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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Militarisierte Interessenspolitik: Der "Beitrag" der EU zum Weltfriedenstag

Sabine Lösing, Göttingen, MdEP

 

Die Geburtsstunde der EU-Militarisierung schlug auf dem Ratsgipfel in Köln im Juni 1999. Dort wurde beschlossen, eine EU-Eingreiftruppe für globale Kriegseinsätze aufzustellen, deren Größe ein halbes Jahr später präzisiert wurde: 60.000 Soldaten (dies entspricht aufgrund der erforderlichen Rotation und logistischen Unterstützung einem Gesamtumfang von zirka 180.000 Soldaten). Seither geht es Schlag auf Schlag: Nach dem Aufbau des Politischen und Sicherheitspolitischen Komitees (PSK), des Militärstabs (EUMS) und des Militärkomitees (EUMC) waren auch die organisatorischen Rahmenbedingungen für europäische Militäreinsätze geschaffen – die ersten erfolgten bereits im Jahr 2003. Mittlerweile haben bereits knapp 30 dieser Operationen im Rahmen der so genannten "Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik" (GSVP) stattgefunden.

Glaubt man den offiziellen Verlautbarungen, sei die Europäische Union eine "Zivilmacht", sie habe sich im Gegensatz zu anderen Akteuren von der egoistischen Machtpolitik vergangener Jahrhunderte verabschiedet. Diese allgegenwärtige Lebenslüge, die durch die Korridore in Brüssel geistert, findet sich auch in der Europäischen Sicherheitsstrategie aus dem Dezember 2003. Dort wird sogar argumentiert, gerade weil die Europäische Union keine Ambitionen habe, profane strategische und/oder ökonomische Interessen gewaltsam durchzusetzen, sei sie geradezu prädestiniert dafür, "eine mächtige Kraft zum Wohl der Welt sein". Tatsächlich sind diese EU-Einsätze jedoch keineswegs selbstlos, sondern strikt interessengeleitet. Denn wenn der Europäischen Union (bzw. den Mitgliedsstaaten) wirklich am Frieden gelegen wäre, würde sie dort ansetzen, wo es am nötigsten wäre: an einer Änderung ihrer ausbeuterischen neoliberalen Außenwirtschaftspolitik. Da hierzu aber keine Bereitschaft besteht, bleibt aus Sicht der Militärstrategen wenig anderes übrig als dieses System unter Rückgriff auf Gewalt militärisch abzusichern.

Bekämpfung der Armen

Im Mai 2011 erschien die deutsche Ausgabe des Sammelbandes "Perspektiven für die europäische Verteidigung 2020", der von der hauseigenen Denkfabrik der Europäischen Union, dem "Institute for Security Studies" in Paris herausgegebenen wurde. In diesem derzeit wohl wichtigsten Vorschlagskatalog zur künftigen EU-Militärpolitik findet sich ein überraschend ehrlicher Artikel von Tomas Ries, dem Direktor des "Swedish Institute for International Affairs", der mit dem Märchen uneigennütziger EU-Militäreinsätze unmißverständlich aufräumt. Unter namentlichem Bezug auf Rußland und einige andere Länder wird darin etwa festgestellt: "Die GSVP wird bis 2020 wahrscheinlich mehrere Aufgaben erfüllen müssen. […] Gegenüber den entfremdeten modernen Staaten muß sie eine harte Machtpolitik verfolgen, die von der Einflußnahme im Clausewitzschen Sinne bis zur direkten militärischen Konfrontation reichen kann." [Ries, Tomas: Die EU und das globalisierte Sicherheitsumfeld, in: Vasconcelos, Álvaro de (Hg.): Perspektiven für die europäische Verteidigung 2020, Institut für Sicherheitsstudien, Paris, Mai 2011, S. 67-84, S. 76.]

