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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Nein! 2. Dezember 1914

Dr. Eckhard Müller, Berlin

 

Karl Liebknecht stimmte vor 100 Jahren gegen die Kriegskredite [1]

 

Am 2. Dezember 1914 war auf der Parlamentstribüne des Deutschen Reichstags großer Andrang, als kurz nach 16 Uhr die Beratungen zur zweiten Kriegskreditvorlage eröffnet wurden. Wie vor 44 Jahren im Deutsch-Französischen Krieg Wilhelm Liebknecht im Norddeutschen Reichstag, so lehnte an diesem 2. Dezember 1914 Karl, der Sohn, als einziger Abgeordneter im Deutschen Reichstag die zweite Kriegskreditvorlage der kaiserlichen Regierung ab. Der ersten Kriegskreditvorlage hatte die sozialdemokratische Reichstagsfraktion am 4. August 1914 einstimmig zugestimmt. Mit Mehrheitsbeschluss hatte die Fraktion am 3. August 1914 die Bewilligung der ersten Kriegskredite und zugleich Fraktionszwang für diese Abstimmung beschlossen. Karl Liebknecht schrieb über seine Zustimmung zur ersten Kriegskreditvorlage am 4. August 1914 später einem Genossen: »Mich ganz allein von meinen engsten Freunden aus dem radikalen Lager zu trennen schien mir damals nicht angezeigt – niemand konnte ja diesen Verfall der Partei vorausahnen. Es ging am 3./4. 8. alles Hals über Kopf. Wir hatten nur Stunden, ja Minuten Zeit u. standen zu unserem Schrecken plötzlich vor einer Zersprengung des radikalen Flügels … So fügte ich mich am 4. August mit Zähneknirschen der Mehrheit. Ich habe das selbst von Anfang an aufs tiefste bedauert und bin bereit, mir jeden Vorwurf gefallen zu lassen.« [2]

Er war durch diese Fehlentscheidung in einen tiefen Gewissenskonflikt geraten, zumal bald nach dem folgenschweren Abstimmungsergebnis sich »in der Partei, besonders in ihrer Presse, die bedenklichsten Erscheinungen – Chauvinismus, Annexionssucht, Harmonieduselei; bedingungslose Solidarisierung mit den Todfeinden des Proletariats von gestern und morgen« [3] zeigten, wie er 1915 in seiner illegal verbreiteten Broschüre »Klassenkampf gegen den Krieg« feststellte. Während im allgemeinen Kriegstaumel die ersten, noch blumengeschmückten Regimenter in den Kampf zogen »für Volk und Vaterland«, herrschte in vielen Arbeiterfamilien Verwirrung und Enttäuschung über die Haltung ihrer Parteiführung. Jacob Walcher, zu dieser Zeit sozialdemokratischer Vertrauensmann in Stuttgart, schrieb in seinen Erinnerungen, dass viele linke Sozialdemokraten die Meldung über eine Bewilligung der Kriegskredite durch die sozialdemokratische Reichstagsfraktion zunächst für einen Schwindel hielten. »Mit mehr als 80 gegen 3 Stimmen wurde in einer Resolution sowohl der Reichstagsfraktion als auch dem Parteivorstand das Misstrauen ausgesprochen. Die sozialdemokratischen Vertrauensleute Stuttgarts, von verschwindenden Ausnahmen abgesehen, waren auch mit dem Verhalten Karl Liebknechts unzufrieden.« [4]

