My Lai: Amoklauf des »Weltgendarms«
Dr. Hartmut König, Panketal
Vor 50 Jahren verübte ein Kommando der US-Armee das Massaker in dem südvietnamesischen Dorf
Vor 50 Jahren – genau: am 16. März 1968 gegen 8 Uhr morgens – wurden Angehörige der Task Force Barker unter der Führung des 24jährigen Leutnants William Calley von Kampfhubschraubern in My Lai abgesetzt. Das Kommando der US-Army hatte den Auftrag, das südvietnamesische Dorf, dessen Einwohner der Unterstützung des »Vietcong« verdächtigt wurden, zu »säubern«. Der vorgesetzte Captain Medina hatte den Trupp zynisch zum »Ausflug nach Pinkville« verabschiedet, so hieß der Ort im Slang der Invasoren. Jemand soll noch gefragt haben: Alle töten? Auch die Frauen und Kinder? Das nervte wohl. Ja. Alle! Schließlich hatte General Westmoreland wegen der für die US-Armee desaströsen Tet-Offensive der vietnamesischen Befreiungskräfte jeder Schonung von Zivilisten eine Absage erteilt. Gegen 11 Uhr war My Lai ausradiert. Über 500 Einwohner ermordet, Kinder, Frauen, Greise. Die Tiere getötet. Die Brunnen vergiftet. Häuser und Lebensmittel verbrannt. Einige Soldaten sollen sich der Schlächterei verweigert haben. Aber Wegsehen verhindert kein Verbrechen.
Nach Monaten der Vertuschung und Verharmlosung nahm die anständige Welt das Massaker von My Lai mit Entsetzen zur Kenntnis. Das solidarische sozialistische Lager so wie die gegen CIA-Konspirationen hochsensiblen nationalen Befreiungsbewegungen oder die elektrisierte, aufmüpfige Generation der 68er, die den Vietnam-Krieg verabscheute. Aber auch viele Besorgte im politisch und weltanschaulich heterogenen bürgerlichen Spektrum fragten sich nun weltweit, ob derlei Amokläufe des selbsternannten »Weltgendarms« mit ihrem Gewissen noch vereinbar waren. Quälende moralische Hürden standen alten Bindungen an die USA im Wege, die sich einst maßgeblich aus deren Rolle in der Anti-Hitler-Koalition gespeist hatten. Nicht wenige meinten, der Kampf der Vereinigten Staaten gegen die Hitler-Barbarei sei deren letzter Beitrag zur Entwicklung eines friedlichen und gerechten Zusammenlebens der Völker gewesen. Bis heute eine schwer zu entkräftende Ansicht.
Die Tet-Offensive – Menetekel des verlorenen Krieges
Die Mordgier, die My Lai auslöschte, signalisierte vor allem einen katastrophalen Verlust von Menschlichkeit. Der war aber nicht allein bei den enthemmten, traumatisierten GIs zu beklagen. Er lag bereits im Kalkül der Kriegsführung, auch wenn das sich wahnsinnig steigernde Ausmaß an Inhumanität bei den anfänglichen Blitzkriegsplänen Washingtons wohl noch nicht zu ermessen war. Die erfundenen Attacken auf Schiffe der US-Navy im Golf von Tonkin präsentierte das Weiße Haus als Grund für sein militärisches Eingreifen. Eine Lüge wie später beim Irak-Krieg. Unter verlogenen Girlanden geschah auch die Aushebung amerikanischer Rekruten. Sie sollten sich als Verteidiger von Recht und Demokratie fühlen und wurden doch nichts anderes als invadierende Brandschatzer und Bombenleger im Ansturm gegen die befürchtete Ausbreitung volksdemokratischer Verhältnisse in Asien. Das korrupte südvietnamesische System war der US-Administration im Kampf gegen die »rote Gefahr« als unverzichtbares Bollwerk erschienen. Es wurde wie andere repressive Regimes auf dem Globus vom »Land der Freien« mit einem hohen Blutzoll als vorgeblicher »Bewahrer der westlichen Werte« gestützt.
Die Tet-Offensive der vietnamesischen Befreiungskräfte, zum Neujahrsfest am 30. Januar 1968 gestartet, hatte den US-Invasoren und ihren südvietnamesischen Quislingen vor Augen geführt, zu welchen Schlägen ein Volk fähig ist, das seine Freiheit und nationale Würde verteidigt. 80.000 Kämpfer der Nationalen Befreiungsfront (FNL) griffen zeitgleich die bedeutendsten militärischen und infrastrukturellen Knotenpunkte des Südens an. Darunter fünf der größten Städte, 36 von 44 Provinzhauptstädten und 64 lokale Verwaltungszentren. In Saigon wurden der Präsidentenpalast, die US-Botschaft, der Flughafen und das Hauptquartier der amerikanischen Streitkräfte attackiert. David hatte seinen Goliath vor der Welt derart peinlich entzaubert, dass die ein Waterloo der arroganten Weltmacht für möglich hielt. Nach der Tet-Offensive ließ die US-Administration auch die letzten Rücksichten fallen. General Westmorelands Hemmungslosigkeit bei der Bekämpfung von Zivilisten zeigte nur noch unverhüllter, dass nicht allein gegen das Gespenst des »Vietcong«, sondern gegen das Volk und seine emanzipatorischen Ideen Krieg geführt wurde. My Lai war ein besonders schockierender Beweis dafür.
