaftlichen Entwicklung der DDR konstatieren und bestätigte den Vorschlag, eine neue Verfassung der DDR auszuarbeiten.

Am 1. Dezember 1967 tagte die Volkskammer der DDR und gab das Startsignal für die de­mokratische Vorbereitung eines Verfassungsentwurfes. Sie beschloss die Einsetzung einer aus 40 Personen des öffentlichen Lebens bestehenden Kommission zur Ausarbeitung ei­nes Verfassungsentwurfes. Zu deren Unterstützung wurden 20 Fachleute, zumeist Juristen, aber auch Ökonomen, Pädagogen, Philosophen und andere Fachleute als Sachverständige der Kommission beigestellt. Zwei Monate später legte die Kommission der Volkskammer einen Bericht über ihre Arbeit und den Entwurf einer »Verfassung des sozialistischen Staa­tes« vor. Im Ergebnis der Beratung wurde beschlossen: »Die Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik nimmt den Entwurf der sozialistischen Verfassung zur Kenntnis und unterbreitet ihn dem Volk der Deutschen Demokratischen Republik zur umfassenden Aussprache«. [5]

In der Beratung der Volkskammer am 22. März 1968 legte die Verfassungskommission den Abgeordneten einen schriftlichen Bericht über »die Ergebnisse der Volksaussprache zum Entwurf der neuen, sozialistischen Verfassung« vor. Über 11 Millionen Bürger der DDR – eine überwältigende Mehrheit der Erwachsenen – hatte in mehr als 700.000 Begeg­nungen sich an der Verfassungsdebatte beteiligt. Mitgeteilt wurde in dem Bericht: »Bei der Kommission zur Ausarbeitung einer sozialistischen Verfassung der DDR sind 12.454 Vor­schläge eingegangen … Auf Grund der Vorschläge und Anregungen der Bürger wurden 118 Änderungen vorgenommen, wodurch die Präambel und 55 Artikel des Verfassungsentwur­fes eine Änderung erfuhren«. [6]

Herausragendes Merkmal dieser Verfassung der DDR war die Ausgestaltung der Rechte der Bürger als Teilhabe- und Mitwirkungsrechte, während in bürgerlichen Verfassungen Bürgerrechte im Kern als Abwehrrechte gegenüber der (fremden) Staatsmacht definiert werden. Als wesentliche Grundrechte enthielt diese Verfassung der DDR unter anderem: Achtung und Schutz der Würde und der Persönlichkeit (Artikel 19); Gewissens- und Glau­bensfreiheit (Artikel 20); Mitgestaltungsrecht des politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Lebens (Artikel 21); Asylrecht (Artikel 23); Recht auf Arbeit und freie Wahl des Arbeitsplatzes (Artikel 24); Meinungsfreiheit (Artikel 27); Versammlungsfreiheit (Artikel 29); Unverletzlichkeit der Woh­nung (Artikel 37) und weitere gesicherte Rechtsansprüche. Rechte und Pflichten der Bürger waren im Ergebnis der Interessenidentität von Staat und Bürgern einvernehmlich geregelt.

Am 8. April 1968 wurden die Ergebnisse des Volksentscheides dem Vorsitzenden des Staatsrates übergeben. Dieser erklärte am Ende einer würdigen Zusammenkunft der Mit­glieder der Verfassungskommission und der von der Volkskammer eingesetzten Ab­stimmungskommission: »Mit dem mir soeben übermittelten endgültigen Abstimmungser­gebnis des Volksentscheides über die Verfassung der Deutschen Demokratischen Repu­blik sind die verfassungsmäßigen und gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt, um die nun­mehr beschlossene neue Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik zu verkün­den.« [7]

