Mexiko in neuem Licht und unter altem Schatten
Roswitha Yildiz, Buckow
Seit dem 1. Dezember 2018 ist Andrés Manuel López Obrador Präsident der nach Brasilien zweitgrößten Volkswirtschaft Lateinamerikas und der Karibik. Bei einer Wahlbeteiligung von 63,43 Prozent haben 53,43 Prozent der Wähler für »Amlo« gestimmt, wie er in Mexiko nach den Anfangsbuchstaben seines Namens auch genannt wird. Die Wahlen vom 1. Juli 2018 brachten eine satte Mehrheit im Senat, im Abgeordnetenhaus und in beinahe allen Bundesstaaten, und bis heute liegt die Zustimmung für das mit Hochdruck in Angriff genommene Projekt der 4. Transformation bei ca. 70 Prozent.
López Obrador kommt aus der Partei der Institutionalisierten Revolution PRI und gehörte 1989 zu den Gründungsmitgliedern der Partei der Demokratischen Revolution PRD, deren Vorsitzender und Präsidentschaftskandidat er war. Weltweit bekannt wurde er nach der »geraubten Wahl« von 2006 als »legitimer Präsident«. Damals hatten seine Anhänger monatelang die Hauptverkehrsader von Mexiko-Stadt belagert, ein Kabinett aus Politikern, Wissenschaftlern und Intellektuellen erarbeitete Expertise zu den wichtigsten Problemen mexikanischer Politik. Viele Mitarbeiter und Unterstützer der ersten Stunde arbeiten heute noch mit ihm.
Nach parteiinternen Flügelkämpfen und Ausrufung einer Bewegung innerhalb der PRD gründete López Obrador 2014 die Partei Morena, die größte im Wahlbündnis »Gemeinsam schreiben wir Geschichte«. Heute liegt die PRD, die unter seiner Leitung 30 Prozent Zustimmung hatte, bei ca. 5 Prozent.
López Obrador hat Politik und Verwaltung studiert und seine erste Berufserfahrung im Institut für Indigene Fragen in seinem Heimatstaat Tabasco gesammelt. Er hat mehrere Bücher zur mexikanischen Geschichte geschrieben; sein Projekt der Neugründung der Nation, der 4. Transformation, sieht er in der Tradition der Erlangung der Unabhängigkeit 1821, der modernisierenden Reformen unter Benito Juarez 1854–1876 und der Revolution von 1910.
In seinem Buch 2018 La Salida (Der Ausweg) benennt López Obrador die Korruption als Hauptproblem Mexikos, betont aber, dass er diese nicht abstrakt anprangere, sondern Maßnahmen zum Umbau von Wirtschafts- und Sozialpolitik, von Justiz- und Verwaltungsapparat vorschlage, flankiert von einem neuen Politikstil und einer moralisch-kulturellen Erneuerung.
Die öffentliche Sparpolitik, die er propagiere, sei nicht die neoliberale, sie beinhalte die Abschaffung von überflüssigem Luxus und Beschränkung der Ausgaben auf das Notwendige.
Sein Gehalt hat er um um die Hälfte auf 3.000 Dollar gekürzt, Los Pinos, der traditionelle Wohnsitz des Präsidenten, wurde der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, und die Präsidentenmaschine zum Kauf angeboten. Für politische Termine nimmt er einen normalen Linienflug. Helikopter und verdunkelte Staatskarossen wurden versteigert. Amlo selbst nutzt wie auch schon als Bürgermeister von Mexiko Stadt einen weißen Jetta.
Regelmäßig von Montag bis Freitag hält er um 7 Uhr Pressekonferenzen ab, die er alleine moderiert. Morgens um 6 Uhr bei der Zusammenkunft seines Kabinetts lässt er sich regelmäßig über die Sicherheitslage der Nation informieren.