Die Macht der Bilder von Ronald Haeberle
Einer hat die Verbrechen von My Lai dokumentiert: der Armeefotograf Ronald Haeberle. Er räumte ein: »Als Soldat wollte ich meine Kameraden nicht beim Töten fotografieren. Ich fotografierte nur ihre Opfer.« Später konnte man in seinen Erinnerungen lesen: »Frauen und Kinder werden zusammengetrieben. In Todesangst sehen sie, dass die amerikanischen Soldaten ihre Gewehre auf sie anlegen …« Und: »Die Soldaten waren ganz bei der Sache. Sie zeigten keine menschlichen Regungen. Später, während sie von der grauenvollen Szene abzogen und die Leichen wie tote Hunde und Ratten zurückließen, machten einige zynische Witze.« Sollen Flammen den Anblick auslöschen? »Um das Feuer anzufachen, wirft ein Soldat Strohmatten, die zum Trocknen von Reis benutzt werden, über die Toten.« Der Soldat hat noch am Tatort den Reflex seiner Armeeführung, als die von dem Massaker in My Lai erfährt: Vertuschen! Aber Haeberle teilte die Gewissensnot eines beteiligten GIs, der fortan »nur noch Gespenster« sah, und veröffentlichte gegen alle Dienstvorschriften seine Bilder. Sie erschienen im TIME- und im LIFE-Magazine, bei Newsweek und in der Washington Post.
Das offizielle Washington nannte Haeberle einen »Komplizen des Vietcong«, der seine Lügenmärchen erzählt. Aber die Aussagekraft der Bilder war unleugbar, so dass die Armeeführung einräumen musste, in My Lai sei wohl etwas »aus dem Ruder gelaufen«. Eine blasphemische Abwiegelung, die nicht verhindern konnte, dass Haeberles Bericht bei weiten Teilen der amerikanischen Gesellschaft ein sich aufbäumendes Unrechtsbewusstsein schuf und in den 70er Jahren weltweit zu bedeutenden Anti-Vietnamkriegs-Demonstrationen führte.
Im März 1971 standen vier Soldaten vor einem Militärgericht, aber nur William Calley wurde als »untypischer Einzeltäter« verurteilt. Er erhielt eine lebenslange Freiheitsstrafe, die Präsident Nixon bereits am folgenden Tag in Hausarrest umwandelte, bevor er Calley gänzlich begnadigte. Am Tag, als der Kommandoführer von My Lai verurteilt wurde, war in einzelnen Bundesstaaten die amerikanische Flagge auf halbmast gesetzt worden. Calley vermarktete sich später erfolgreich in Fernsehsendern und als Vortragsreisender. Einmal sagte er: »Mir wurde beigebracht … dass es nichts Unmenschliches ist, einen Kommunisten zu töten. Aber als ich meinen ersten Kommunisten tötete, war es eine Sie … zum ersten Male erkannte ich, dass Kommunisten in menschlicher Form vorkommen.« Was hat eine solche krude Moral noch mit den Tränen der US-Armisten zu tun, die 1945 als Befreier das Lagertor von Buchenwald durchschritten?
Kainsmale des »Weltgendarms«
Die Krudität jener Moral aber, die man Calley einbläute, ist für die westliche Führungsmacht systemisch und ihre Inhumanität inzwischen so evident, dass jede Vermummung mit demokratischen oder freiheitsliebenden Attributen ein demagogischer Eiertanz ist. Man lese nur Tim Weiners Expertise zur CIA-Geschichte, dann bleibt kein Zweifel: Es gibt nahezu kein imperialistisches Schurkenstück der Nachkriegszeit, bei dem der »Weltgendarm« USA nicht seine Hände im Spiel hatte. Von Mossadeghs Entmachtung im Iran und den Putschen in Lateinamerika gegen die frei gewählten Präsidenten Arbenz, Goulart und Allende, den Invasionen in Grenada und in der kubanischen Schweinebucht, von den Mordplänen gegen Fidel Castro über die Alimentierung der Contra-Banden gegen Nikaragua sowie die nationalen Befreiungsbewegungen in Afrika bis hin zu den völkerrechtswidrigen Kriegen in Südostasien und Irak, die mit dem arroganten Kalkül politischer und wirtschaftlicher Vorherrschaft geführt wurden. Von der Destabilisierung des Nahen Ostens, der Anfütterung sanftklingender »Revolutionen« im postsowjetischen Raum oder der Geburtshilfe für terroristische Gruppierungen á la Taliban oder IS nicht zu schweigen. Das ist die verheerende Spur des angemaßten Anspruchs der USA auf Leadership in der Welt. Trumps »America First«, das isolationistisch klingt, ist ja nicht der Verzicht auf altbekannte Einmischungen, sondern setzt die aktive Niederhaltung des Willens anderer Völker voraus.
Die Europäische Union, in der inzwischen undemokratische Rechtsausschläge an der Tagesordnung sind, ist leider über fast alle Stöcke gesprungen, die ihr das Amerika der verdampften Ideale hingehalten hat. Auch wenn sie sich aktuell den unvernünftigsten Ausfallschritten des großen Blonden im Weißen Haus widersetzt, sollte sie bemüht sein, das Pech, das sich durch Nibelungentreue zum ohnehin fremdelnden Uncle Sam auf ihre Flugfedern gelegt hat, wieder loszuwerden. Sie hat die Offerte einer gedeihlichen axialen Zusammenarbeit von Lissabon bis Wladiwostok ausgeschlagen, sollte aber ihre Prioritäten überdenken. Nationalistische Egoismen in Europa wie in der Welt, auch das Elend der Flüchtlingsströme sind nur durch ein gerechtes wirtschaftliches Wachstum, durch die Hebung des Lebensniveaus in allen Ländern, durch begreifbare Demokratie und ein solidarisches Miteinander der Völker zu überwinden. »Weltgendarmerie« darf keine Zukunft haben. Es gab zu viele My Lais – und noch immer kein Ende!
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