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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Mit Nowitschok gegen Nordstream 2?

Hans Schoenefeldt, Berlin

 

Die russische Ärztekammer hat eine gemeinsame ärztliche Beratung vorgeschlagen. Darauf ist man nicht eingegangen. Jeder Versuch zur Kooperation wurde abgelehnt. Stattdessen wurde das Institut für Pharmakologie und Toxikologie der Bundeswehr in München eingeschaltet. Dort will man in Proben den chemischen Nervenkampfstoff aus der Nowitschok-Gruppe nachgewiesen haben, wozu weder die Ärzte in Omsk noch die der Charité imstande waren. Das Ergebnis wurde von den politischen Akteuren umgehend und geradezu triumphierend aufgenommen.

Die vorverurteilenden Reflexe folgten auf dem Fuß. Die mit vorgegebener Marschrichtung angeworfene Mobilisierung der Sprache setzte alle juristischen Spielregeln (Unschuldsvermutung) außer Kraft. Ohne Beweislage will man den Wunschkandidaten zum Richtblock führen. Der ultimative Ton der Bundesregierung ließ keinen Zweifel, wer der Schuldige für den Anschlag (wenn es denn einer war) ist: Moskau, präziser Putin. Er bzw. sein »Regime« sei »aggressiv« und setze »ohne Skrupel« chemische Kampfstoffe ein, weiß die von Kenntnissen unbefleckte scheidende CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer zu berichten. Ihr Parteifreund Hermann Gröhe frohlockt: »Empörend! Ohne Wissen, ja Weisung von Putin undenkbar. Starke gemeinsame Reaktion von NATO und Union zwingend erforderlich.« Phil Hackemann, FDP-Spitzenkandidat für die Europa-Wahl: »Ein eklatanter Verstoß gegen die Chemiewaffenkonvention. Das muss Konsequenzen haben.«

Sprache der Erpresser

Die Messer sind also schon gewetzt. Und gewünschte Handlungen auch: Katrin Göring-Eckardt von den Grünen: »Nord-Stream 2 ist nichts mehr, was wir gemeinsam mit Russland voranbringen« sollten. Ein für Norbert Röttgen, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags, willkommener Anlass, seinen anti-russischen Gefühlen freien Lauf zu lassen. Hinter dem Anschlag könne »nur Putin persönlich« stehen. Deshalb müsse Nordstream 2 gestoppt werden. Das sei die »einzige Sprache, der er versteht«. Nun, die Sprache, die imperialistische Staaten als Erpresser beherrschen, kennt man in Moskau nicht erst seit heute.

»Das wird die Russen teuer zu stehen kommen«, kündigt der Außenminister der USA Mike Pompeo bereits an, obwohl er zuvor gleich drei Knoten in seine Sprache eingeflochten hat: »Es besteht eine erhebliche Wahrscheinlichkeit, dass die mutmaßliche Vergiftung von hohen russischen Beamten angeordnet« sei. Ihm steht nicht nur Röttgen, sondern auch der in transatlantischer Ideologie erzogene Parteifreund Cem Özdemir zur Seite: Das Projekt würde »uns« nur in eine »Abhängigkeit von Putin« bringen. Obwohl, als einer der etwas später Geborenen müsste Özdemir wissen, dass es selbst in den finstersten Zeiten des Kalten Krieges auf dem Gebiet der Energiepolitik nie Probleme zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion gegeben hat. Er sollte mal in den Memoiren von Konrad Adenauer blättern. Warum also setzt er sich als Papagei von Trump in Szene? Ganz einfach, er bietet sich als Vermarktungsagent der US-Regierung an, die nichts anderes im Schilde führt, als das viel teurere und obendrein die Umwelt noch mehr belastende US-Flüssiggas in Europa verkaufen zu können.

