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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

»Möge Auschwitz-Birkenau ein Zentrum werden für internationale Begegnungen«

Kurt Julius Goldstein, Ehrenpräsident des Internationalen Auschwitz Komitees von 2003 bis 2007

 

Vor 15 Jahren, am 25. Januar 2005, sprach unser Genosse Kurt Goldstein anlässlich des 60. Jahrestages der Befreiung des Todeslagers Auschwitz durch die Rote Armee auf der Gedenkveranstaltung im Deutschen Theater Berlin. Kurt, der auch unserer Kommunistischen Plattform angehörte, starb 92-jährig am 24. September 2007. Wir werden ihn nie vergessen. Nachfolgend dokumentieren wir seine Rede. Als Kurt Goldstein nach seinem Auftritt die Bühne des DT verließ, erhob sich der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder, als er an ihm vorbeiging.

 

Am 27. Januar 1945 erreichten die Soldaten der 100. Infanteriedivision der 60. Armee der ersten ukrainischen Front die Todesfabrik Auschwitz. Sie fanden dort vor, was menschliche Fantasie sich nicht ausdenken, bis auf den heutigen Tag, 60 Jahre danach, kaum begreifen kann.

Als sie am Nachmittag ins Lager kamen, fanden sie dort etwa 8.000 zum Skelett abgemagerter Häftlinge, Frauen, Männer und Kinder, Berge von Leichen Verhungerter und von SS-Kommandos Erschossener. In den Magazinen fanden die Soldaten 7.000 kg Frauenhaar, 836.525 Frauenkleider, 438.820 Männeranzüge, Berge von Brillen, Gebissen, Wäsche, Schuhe, Koffer und Kinderspielzeug. Der Goldschmuck, die Goldzähne, die den Opfern nach der Ermordung ausgerissen wurden, landete gegen genaue Abrechnung in den Tresoren der Reichsbank, soweit er nicht vorher von SS-Banditen gestohlen wurde.

Die SS errichtete im Lager von seiner Gründung 1940 an ein barbarisches, verbrecherisches Unterdrückungssystem mit dem Ziel, jegliche Solidarisierung zwischen den Häftlingen, jeglichen organisierten Widerstand zu unterbinden.

Doch das Gegenteil trat ein. Wie in allen KZs, Ghettos, Kriegsgefangenen- und anderen Lagern bildeten sich Widerstandsorganisationen, meistens unter der Leitung von Sozialisten und Kommunisten.

Die erste Widerstandsgruppe entstand 1940/41 aus polnischen Sozialisten und Berufsoffizieren. 1942/43 bildeten sich in den verschiedenen Nationalitäten Widerstandsgruppen, die sich nach Diskussionen um die »Kampfgruppe Auschwitz« zusammenschlossen.

Ihre Hauptaufgabe sah sie in der Sammlung von Informationen und Dokumenten über die Verbrechen der Nazis und deren Übermittlung in die freie Welt. Sie erreichten in London die polnische Exilregierung und den britischen Regierungschef Churchill und in Washington den Präsidenten Roosevelt.

Die herausragendste Widerstandsaktion war der Aufstand des Sonderkommandos am 7. Oktober 1944. Mit Sprengkörpern, die sie von der Widerstandsgruppe im Frauenlager erhalten hatten, konnten sie das Krematorium IV teilweise sprengen. Nach dem Scheitern des Ausbruchs wurden fast alle Mitglieder des Sonderkommandos von der SS umgebracht.

Im Ergebnis der sich ständig verschlechternden Lage an den Fronten gab Himmler Anfang 1944 erste Anweisungen, die Spuren der unmenschlichen Verbrechen zu beseitigen. In Auschwitz I wurde das alte Krematorium in einen Luftschutzbunker umgebaut und vor allem die Todesmauer zwischen Block 10 und 11 vernichtet, an der tausende Häftlinge erschossen worden waren. Die Verlegung der nichtjüdischen Häftlinge in KZs im Reichsinneren war eine Maßnahme im Hinblick auf das vorherzusehende Ende des Lagers.

Im November befiehlt Himmler die Zerstörung aller Gaskammern und Krematorien und sonstigen Verbrechensspuren.

Dass die Ermordung aller in Auschwitz, Birkenau, Monowitz und den anderen Nebenlagern internierten jüdischen Häftlinge nicht stattfand, haben die Erfinder der Endlösung wider Willen selbst in die Wege geleitet. Auf Befehl Hitlers begann die Wehrmacht eine letzte Offensive am 16. Dezember 1944 in den Ardennen. Es gelang zunächst, die alliierten Truppen zu überraschen und zum Zurückweichen zu zwingen.