Scharfe Kritik vom Wahlverein Stuttgart und im Wahlkreis Potsdam

Die Frage »Was ist nun zu tun?« bewegte Karl Liebknecht bereits ebenso wie die Vertrauensleute in Stuttgart oder die linken Sozialdemokraten, die sich noch am Abend des 4. August 1914 in der Wohnung von Rosa Luxemburg getroffen hatten. Verschiedene Pläne wurden erwogen für eine konsequente Antikriegspropaganda dieser Gruppe, zu der auch Hermann Duncker, Hugo Eberlein, Julian Marchlewski, Franz Mehring, Ernst Meyer und Wilhelm Pieck gehörten. Da sie aber über keine eigene Organisation und kein Presseorgan verfügten, war ein sofortiger zielgerichteter Kampf gegen den Krieg angesichts des verhängten Belagerungszustandes und der Pressezensur fast unmöglich. Es galt nunmehr, wie Rosa Luxemburg in der Einleitung zu ihrer 1915/16 geschriebenen »Junius-Broschüre« schrieb: »Selbstkritik, rücksichtslose, grausame, bis auf den Grund der Dinge gehende Selbstkritik ist Lebensluft und Lebenslicht der proletarischen Bewegung.« [5] Karl Liebknecht stellte sich am 21. September 1914 den Vertrauensleuten des Sozialdemokratischen Wahlvereins Stuttgart und er sprach zum Thema »Der 4. August« [6] »Wenn ich mich recht erinnere«, berichtete Jacob Walcher über die Versammlung in Stuttgart, »haben 10 von 11 Diskussionsrednern, fast ausschließlich Betriebsarbeiter, Karl Liebknecht scharf kritisiert, weil er es unterlassen hatte, den Eindruck der Einstimmigkeit durch unüberhörbare Zwischenrufe oder auf irgendeine andere Weise zu beseitigen. Karl sagte in seinem Schlusswort, er sei im Innersten aufgewühlt und erschüttert. Seit dem 4. August sei er in zahlreichen Parteiversammlungen gewesen. Oft sei er dem Vorwurf begegnet, dass er mit dem Kopf durch die Wand wolle, dass er die Parteibeschlüsse missachte und die Fraktionsdisziplin breche. Hier in Stuttgart sei ihm vorgeworfen worden, am 4. August nicht kühn, energisch und draufgängerisch genug gehandelt zu haben. Und die Genossen hätten recht. Was von ihm am 4. August unterlassen wurde, sei ein schwerwiegender Fehler gewesen. Es bleibe ihm zu versprechen, in Zukunft alles, was in seinen Kräften stehe, zu tun, um das Versäumte nachzuholen und der in- und ausländischen Öffentlichkeit zu zeigen, dass es auch in Deutschland grundsätzliche Gegner der imperialistischen Machenschaften gebe, die fähig und bereit seien, mit ganzer Hingabe für die proletarische Solidarität und den internationalen Sozialismus zu wirken.« [7] Auf einer Versammlung seines Wahlkreises in Potsdam am 4. November wurde Liebknecht mit ähnlichen Diskussionen und Meinungsäußerungen konfrontiert. Nachdrücklich wurde er von den ca. 150 Anwesenden aufgefordert, sich im Reichstag gegen die Fraktionsmehrheit zu stellen und öffentlich gegen die neue Vorlage von Kriegskrediten zu stimmen.

Im November 1914 erarbeitete er Thesen, in denen er die sozialökonomischen Ursachen des Krieges darlegte, die historische Schuld des Deutschen Kaiserreiches am entfesselten Krieg nachwies und die Verweigerung der Bewilligung der Kriegskredite begründete. Er versuchte damit auch, die 13 zur Fraktionsminderheit vom August 1914 gehörenden Abgeordneten zu einem Votum für die Freiheit des Mandats, gegen den Fraktionszwang und gegen die Kriegskredite zu ermutigen. In den Thesen formulierte er: »Dieser Krieg ist nicht für die Wohlfahrt des deutschen Volkes entbrannt. Er ist kein deutscher Verteidigungskrieg und kein deutscher Freiheitskrieg, sondern ein kapitalistischer Angriffs- und Eroberungskrieg … Der höchst einseitige Burgfriede, den man verkündete, ist nichts als eine stilistische Umschreibung der Worte Belagerungszustand und politische Kirchhofsruhe. Das Postulat ›Es gibt keine Parteien mehr!‹ bedeutet nur: Anerkennung des Proletariats als gleichberechtigtes Kanonenfutter.« [8]