Vor allem aber widmet sich Tomas Ries der Forderung, das neoliberale System militärisch abzusichern. Denn der ausschlaggebende Faktor für das Ausbrechen gewaltsamer Auseinandersetzungen sind nicht etwa – wie dies stets suggeriert wird – religiöse oder ethnische Konflikte, Habgier einzelner Warlords o.ä., sondern Armut. Der bekannte Friedensforscher Michael Brzoska schreibt hierzu: "[Es] ist in der Kriegsursachenforschung unumstritten, daß Armut der wichtigste Faktor für Kriege ist. Armut steht als Indikator für wirtschaftliche als auch für soziale Benachteiligung, bis hin zum Mangel an Möglichkeiten, das eigene Leben in Würde zu gestalten. Die Kriege der Zukunft werden immer häufiger Kriege um Wohlstand und Würde sein – und zumindest jenen, die sie betreiben, rational erscheinen." Selbst die Weltbank gelangte in einer bemerkenswerten Studie aus dem Jahr 2003 (Breaking the Conflict Trap) zu demselben Ergebnis: "Empirisch ist das auffälligste Muster, daß sich Bürgerkriege besonders auf arme Staaten konzentrieren. Krieg verursacht Armut, aber wichtiger noch für diese Konzentration ist, daß Armut die Wahrscheinlichkeit von Bürgerkriegen erhöht. Somit kann unser zentrales Argument bündig zusammengefaßt werden: die zentrale Konfliktursache (central root cause of conflict) ist das Scheitern ökonomischer Entwicklung." [Brzoska, Michael: Wie werden wir die nächsten hundert Jahre überleben?, Zeit Online, 17.08.2006.]

Allen Entscheidungsträgern dürfte also klar sein, daß die neoliberale europäische Außenwirtschaftspolitik nicht nur armutsverschärfend, sondern damit auch kriegsfördernd wirkt. Dennoch wurde der marktradikale Kurs der Europäischen Union seit der Wirtschafts- und Finanzkrise sogar noch weiter forciert, etwa durch die Strategie "Europa 2020" und die "Rohstoffinitiative". Gerade weil er um die fatalen Folgen dieser Politik weiß, sieht Tomas Ries deshalb eine der wesentlichen Aufgaben der EU-Sicherheitspolitik darin, die vom Westen verschuldeten Globalisierungskonflikte militärisch so "gut" es eben geht zu deckeln – zumindest dort, wo sie wichtige EU-Interessen "bedrohen": "Abschottungseinsätze – Schutz der Reichen dieser Welt vor den Spannungen und Problemen der Armen. Da der Anteil der armen, frustrierten Weltbevölkerung weiterhin sehr hoch sein wird, werden sich die Spannungen zwischen dieser Welt und der Welt der Reichen weiter verschärfen – mit entsprechenden Konsequenzen. Da es uns kaum gelingen wird, die Ursachen dieses Problems, d.h. die Funktionsstörungen der Gesellschaften, bis 2020 zu beseitigen, werden wir uns stärker abschotten müssen. […] Für den Schutz der Ströme werden globale militärpolizeiliche Fähigkeiten (Schutz von Seewegen und kritischen Knotenpunkten etc.) und eine gewisse Machtprojektion (Verhinderung von Blockaden und Bewältigung von regionaler Instabilität) erforderlich sein." [Ries 2011, S. 81f.]

Somalia: Prototyp eines Globalisierungskrieges

Ein Paradebeispiel für den Zusammenhang zwischen neoliberaler Globalisierung, daraus erwachsenden Konflikten und westlichen Militäreinsätzen ist die Pirateriebekämpfung am Horn von Afrika vor der Küste Somalias. Die Ursachen des Problems reichen zurück in die 1980er, als Somalia vor allem auf Grund der Zinserhöhungen der US-Notenbank (Volcker-Schock) in die so genannte Schuldenfalle geraten war. Um zahlungsfähig zu bleiben, mußte das Land vom Internationalen Währungsfonds Geld leihen, der im Gegenzug über Strukturanpassungsprogramme den neoliberalen Umbau des Landes verordnete: Rückbau des Staates, Öffnung für westliche Investitionen und Produkte, Abbau von Sozialleistungen, etc.

In der Folge brach Somalia zusammen, es entstand das, was man heute einen "gescheiterten Staat" nennt. Die Küstenwache konnte nicht mehr entlohnt werden und wurde entlassen. Weil nun niemand mehr zur Verfügung stand, um die 12-Meilen-Zone zu kontrollieren, wurde diese anschließend u.a. von EU-Fischfangtrawlern leergeräumt, womit zahlreichen dortigen Fischern die Lebensgrundlage entzogen wurde. Aus Küstenwache und verarmten Fischern setzten sich dann die ersten "Piraten" zusammen, die nun Schiffe aufbringen und – aus Sicht der EU – den freien Warenverkehr, den "Strom der Globalisierung", stören. Anstatt die Ursachen anzugehen, entsendet die EU seit 2008 im Rahmen der Mission ATALANTA Kriegsschiffe in die Region. Sie sollen ein Problem wortwörtlich bekämpfen, dessen Ursache viel mit der EU-Interessenspolitik zu tun hat und dessen Lösung auch genau dort ansetzen müßte. Insofern ist die Feststellung umso zynischer, daß der ATALANTA-Einsatz ein Schlag ins Wasser ist und das Problem sogar vergrößert hat: Anzahl und Aktionsradius der Piratenangriffe haben mit Beginn der Operation sprunghaft zugenommen, wie aus einer Studie des "Government Accountability Office", einer US-Regierungsbehörde, vom September 2010 hervorgeht. [Maritime Security: Actions Needed to Assess and Update Plan and Enhance Collaboration among Partners Involved in Countering Piracy off the Horn of Africa, United States Government Accountability Office, Report to Congressional Requesters, September 2010, S. 80.]

