Nach Zerstörung folgt Missionierung
Prof. Dr. Gerhard Oberkofler, Innsbruck
Jesuitenmission in Kirgisien
Seit der Implosion der Sowjetunion konzentriert sich die von Europa mit seinem Hegemon Deutschland ausgehende kirchliche Missionstätigkeit strategisch auf frühere Unionsrepubliken, nicht zuletzt in Randgebieten zur Volksrepublik China. Nach ihrer veröffentlichten Selbstdarstellung ist das Ziel der weltweit operierenden Jesuitenmission der Dienst für die Armen, inspiriert von der »Frohbotschaft Jesu Christi für die Armen, sein heilendes und befreiendes Handeln, seine Verkündigung des Reiches Gottes, sein Leiden, Sterben und Auferstehen«. Die Jesuitenmission orientiere auf »den Einsatz für Glauben und Gerechtigkeit und für die Förderung der Inkulturation des Glaubens und des Dialogs der Religionen«. [1] Die Solidarität mit den Armen und den armen Ländern würde auch »politische Anwaltschaft für die Menschenrechte und für eine Veränderung ungerechter Strukturen in der prophetischen Perspektive des Evangeliums« umfassen. Mit dem Hinweis auf »Menschenrechte« und »Veränderung ungerechter Strukturen« stellt die deutschösterreichische Jesuitenmission eine auf dem Hintergrund der Kirchengeschichte zu hinterfragende politische Dimension her. Insgesamt hat Europa inzwischen viel Erfahrung, wie mit Gerechtigkeitsideen der Vorwand zur Durchsetzung von Kolonialinteressen mit Waffengewalt geschaffen wird.
Der vom Papst Johannes Paul II. schroff zurückgewiesene Befreiungstheologe Ernesto Cardenal hat sich strikt gegen jeden religiös-missionarischen Plan ausgesprochen. Cardenal ist Anhänger eines religiösen Pluralismus insofern, als keine Religion sich über eine andere erheben und keine Religion darnach streben solle, anderen Völkern ihre Religionen zu nehmen. Alle Religionen würden eine Wahrheit in sich tragen, wenn auch in unterschiedlichem Maß.
Die Befreiungstheologie hat im Jesuitenorden Lateinamerikas den Charakter einer christlich revolutionären Bewegung angenommen. Deshalb hat vor 25 Jahren der US-Imperialismus, der kein weiteres Kuba, Chile oder Nicaragua dulden wollte, den Auftrag gegeben, deren führenden Köpfe in El Salvador zu liquidieren. Am 16. November 1989 wurden Ignacio Ellacuría, Ignacio Martín-Baró, Segundo Montes, Almando López, Juan Ramón Moreno, Joacquín López y López und mit ihnen Julia Elba Ramos und ihre Tochter Celina in der Jesuitenkommunität El Salvador ermordet. Heute hat in der Katholischen Kirche die Befreiungstheologie nur mehr eine randständige Rolle, die katholische Amtskirche feiert wie ihre evangelische Schwester anstatt des 16. November 1989 als Tag der christlicher Ermutigung und Hoffnung lieber den 9. November 1989 als Tag des antikommunistischen Triumphs, wegschauend zugleich von den Ertrinkenden an den Mauern Europas. Daran ändert nichts, dass der deutsche Präfekt für die Glaubenskongregation Gerhard Ludwig Kardinal Müller jüngst in seinem Buch über »Armut« mit Sympathie über Gustavo Gutiérrez geschrieben hat.
Ja, der »Mauerfall«. Der vor wenigen Wochen verstorbene bedeutende katholische Theologe Herbert Vorgrimler, ein Mitarbeiter von Karl Rahner, hat am 1. Juni 1969 an den Schweizer Kommunisten Konrad Farner aus Freiburg so geschrieben: »Herr Ulbricht ist mir allemal noch lieber als die sogenannte CDU mit ihrem Missbrauch des Christentums und ihrer Volksverdummung durch Ablenkung der primitiven Aggressivitäten in Richtung DDR. Die DDR steht moralisch sehr viel besser da als die Bundesrepublik, die für banalen Konsum ihre Seele verkauft hat, und die Fluchtbewegungen aus der DDR sind m. E. bis der wirkliche Gegenbeweis erbracht ist, nicht auf die dortige 'Unfreiheit', sondern auf die Verlockung des kleinbürgerlichen Konsums, d. h. auf Abwerbung zurückzuführen. Ein Kommunist aber, der sich derart abwerben lässt, war nie ein Kommunist; sowenig wie einer meinesgleichen, der wegen des Zölibats abhaut, je ganz dabei war«.
Wie schaut also in der Gegenwart einer der Realitäten der europäischen Jesuitenmission aus? Bei allen Widersprüchen und bei allem anzuerkennenden humanitären Einsatz ist als rote Linie der Antikommunismus in der Diskriminierung sowjetischer Geschichte und im Mitwirken an der Installierung von Strukturen des Weltimperialismus erkennbar. Das vor kurzem publizierte Magazin der österreichischen Jesuitenmission (Nr. 3/2014) steht unter dem Titel Kirgisistan - Kinder der Hoffnung. Kirgisien, seit 1936 eine Unionsrepublik mit über 198.000 km², grenzt im Südosten an die Volksrepublik China. Die Kirgisen bildeten sich in Sowjetzeit als Nation, es lebten mit ihnen Russen, Ukrainer, Usbeken, Uiguren, Tataren, Tadshiken, Kasachen und andere Völker. Das Gemeinwohl hatte mehr oder weniger die Oberhand. Seit 1991 ist in Kirgisien der Raubkapitalismus Staatsdoktrin.
