NATO militärisch mehrfach Russland überlegen
Greenpeace
Die sicherheitspolitische Debatte in Deutschland und anderen Nato-Staaten ist gegenwärtig von einer Rhetorik der Aufrüstung geprägt […]; dabei wird der Glaube befördert, dass mehr Rüstung mehr Sicherheit bedeutet. Diese Sichtweise geht mit der unterschwelligen Annahme einher, dass die Bundeswehr und die anderen Nato-Armeen einer russischen Aggression wenig entgegenzusetzen hätten. Doch ist diese in der deutschen Gesellschaft weit verbreitete Vermutung, dass die russischen Streitkräfte in einem absehbaren Zeitraum in der Lage wären, das Nato-Bündnis erfolgreich anzugreifen, wissenschaftlich haltbar? […]
- Militärausgaben: Die Nato-Staaten geben derzeit etwa zehnmal so viel Geld für ihre Streitkräfte aus wie Russland (1,19 Billionen US-Dollar zu 127 Milliarden US-Dollar). Selbst ohne die Ausgaben der USA und unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Kaufkraft bleibt das deutliche Übergewicht zugunsten der Nato bestehen (430 Milliarden US-Dollar zu 300 Milliarden US-Dollar). Russland investiert derzeit rund ein Drittel seines gesamten Staatshaushaltes in das Militär (etwa sieben Prozent des BIP) – eine Belastung, bei der fraglich erscheinen muss, ob sie auf Dauer tragbar ist.
- Großwaffensysteme: In sämtlichen dieser Waffenkategorien übertrifft die Nato Russland mindestens dreifach. Beispielsweise verfügen die Nato-Staaten über 5.406 Kampfflugzeuge (hierunter 2.073 in Europa), wohingegen Russland davon nur 1.026 besitzt. Lediglich bei strategischen Bombern erreicht Russland fast die USA (129 zu 140). Zudem hat Russland in vielen Waffenbereichen einen erheblichen technologischen Rückstand auf die Nato, der kaum innerhalb eines Jahrzehnts aufzuholen ist. Darüber hinaus hat Russland bereits jetzt größte Schwierigkeiten, die bei der Invasion in der Ukraine erlittenen Verluste auszugleichen.
- Truppenstärke: Die Nato-Staaten haben über drei Millionen Soldat:innen unter Waffen und verfügen zugleich über ein tiefes Reservoir an Reservist:innen. Im Vergleich dazu hat Russland nur eine Personalstärke von 1,33 Millionen Soldat:innen, davon lediglich ca. 40 Prozent westlich des Urals. Trotz verschiedener Rekrutierungsrunden für den Krieg gegen die Ukraine ist angesichts der Verluste und Desertionen zu bezweifeln, dass eine nennenswerte Erhöhung der Truppenstärke erreichbar ist.
- Militärische Einsatzbereitschaft: Das russische Eingreifen in den syrischen Bürgerkrieg sowie der Verlauf der Invasion in der Ukraine zeigen, dass den russischen Streitkräften wesentliche Fähigkeiten fehlen, um auf dem Niveau der Nato einsatzfähig zu sein. Defizite zeigen sich in Kommandostruktur, Einsatzorientierung sowie der Verlegefähigkeiten von Truppen und Großwaffensystemen. Im Gegensatz hierzu hat die Nato (dabei insbesondere die US-Streitkräfte) ihre Einsatzbereitschaft in den letzten Jahren bei unterschiedlichen Missionen unter Beweis gestellt.
- Rüstungsbeschaffung und -produktion: Die Nato-Staaten dominieren den weltweiten Rüstungsmarkt mit über 70 Prozent des Gesamtumsatzes (der 100 größten Rüstungsfirmen der Welt), während Russlands Anteil hier lediglich 3,5 Prozent ausmacht. Von den 100 weltweit größten Rüstungskonzernen sind 42 aus den USA, 30 aus den restlichen Nato-Staaten. Die Nato-Staaten haben erhebliche finanzielle Mittel bereitgestellt, um die Rüstungsproduktion auszuweiten und die weitere Aufrüstung und Modernisierung voranzutreiben. Regulative Eingriffe in die freie Wirtschaft wurden jedoch bislang nicht vorgenommen, so dass enormes Potenzial zur Steigerung der Produktion von Rüstungsgütern noch nicht aktiviert wurde. Russland dagegen hat mit Beginn des Ukrainekriegs seine Rüstungsproduktion hochfahren müssen und entwickelt sich zu einer Kriegswirtschaft. Der Staat hat damit begonnen, massiv in die Wirtschaft einzugreifen. Die russische Rüstungsindustrie produzierte im ersten Quartal 2024 rund 60 Prozent mehr als noch vor der Invasion, ohne jedoch die im Krieg erlittenen Verluste ausgleichen zu können. Die einseitige Forcierung der Rüstungsproduktion hat jedoch weitreichende ernste Auswirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung in anderen Sektoren und führt zunehmend zu Engpässen auf dem Arbeitsmarkt.
- Atomwaffen: Insgesamt herrscht zwischen Nato und Russland ein strategisches Gleichgewicht bzw. – angesichts der gesicherten gegenseitigen Vernichtungsfähigkeit – ist ein nukleares Patt zu bilanzieren. Die drei Nato-Nuklearwaffenstaaten USA, Frankreich und Großbritannien verfügen zusammen über 5.559 Nuklearsprengköpfe, Russland über 5.580. Die USA und Russland unterhalten beide die nukleare Triade, sie haben also ihre Atomwaffen auf Raketen, U-Booten und Flugzeugen stationiert, Erst- und Zweitschlagsfähigkeit sind so garantiert. Alle vier Staaten haben in den letzten Jahren ihre Nuklearstreitkräfte modernisiert bzw. verfolgen entsprechende Modernisierungspläne.
Die Analyse der militärischen Kapazitäten der Nato und Russlands lässt keinen Zweifel an der allgemeinen militärischen Überlegenheit der Nato. Nur bei den Atomwaffen herrscht Parität zwischen beiden Seiten. Die Notwendigkeit, in Deutschland die Militärausgaben weiter und dauerhaft zu erhöhen und dabei – in logischer Konsequenz – andere essenzielle Bereich wie Soziales, Bildung oder ökologische Transformation nicht ausreichend zu finanzieren, lässt sich daraus nicht ableiten. Statt weiter aufzurüsten, sollte die bestehende konventionelle Überlegenheit der Nato – bei gleichzeitig potenziell möglicher nuklearer Eskalationsbereitschaft auf russischer Seite – zum Anlass genommen werden, rüstungskontrollpolitische Initiativen vorzubereiten und anzustoßen, die neues Vertrauen schaffen und eine Verifikation der jeweiligen militärischen Potenziale zumindest in Europa erlauben. Erster Ansatzpunkt sollte die Rettung des New-Start-Abkommens zur Begrenzung von strategischen Nuklearwaffen sein, dem letzten verbliebenen Eckpfeiler der nuklearen Rüstungskontrolle zwischen Ost und West.
Greenpeace: »Wann ist genug genug? Ein Vergleich der militärischen Potenziale der Nato und Russlands«. Autoren: Christopher Steinmetz, Prof. Dr. Herbert Wulf, Dr. Alexander Lurz
https://www.greenpeace.de/publikationen/Kraeftevergleich_NATO-Russland.pdf