Rosa Luxemburg: Parteidisziplin wird vom Programm geprägt

Ab 29. November 1914 tagte die sozialdemokratische Reichstagsfraktion zur zweiten Kriegskreditvorlage der Regierung. In der erregten Debatte zerfiel die Gruppe der Kriegskreditverweigerer. Karl Liebknecht verfocht seine Auffassungen aus den Novemberthesen, wobei er sich auf das Erfurter Parteiprogramm und auf die Antikriegsbeschlüsse der Sozialistenkongresse stützte. Von der Fraktionsminderheit in Stich gelassen, stand er nun völlig allein. Er war jedoch nicht bereit, sich noch einmal dem Fraktionszwang zu beugen und stimmte am 2. Dezember 1914 als einziger Reichstagsabgeordneter gegen die neuen Kriegskredite. Die von Liebknecht beantragte Aufnahme seiner Abstimmungsbegründung ins Verhandlungsprotokoll wurde von Reichstagspräsidenten abgelehnt. Handschriftliche Kopien und ein illegales Flugblatt mit Liebknechts Erklärung zum 2. Dezember kursierten bald. Im »Vorwärts« vom 3. Dezember 1914 beschuldigte der Vorstand der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion Liebknecht des Bruchs der Fraktionsdisziplin. Dagegen verteidigte Rosa Luxemburg die Verweigerung der Kriegskredite durch Liebknecht. In dem Artikel »Parteidisziplin« in der »Sozialdemokratischen Korrespondenz« vom 4. Dezember 1914 betonte sie, dass die Parteidisziplin vom Programm geprägt werde. Karl Liebknecht habe im Sinne des Parteiprogrammes gehandelt, die Fraktion habe es verraten. [9] Bereits am 3. Dezember 1914 hatte Clara Zetkin an den Schweizer Sozialisten Robert Grimm geschrieben: »Ein verhängnisvoller Tag der Geschichte … Der Gang des Krieges hat alle Schleier zerrissen, hat alle Scheingründe zerstört, die seine Berechtigung vom ›nationalen Standpunkt‹ aus vortäuschen konnte. Die Fraktion ist nicht davor zurückgeschreckt. Einen Fehler durch ein Verbrechen decken zu wollen … Liebknecht hat sich als ganzer Mann erwiesen. Er hat mehr Mut und einen besseren Mut benötigt als der vielbesungene [Ludwig] Frank, der unter dem Beifall der Überpatrioten für den Imperialismus ins Feld ging und fiel. Nun wird die Hetze gegen Karl Liebknecht einsetzen. Ich hoffe, die Internationale wird einstimmig ehren, was die engbrüstige Fraktionsdisziplin verdammt. Auch unter den Massen wird L. wachsende Anerkennung finden. Diese beginnen überall aufzuwachen, ihre Opposition wächst, je länger der Krieg dauert. Auch die Fühlung mit ihnen wird besser.« [10] Romain Rolland trug in sein Tagebuch im Dezember 1914 ein: »Allein der mutige Liebknecht lehnt es ab, für die Kriegskredite zu stimmen. Seine Partei distanziert sich von ihm. Ganz Deutschland beleidigt und verhöhnt ihn. Wie einen Schimpf wirft man ihm die Bezeichnungen Einzelgänger und Ausländer an den Kopf. Was für ruhmreiche Beinamen werden sie später für ihn sein!« [11] Karl Liebknecht erreichten außer Zustimmungen auch Schmähbriefe und Morddrohungen, die ihn aber nicht hinderten, weiterhin sein Nein zum Krieg und zu Kriegskrediten im Preußischen Abgeordnetenhaus, im Reichstag, auf Versammlungen, in Sitzungen der Parteigremien, in Artikeln, in Schriften, auf Demonstrationen und Kundgebungen öffentlich zu manifestieren. Karl Liebknechts Nein zu neuen Kriegskrediten am 2. Dezember 1914 war für den Antikriegskampf im ersten Weltkrieg ein Aufbruchssignal und gab den Kriegsgegnern aller Richtungen einen wesentlichen Impuls.

1. Oktober 2014.

Siehe auch Eckhard Müllers Beitrag »›Jetzt oder nie!‹ – Zum 95. Jahrestag der Entfesselung des Ersten Weltkrieges im Sommer 1914« in »Mitteilungen«, Heft 8/2009, S. 10ff.

 

Anmerkungen:

[1] Ausführlich vgl. Annelies Laschitza: Die Liebknechts. Karl und Sophie – Politik und Familie, Berlin 2007, S. 230-262.

[2] Aus einem Brief Karl Liebknechts an einen Genossen vom 18. Februar 1915, in: Karl Liebknecht: Gesammelte Reden und Schriften, Bd. VIII, Berlin 1972, S. 195/196.

[3] Ebenda, S. 23.

[4] Zit. nach Annelies Laschitza unter Mitwirkung von Elke Keller: Karl Liebknecht. Eine Biographie in Dokumenten, Berlin 1982, S. 217.

[5] Rosa Luxemburg: Die Krise der Sozialdemokratie, in: Gesammelte Werke, Bd. 4, 6. überarb. Auflage, Berlin 2000, S. 53.

[6] Vgl. Bericht Karl Liebknechts über die Sitzung der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion am 3. August 1914, in: Karl Liebknecht: Gesammelte Reden und Schriften, Bd. VIII, a. a. O., S. 19-21.

[7] Zit. nach Annelies Laschitza unter Mitwirkung von Elke Keller: Karl Liebknecht. Eine Biographie in Dokumenten, a. a. O., S. 227.

[8] Aus Karl Liebknechts »Thesen« vom November 1914, in: Karl Liebknecht: Gesammelte Reden und Schriften, Bd. VIII, a. a. O., S. 165, 166/167.

[9] Vgl. Rosa Luxemburg: Parteidisziplin, in: Gesammelte Werke, Bd. 4, a. a. O., S. 15-17.

[10] Clara Zetkin an Robert Grimm vom 3. Dezember 1914, in: Horst Lademacher (Hrsg.): Die Zimmerwalder Bewegung. Protokolle und Korrespondenz. II. Korrespondenz, The Hague, Paris 1967, S. 10/11.

[11] Zit. nach Annelies Laschitza unter Mitwirkung von Elke Keller: Karl Liebknecht. Eine Biographie in Dokumenten, a .a. O., S. 243.

 

Mehr von Eckhard Müller in den »Mitteilungen«: 

2009-08: »Jetzt oder nie!« – Zum 95. Jahrestag der Entfesselung des Ersten Weltkrieges im Sommer 1914