Vor vielen Jahren hat Tschingis Aitmatow die Erzählung Dshamilja geschrieben. Es sei das die schönste Liebesgeschichte der Welt, meinte Louis Aragon. Die Erzählung Dshamilja handelt von Menschen in jener sowjetischen Unionsrepublik Kirgisien mit den hergebrachten patriarchalischen Traditionen ihrer Nomaden und in einer Zeit, als der deutsche Imperialismus über die Sowjetunion hergefallen ist, um den Kommunismus zu vernichten. Aitmatow ruft in seinen Erzählungen immer wieder wunderschöne Legenden und Mythen in Erinnerung, das auch in seinem Weltroman Der Tag zieht den Jahrhundertweg. Was für eine Menschlichkeit drückt dieser in einer Kolchose aufgewachsene und im Maxim Gorki Institut in Moskau zu Beginn der 1950er Jahre ausgebildete kirgisische Sowjetdichter Aitmatow aus!
»Was wissen wir vom kirgisischen Volk?« fragt Aragon in seinem Vorwort zu Dshamilja. Die Jesuitenmission weiß es: »Nach dem Zerfall der Sowjetunion im Jahre 1991 wurden die vorher annektierten Länder zu unabhängigen Republiken. Mit dem Ende der Sowjetherrschaft zerfiel die Gesundheitsversorgung, die hauptsächlich von Russen gewährleistet worden war. Sie wurden aus dem Land vertrieben. Der Aufbau durch Leute aus der eigenen Bevölkerung gestaltete sich sehr schwierig. ….«.
Annexion, Herrschaft und der Zeit angemessene verdummende Verkürzungen - das ist der Widerhall der antisowjetischen und antikommunistischen Jesuitenhetzer aus Deutschland und Österreich in den 1950er Jahren. Erinnert sei nur an die antikommunistische Untergrundbewegung des Johannes Leppich SJ, der mit der unsäglichen »Ostpriesterhilfe« kooperierte. In Königstein wurden jene »Ostpriester« ausgebildet, die nach der Befreiung der sozialistischen Länder durch die NATO von der Elbe bis ins fernste Asien missionieren sollten. Dazu passend wird heute durch die österreichische Jesuitenmission jener Pater Herwig Büchele SJ als Leitstern jesuitischer Missions-Caritas vorgestellt, der, die Friedensbewegung zugleich kriminalisierend, im österreichischen reaktionären Kampfblatt Die Presse 1999 die fortgesetzte Bombardierung von Serbien durch die NATO bejubelt hat (27. April 1999) und diese seine Gesinnungsethik auch sonst publizistisch für die kapitalistische Neuordnung der Welt andient. Was zählen die Menschen, wenn es um die Weltkolonialisierung geht! Der Aufbau von Betreuungsstationen für behinderte Kinder mag für Spenden anrührend sein und ist für diese zweifellos konkrete Hilfe, aber das alles wird in diesem Zusammenhang zur humanitären Kulisse. Zuerst mithelfen zu zerstören und dann durch Hilfsprojekte Stellungen der Europamission positionieren! Das ist genau jener frivole Triumphalismus, den Papst Franziskus anprangert. Aber die Inspiration von Papst Franziskus hat offenkundig Grenzen.
Anmerkung:
[1] Literaturbezug: Aitmatow, Tschingis: Dshamilja. Erzählung. Mit einem Vorwort von Louis Aragon. Aus dem Russischen von Gisela Drohla. Insel Verlag 1962 (zahlreiche Neuauflagen). - www.jesuitenmission.at. - Herwig Büchele SJ: Soll Milošević das letzte Wort haben? Die Presse, 27. April 1999. - Ernesto Cardenal: »Ich bin gegen Mission«. kontinente 2-2008, S. 20 f. - Herbert Vorgrimler: Theologie ist Biographie. Erinnerungen und Notizen. Münster 2006. - Herbert Vorgrimler: Karl Rahner. Zeugnisse seines Lebens und Denkens. Stuttgart 2. A. 2011. - Jon Sobrino: Der Preis der Gerechtigkeit. Briefe an einen ermordeten Freund (= Ignatianische Impulse 25). Würzburg 2007. - Jon Sobrino: Der Glaube an Jesus Christus. Eine Christologie aus der Perspektive der Opfer. Hg. und mit einer Einführung versehen von Knut Wenzel. Übersetzt von Ludger Weckel. Ostfildern 2008. - Gerhard Oberkofler: Von passiver zur aktiven Solidarität. Arthur Baumgarten und Konrad Farner geben der Partei der Arbeit (Schweiz) eine Diskussionsgrundlage über »Christentum und wissenschaftlichen Sozialismus« (1946). Mitteilungen der Alfred Klahr Gesellschaft 1 - 2014, S. 11-19. - Gerhard Ludwig Kardinal Müller: Armut. Die Herausforderung für den Glauben - Mit einem Geleitwort von Papst Franziskus. Unter Mitarbeit von Gustavo Gutiérrez und Josef Sayer. München 2014.
Gerhard Oberkofler, 1941 geborener marxistischer Historiker, ist seit 1983 Universitätsprofessor in Innsbruck. 1993 war er Mitbegründer der Alfred Klahr Gesellschaft, des österreichischen Vereins zur Erforschung der Geschichte der Arbeiterbewegung, und seither ist er ihr Vizepräsident.