Eingriff und Beseitigung der Verfassung der DDR von 1968

Bekanntlich vollzog der VIII. Parteitag der SED 1971 einen Strategiewechsel in der Gesell­schaftspolitik der DDR. Erkennbar war das sowohl an einer neuen inhaltlichen Ausrichtung der Politik, wie an der rigorosen Art des Vollzugs von Änderungen. Davon zeugen auch die Art und der Inhalt der im Oktober 1974 vorgenommenen Änderungen der durch Volksent­scheid angenommenen Verfassung. Gregor Schirmer, der über Jahrzehnte der Volkskam­mer der DDR angehörte, berichtete darüber, dass am 27. September 1974 die Änderung der Verfassung von 1968 »überfallartig durch die Oberste Volksvertretung gejagt wurde … Die Fraktionen der Volkskammer wurden von dem Projekt überrascht und überrumpelt … Erich Honecker hielt eine kurze inhaltsarme Rede, in der er die beabsichtigten Änderungen aufzählte, aber nicht begründete. Eine Diskussion im Plenum fand nicht statt … Über diese durchaus grundsätzlichen Verfassungsänderungen hätte öffentlich diskutiert werden kön­nen und müssen. Dass das nicht geschah, war der Brisanz verschiedener Neuerungen, vor allem der vielleicht schwerwiegendsten und folgenreichsten, geschuldet. Sie betraf die na­tionale Frage. Gerade dazu verlor der Staatsratsvorsitzende kein Wort«. [8] Insgesamt wurden an diesem grauen Septembertag des Jahres 1974 ohne jede Debatte 40 der 108 Artikel der Verfassung der DDR von 1968 geändert oder auch aus der Verfassung entfernt.

Der Kahlschlag der Reste der Verfassung der DDR von 1968 begann mit dem Niedergang der DDR im Herbst 1989. In den sieben Monaten vom 1. Dezember 1989 bis zum 22. Juli 1990 wurde die Verfassung der DDR zumeist begründet durch bundesdeutsche Interessen 13 Mal partiell geändert. Am 16. Juli 1990 wurde zwischen Gorbatschow und Bundeskanz­ler Kohl die letzte grundlegende Entscheidung über die Beseitigung der DDR getroffen. Am 23. August 1990 erklärte die Volkskammer der DDR »den Beitritt der Deutschen Demokra­tischen Republik zum Geltungsbereich des Grundgesetzes«. [9] Der am 31. August zwischen dem mächtigen Herrn Schäuble (Bonn) und dem dubiosen Herrn Krause (Berlin) abge­schlossene Einigungsvertrag bestimmt in Artikel 3, dass das Grundgesetz der Bundesrepu­blik Deutschland in den Ländern Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen in Kraft tritt. Diese Regelung macht die Rigorosität und mangelnde Rechtskultur bei der Beseitigung der verfassungsmäßigen Rechtsordnung der DDR vor allem in folgender Hinsicht deutlich:

    1. Obwohl die Volkskammer der DDR den Beitritt der Deutschen Demokratischen Repu­blik zum Geltungsbereich des Grundgesetzes beschlossen hatte, wird in der per 3. Oktober neugefassten Präambel des Grundgesetzes kein Wort darüber verloren. Offensichtlich woll­te man das Grundgesetz der Bundesrepublik von dem Begriff Deutsche Demokratische Republik freihalten.

    2. Die Präambel der seit dem 3. Oktober 1990 geltenden Fassung des Grundgesetzes un­terstellt: »Die Deutschen in den Ländern Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfa­len, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thü­ringen haben in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands vollendet.« Die fünf hier aufgeführten ostdeutschen Länder existierten am 3. Oktober 1990 jedoch noch nicht. Sie wurden laut Gesetz erst am 14. Oktober 1990 gebildet. [10]

    3. Nie hat es eine rechtsgemäße Entscheidung über die Außerkraftsetzung der durch Volksentscheid am 6. April 1968 angenommenen Verfassung der DDR gegeben. Der »Eini­gungsvertrag« vom 31. August erklärt in Artikel 3 zwar das Inkrafttreten des Grundgeset­zes in den – noch nicht gebildeten – ostdeutschen Ländern, sagt aber nichts über das Schicksal der Verfassung der DDR aus.

Die Verfassung von 1968 wurde durch Volksentscheid würdevoll angenommen. Sie hätte auch am Ende ihrer Existenz Besseres verdient. Ein Verfassungsentwurf des Runden Tisches vom April 1990 wurde von den Eliten der Bundesrepublik zur Makulatur erklärt. Ein Insider jener Zeit bezeichnete die Konstruktion der »Runden Tische« wohl treffend als »ein Möbelstück für den einmaligen Gebrauch zur friedlichen Abwicklung des Kommunis­mus«. [11] Die seit 1949 verbindliche Festlegung des Artikel 146 des bundesdeutschen Grundgesetzes, die eine »von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossene« Verfassung einforderte, wurde am 5. November 1993 durch den Bundestag liquidiert. [12] Man wollte schließlich keine Vereinigung, keine Symbiose zweier verschieden entwickelter Staaten, sondern den Beginn einer Expansion der Bundesrepublik und des Nato-Gebietes nach Osten.