Das veranlasste den englischen Regierungschef Churchill, sich am 5. Januar 1945 in einem Telegramm an den sowjetischen Regierungschef Stalin mit dem Ersuchen zu wenden, die für Anfang Februar vorgesehene Offensive der Roten Armee vorzuziehen, um die Verbündeten in den Ardennen zu entlasten. Das geschah. Die Weichsel-Oder-Offensive der sowjetischen Streitkräfte war so wuchtig, dass die Lagerführung am 18. Januar in aller Eile die Evakuierung der Lager anordnete. In Fußmärschen wurden wir Häftlinge bei 10 bis 15 Grad Frost über tief verschneite Straßen gen Westen getrieben. Wer nicht mehr mitmarschieren konnte, wurde von den begleitenden SS-Leuten erschossen. Es wurde im Freien übernachtet. Wer morgens beim Kommando »Antreten« nicht mehr hochkam, wurde erschossen. Das war der Todesmarsch vom Januar 1945.

Ich war in einer Kolonne, die beim Abmarsch von Jawischowitz ca. 3.000 Mann stark war. Als wir am 22. Januar in Buchenwald registriert wurden, waren wir nicht ganz 500, mehr tot als Lebendige. Die kameradschaftliche, gerade liebevolle Weise, wie uns die Buchenwald-Capos in den ersten Stunden behandelten, half uns ins Leben zurück. Dafür sei ihnen gedankt.

Das ist jetzt 60 Jahre her. In Gedanken sind wir in diesen Tagen bei den Frauen, Männern und Kindern, die für ewig in Auschwitz geblieben sind.

Auschwitz mit seinen mehr als eineinhalb Millionen Toten ist der größte Friedhof in der ganzen Welt. Dort liegen Juden, Sinti und Roma, Polen, Russen, Frauen und Männer des Widerstands aus allen Ländern Europas.

Keiner hat einen Stein des Gedenkens. Die Nazis wollten, dass sie vergessen werden. Wir haben die Pflicht, ihrer zu gedenken.

1995, anlässlich des 50. Jahrestages der Befreiung haben wir uns von hier in Berlin aus mit dem »Ruf von Auschwitz« an die künftigen Generationen gewandt.

Mögen sie im Gedächtnis bewahren, dass Auschwitz durch die schier unvorstellbare Grausamkeit der dort begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu einem in aller bisherigen Menschheitsgeschichte einmaligen Verbrechen geworden ist.

Mögen sie sich daran erinnern, dass die Nazis mit Auschwitz versucht haben, ihren schändlichen Plan »Endlösung der Judenfrage« und Vernichtung von Sinti und Roma zum Abschluss zu bringen, alle Oppositionellen, die Angehörigen der europäischen Widerstandsbewegungen, die Kämpfer für die Freiheit, in den von Hitlerdeutschland unterjochten Ländern zu vernichten.

Mögen die künftigen Generationen aber auch daran denken, dass mit der Niederlage des dritten Reiches die Naziideologie nicht verschwunden ist, dass faschistische und neonazistische Bewegungen, Organisationen und Parteien sich anschicken, neues Unheil über die Menschheit zu bringen.

Um für ewige Zeiten die vom Nationalsozialismus begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu bezeugen, muss Auschwitz erhalten bleiben.

Möge Auschwitz-Birkenau – Stätte des Völkermordes an Juden, Slawen, Sinti und Roma und Widerstandskämpfern aus ganz Europa – ein Zentrum werden für internationale Begegnungen, das zur Verständigung der Völker, zur Errichtung einer Welt mit mehr Solidarität und Brüderlichkeit beiträgt, einer Welt, in der überall die Menschenrechte geachtet werden, in der Frieden herrscht, in der es nie wieder ein Auschwitz geben wird.

Gestatten Sie mir, meine Damen und Herren, noch etwas hinzuzufügen. Wenn wir es heute erleben, dass in unserem Vaterland Nazis wieder in Parlamenten sitzen, dass sie auf den Straßen demonstrieren, auch gegen den Wiederaufbau einer Synagoge in Bochum, die von Nazis 1938 selbst zerstört worden ist und dass das höchste deutsche Gericht diese Aufmärsche zulässt, weil es das Gut der Meinungsfreiheit höher setzt, dann sage ich: Für uns ist all dies unerträglich, wir leiden darunter.

Rede bei der Gedenkfeier des Internationalen Auschwitz-Komitees am 25. Januar 2005 imDeutschen Theater in Berlin in Anwesenheit des Bundeskanzlers der BRD,  veranstaltet von ehemaligen Häftlingen des Lagers. Quelle: www.auschwitz.info/de/essentials/wichtige-reden/2005-julius-goldstein.html.