Wolfgang Ischinger, Chef der Münchener Sicherheitskonferenz, will wie Röttgen auch die Gaspipeline auf den Prüfstand stellen, obwohl er in einem ARD-Interview eingestanden hat, dass man sich damit vielleicht »ins eigene Knie schießen« würde. Richtig: Mit einem Abbruch des Projekts würden nicht nur die deutschen und europäischen Interessen untergraben. Fast noch schlimmer: Die Beziehungen zu Russland und China würden noch mehr belastet, und das Ziel, die europäische Union als eigenständige Weltmacht zu etablieren, würde in weite Ferne rücken – zugunsten einer allenfalls vom Atlantikblock um Röttgen, Merz und Özdemir angestrebten neuen Form neokolonialer Abhängigkeit von den USA. Die täglich neu justierte Berichterstattung hat den Schwerpunkt mehr und mehr in Richtung Pipeline verlagert. Handelt es sich hier vielleicht um eine groß aufgezogene politische Inszenierung, in der dem Charite-Patienten nur die Rolle eines Bauernopfers zugewiesen wurde?

Selbstgerecht und scheinheilig

Um einen fernab von jeder Hysterie geführten Ton bemüht sich Jan van Aken (DIE LINKE), von 2004 bis 2006 Biowaffeninspekteur für die Vereinten Nationen. Seiner Meinung nach war die Vergiftung eine Geheimdienstoperation. »Sobald jedoch Geheimdienste im Spiel sind, müssen wir alle Informationen mit großer Vorsicht genießen«, so van Aken. Und weiter: »Die chemische Struktur und mögliche Herstellungswege sind bekannt. Deshalb lässt sich aus der Art des Kampfstoffs nicht zwingend auf eine bestimmte Täterschaft schließen. Nur weil die Sowjetunion ihn entwickelt hat, muss der heutige Täter nicht aus Rußland kommen.« Dann fügte er noch zwei Sätze hinzu, den sich die vorverurteilende Front hinter die Ohren schreiben sollte: »Die Aufklärung und die Bestrafung der Täter sind zu wichtig, um in der jetzigen Situation vorschnell mit dem Finger in die eine oder andere Richtung zu zeigen. Ohne echte Faktenbasis darf es keine vorschnelle Schuldzuweisung geben.«

Diese Stimme der Vernunft wird auf geschult taube Ohren stoßen. Die NATO und die EU, ganz im Gewand des Zuchtmeisters, fordern, dass die Schuldigen zur Rechenschaft gezogen und einer gerechten Strafe zugeführt werden müssen. Da man aber schon jetzt und ohne Beweise weiß, wer der Schuldige ist, werden weitere verbale Ausfälle an die russische Adresse, verknüpft mit Anleitungen zum Handeln, nicht lange auf sich warten lassen.

Am 4. September hat eine NATO-Sondersitzung stattgefunden. Auf der Tagesordnung stand aber nicht der vom US-Präsidenten angeheizte mörderische Rassismus in seinem Land, sondern eine Tat, von der niemand weiß, wer sie begangen hat.

Ein abschließendes Wort zu den Grünen – eine der beiden Parteien, mit denen DIE LINKE im kommenden Jahr ein »Gestaltungsprojekt« auflegen will. Als Vorreiter im Kampf gegen Nord-Stream 2 haben sie den Schulterschluss mit der Trump-Junta vollzogen. Aber nicht nur das: »Scharfe Maßnahmen« seien nicht nur gegen das »Regime Putin« zu ergreifen, verkünden sie, und fordern in ihrem allseits bekannten antirussischen und antichinesischen Furor, mit China nicht nur Klartext zu reden, sondern gleich alle Handelsbeziehungen mit China infrage zu stellen. Die Sehnsucht auf Regierungsbeteiligung erlaubt es ihrer Führung nicht, die Geschichte und die Gegenwart der Volksrepublik zu thematisieren. Hier droht von amerikanischer Seite Liebesentzug. Die Gefahr, sich dem Vorwurf einer Parteinahme für die Volksrepublik auszusetzen, ist zu groß.

12. September 2020

 

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