Herbert Graf, geboren 1930, studierte in Berlin Ökonomie und promovierte an der Juristischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle. Annähernd zwei Jahrzehnte war er Mitarbeiter Walter Ulbrichts. Lehr- und Forschungsarbeiten führten ihn später über 15 Jahre nach Afrika, Asien und La­teinamerika. Er war Inhaber des Lehrstuhls »Staatsrecht junger Nationalstaaten« an der Akademie für Staat und Recht in Potsdam-Babelsberg, seine staatswissenschaftlichen und zeithis­tori­schen Veröffentlichungen fanden auch international Beachtung. Einige wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Graf, der vorher in Mosambik wirkte, leitete in Addis Abeba 1977/78 eine Koordinierungsgruppe im Mitarbeiterstab von Werner Lamberz (www.eulenspiegel.com).

Herbert Graf ist Autor folgender Bücher (edition ost, Berlin):

  • Von der Demokratie zur Agonie, Ursprung, Aufstieg und Niedergang einer guten Idee, 336 Seiten, 16,99 Euro, ISBN 978-3-360-01875-5. 2017, Ende April 2018 wieder lieferbar.
  • Interessen und Intrigen: Wer spaltete Deutschland? Ein Exkurs über internationale Be-ziehungen. 2011, 288 Seiten.
  • Mein Leben. Mein Chef Ulbricht. Meine Sicht der Dinge, Erinnerung. 2008, 542 Seiten.

Anmerkungen:

[1] Karl Marx: Der Bürgerkrieg in Frankreich, in: Karl Marx und Friedrich Engels, Ausgewählte Schriften in zwei Bänden, Ver­lag für fremdsprachige Literatur, Moskau 1951, S. 494.

[2] Hagen Schulze: Weimar-Deutschland 1917-1933, in: Deutsche Geschichte, Bd. 2, Siedler Verlag. 1982 S. 166, sowie Herbert Graf: Von der Demokratie zur Agonie, edition Ost, 2017, S. 226-227.

[3] Walter Ulbricht: Programmatische Erklärung des Staatsrates der DDR vor der Volkskammer der DDR, Sonderdruck der Schriftenreihe des Staatsrates der DDR. S. 98.

[4] Walter Ulbricht: Rede zum 15. Jahrestag der Gründung der DDR am 6. Oktober 1964; in: Schriftenreihe des Staatsrates der DDR 7/1967, S. 60.

[5] Entschließung der 7. Sitzung der Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik zum Bericht der Kommission zur Ausarbeitung einer sozialistischen Verfassung der DDR vom 31. Januar 1968, Abs. 2.

[6] Schriftlicher Bericht über die Ergebnisse der Volksaussprache zum Entwurf der neuen sozialistischen Verfassung der DDR und die Änderungen im Verfassungsentwurf; in: K. Sorgenicht, W. Weichelt, T. Riemann, H.-J. Semler (Hrsg.) Verfas­sung der DDR Dokumente/Kommentar, Staatsverlag der DDR, Berlin 1969. S. 150.

[7] Erklärung des Vorsitzenden des Staatsrates der DDR, Walter Ulbricht, zum Bericht der Zentralen Abstimmungskom­mission über den Volksentscheid am 8. April 1968; in: Verfassung der DDR Dokumente/Kommentar, a.a.O. S. 193.

[8] Gregor Schirmer: Ja, ich bin dazu bereit; Verlag am Park, Berlin 2014, S. 189-191.

[9] Beschluss der Volkskammer über den Beitritt vom 23. August 1990; Quelle: BArch DA 1/4042.

[10] Verfassungsgesetz zur Bildung von Ländern in der Deutschen Demokratischen Republik (Ländereinführungsgesetz); Ge­setzblatt der DDR Teil I Nr. 51, vom 14. August 1990.

[11] Aleksander Kwasniewski; Zitiert in: Die herbeigeredete Revolution; Spiegel online 5.2.2009.

[12] Deutscher Bundestag, Drucksache 12/600, vom 5.11.1993.