Die EU als Rüstungstreiber

Da an einer konsequenten Friedenspolitik offensichtlich kein Interesse besteht, geht nahezu jedes EU-Strategiepapier von einem wachsenden "Bedarf" nach EU-Militäreinsätzen aus. Um hierfür buchstäblich bestens gerüstet zu sein, sorgt die Europäische Union auf vielfältige Weise dafür, daß die Rüstungsausgaben hoch und die Konzerntaschen gut gefüllt bleiben.

Zunächst gilt es dazu festzuhalten, daß die "Einschnitte" in den Verteidigungsetats bei weitem nicht so drastisch ausfallen wie dies die lauten Klagen aus Militär und Rüstungsindustrie nahelegen. Zwar sind die EU-Rüstungsausgaben im Jahr 2010 nach Angaben des Stockholmer Friedensforschungsinstituts (SIPRI) mit 382 Mrd. $ ein wenig (2,8%) gegenüber dem Vorjahr gesunken, sie liegen damit aber inflationsbereinigt immer noch mit etwa 12% erheblich über dem Niveau von 2001 [SIPRI Yearbook 2011: Armaments, Disarmament and International Security, Oxford 2011, S. 194.]. Nahezu einmalig dürfte zudem die sogenannte Aufrüstungsverpflichtung des am 1. Dezember 2009 in Kraft getretenen Vertrags von Lissabon (Artikel 42) sein: "Die Mitgliedstaaten verpflichten sich, ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern." Gleichzeitig präzisiert Protokoll 10 des Vertrages, was dies genau beinhaltet: die Bereitschaft, Truppen in EU-Kriegseinsätze zu schicken, sich an den wichtigsten EU-Rüstungsvorhaben zu beteiligen sowie Kampftruppen (Battlegroups) aufzustellen. Wer dem nicht nachkommt, läuft Gefahr, nicht an der "Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit" teilnehmen zu können, in der künftig wesentliche Teile der EU-Militärpolitik exklusiv entschieden werden sollen. Die Botschaft ist eindeutig: Wer nicht mitkämpft und mitrüstet, hat auch nichts mitzureden! Überprüft wird die Einhaltung der Aufrüstungsverpflichtung von der bereits 2004 ins Leben gerufenen "Europäischen Verteidigungsagentur" (EVA). Sie hat generell die Aufgabe, die Aufrüstung der Europäischen Union voranzutreiben, weshalb sie bezeichnenderweise ursprünglich einmal "Rüstungsagentur" hieß.

Darüber hinaus werden munter Gelder aus allen möglichen Haushalten für militärische Zwecke regelrecht zweckentfremdet. So wird etwa das Satellitennavigationssystem Galileo mit 1 Mrd. € aus dem Verkehrs-, mit 1,6 Mrd. € aus dem Agrar- sowie mit 800 Mio. € aus dem Forschungsetat querfinanziert, obwohl die hohen Kosten des Projektes vor allem auf dessen angestrebte militärische Nutzung zurückzuführen sind. Besonders dreist ist die Verwendung von "Entwicklungshilfe" über die seit 2004 existierende "African Peace Facility". Ihr Zweck besteht hauptsächlich in der logistischen und finanziellen Unterstützung von "Friedenseinsätzen" der Afrikanischen Union und im Aufbau der Armeen "befreundeter" afrikanischer Länder. Bislang wurden hierfür 740 Mio. € ausgegeben, die aus dem Topf des Europäischen Entwicklungsfonds stammen und eigentlich ausschließlich zur unmittelbaren Armutsbekämpfung verwendet werden dürfen. Obwohl es hieß, es handele sich dabei lediglich um eine Übergangslösung, wurde im Mai 2011 beschlossen, bis 2013 weitere 300 Mio. € bereitzustellen. Dies sind nur einige wenige Beispiele, die allerdings bereits deutlich machen, wie die Europäische Union zu hohen – und teils versteckten – Rüstungsausgaben beiträgt.

Als wäre das nicht alles schon problematisch genug, können die EU-Mitgliedstaaten laut einem aktuellen SIPRI-Bericht für das Jahr 2010 zum wiederholten Male für sich den zweifelhaften "Erfolg" beanspruchen, mit einem Anteil von 34% am weltweiten Export (USA 30%; Rußland 23%) den Titel des Rüstungsexportweltmeisters errungen zu haben [Holtom, Paul u.a.: Trends in international arms transfers, 2010, SIPRI Fact Sheet, March 2011.]. Obwohl es sich hierbei um einen Hauptfaktor für die Eskalation von Konflikten handelt, versucht die EU, Rüstungsexporte massiv zu unterstützen, u.a. über die "Verbringungsrichtlinie" (KOM 2007, 765). Sie ist Teil des sog. "Verteidigungspaketes" und soll offiziell den innereuropäischen Rüstungstransfer vereinfachen. Da jedoch Regelungen fehlen, die den Re-Export dieser Rüstungsgüter verläßlich kontrollieren, scheint die eigentliche Absicht darin zu bestehen, die Rüstungsexportschranken auf ein möglichst niedriges Niveau abzusenken. Bis spätestens Juni 2012 soll die neue Regelung vollständig umgesetzt sein, damit die EU bei Rüstungsexporten auch künftig den Platz an der Sonne behaupten kann.

Frieden durch Abrüstung

Würde es die Europäische Union mit ihrer Absichtsbekundung, der Frieden habe für sie oberste Priorität, ernst meinen, so könnte sie aus dem Stand zahlreiche Maßnahmen hierfür ergreifen. Notwendig wären u.a. die Einstellung sämtlicher Rüstungsexporte, die Beendigung der ausbeuterischen neoliberalen Außenwirtschaftspolitik, die sofortige Abrüstung und die Umleitung der freiwerdenden Gelder zugunsten sinnvoller Entwicklungshilfe.

Das "Committee on Disarmament, Peace & Security” (CDPS), eine friedenspolitisch engagierte Nichtregierungsorganisation, verglich unlängst Rüstungsausgaben mit den geschätzten Kosten, die zur Erreichung der Millennium-Ziele zur Bekämpfung der Armut erforderlich wären. CDPS zufolge könnten extreme Armut und Hunger mit jährlich 39-54 Mrd. $ beseitigt werden. Die Gewährleistung universeller Bildung und die Förderung von Geschlechtergerechtigkeit würden weitere 10-30 Mrd. $ erfordern. Um die Kindersterblichkeit um zwei Drittel zu senken, die Gesundheit von Müttern zu verbessern sowie Aids, Malaria und andere Krankheiten zu bekämpfen, würden 10-25 Mrd. $ benötigt. Schließlich seien zum Schutz der Umwelt 5-21 Mrd. $ erforderlich [Vries, Wendela de: Reduction of Military Budgets – What can United Nations do? Lecture University of Amsterdam, January 8, 2011: stopwapenhandel.org/node/1000.].

Mit anderen Worten, zur Umsetzung der Millennium-Ziele, die bis 2015 erreicht werden sollten, aber meilenweit verfehlt werden, wie inzwischen eingestanden wird, wären pro Jahr 64-130 Mrd. $ notwendig – also ungefähr zwischen 15 und 30 Prozent dessen, was allein die EU-Staaten jährlich in die Rüstung pumpen! Eine Europäische Union, die auf Abrüstung setzen und das eingesparte Geld in sinnvolle Entwicklungshilfe stecken würde (ohne die Ergebnisse gleichzeitig durch ihre verfehlte Außenwirtschaftspolitik wieder zunichte zu machen), würde also nicht nur einen wesentlichen und dringend notwendigen Beitrag für mehr Gerechtigkeit, sondern auch für mehr Frieden in der Welt leisten.

Sabine Lösing ist Mitglied im Auswärtigen Ausschuß des EU-Parlaments und Koordinatorin für die GUE/NGL im Ausschuß für Sicherheit und Verteidigung.

Am 18. und 19. Juni 2011 reiste sie auf Einladung der Ägyptischen Sozialistischen Partei (eng. E.S.P.) zur Gründungsversammlung der Partei nach Ägypten/Kairo. Der Bericht: www.sabine-loesing.de/article/176.reise-nach-aegypten-kairo-auf-einladung-der-aegyptischen-sozialistischen-partei-eng-e-s-p-zur-gruendung-der-partei.html.

 

Mehr von Sabine Lösing in den »Mitteilungen«: 

2009-05: Europa-Freunde – Europa-Feinde?

2008-03: Von den Grünen lernen?