Nationalgarde
Innere Sicherheit ist neben der Korruption ein zentrales Thema. Auf der Pressekonferenz zu 100 Tagen Regierung hebt der Präsident unter den 19 Verfassungsänderungen diejenige hervor, mit der die Bildung einer Nationalgarde ermöglicht wurde. Dieses Projekt hatte ihm bereits im Vorfeld den Vorwurf des Verrats an seinen Wahlversprechen eingebracht. Tatsächlich ist die Losung »Militär zurück in die Kasernen« eine langjährige Forderung zivilgesellschaftlicher Organisationen und linker Parteien. Seit Jahren prangern Menschenrechtsorganisationen eine Beteiligung des Militärs an Folter, Entführung, extralegalen Hinrichtungen und Verschwindenlassen an. In den Jahren seit 2006, als der damalige Präsident Felipe Calderón das Militär ohne gesetzliche Ermächtigung auf die Straße schickte, habe es über eine Million Gewaltopfer gegeben, Mexiko stehe hinter Syrien auf Platz 2 im weltweiten Gewaltindex. Das Land befinde sich in einem »innerstaatlichen Krieg«, an dem auch 300.000 Angehörige der Drogenkartelle beteiligt seien.
Die Polizei sei nicht in der Lage, ihre originären Aufgaben zu übernehmen, das wahre Ausmaß der Korruption habe ihn überrascht, so López Obrador. Da die neue Regierung aber für die Sicherheit ihrer Bürger sorgen müsse, habe man sich entschieden, Hilfe und Rückendeckung des Militärs zu suchen. Unterm Strich bedeute Politik, Nachteile abzuwägen und eine Entscheidung zu treffen. Fachliche Unterstützung beim Aufbau der Nationalgarde wurde dem Präsidenten vertraglich von der UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet zugesichert.
Mit 19 Verfassungsänderungen und 94 Gesetzen habe man die Grundlage geschaffen für einen Rechtsstaat, der soziale Absicherung, Meinungs- und Informationsfreiheit, Religionsfreiheit, Achtung der Menschenrechte und der sexuellen Orientierung, Schutz von Journalisten, Migranten und Opfern von Gewaltdelikten garantiere, so der Präsident in seinem Rechenschaftsbericht nach 100 Tagen Amtszeit.
Angelaufen ist das Programm »Die Jugend baut die Zukunft«, mit der die 2,3 Millionen Jugendlichen ohne Ausbildung oder Beschäftigung von der Straße geholt werden sollen, Stipendien für bedürftige Schüler aller Schultypen werden bereitgestellt. Bedürftige alte Menschen erhalten eine Grundsicherung.
Infrastrukturprojekte
Die Wirtschaft sei stabil, die Preise für Energie konstant, Arbeitsplätze seien entstanden, der Mindestlohn um 18 Prozent angehoben und die Kaufkraft angestiegen, so der Präsident. Die Regierung genieße das Vertrauen nationalen und internationalen Kapitals.
Dieses Vertrauen, das die Regierung bei der Umsetzung der geplanten Großprojekte im Infrastrukturbereich dringend benötigt, war kurzzeitig erschüttert, als López Obrador das Aus für den Weiterbau eines internationalen Flughafens ankündigte. Die Aussicht auf Entschädigung und lukrative Investitionen bei den geplanten Großprojekten im Infrastrukturbereich hatte Investoren besänftigt.
An der Grenze zu den USA entsteht auf einer Länge von 3.500 km eine Freihandelszone, wo Migranten, mexikanischen und denen aus Zentralamerika, eine Alternative zur Überquerung der Grenze geboten werden soll. Gas, Benzin und Elektrizität werden für die Unternehmen staatlich subventioniert, dafür muss das Doppelte vom Mindestlohn gezahlt werden.
Diese Freihandelszone ist im Kontext des Freihandelsabkommens mit den USA zu sehen, das als Nachfolgerin des NAFTA-Abkommens noch kurz vor Amtsantritt des neuen Präsidenten abgeschlossen wurde. López Obrador hatte es zum Missfallen seiner Kritiker begrüßt, da man eine Chance sieht, grenzüberschreitende Wertschöpfungsketten in den Bereichen Autobau, Elektronik und Luftfahrt zu schaffen, die es Mexiko ermöglichen, die vom Weltmarkt zugewiesene Rolle als »verlängerte Werkbank« hinter sich zu lassen. 80 Prozent der Exporte Mexikos gehen in die USA, 60 Prozente der Importe kommen von dort, ein wie auch immer gearteter Bruch mit dem ungeliebten Nachbarn geht an der Realität vorbei. Das Verhältnis zu den USA sei freundschaftlich, ohne konfrontative Sprache. Man setze auf gemeinsame Entwicklungsprojekte auch in Zentralamerika, um potentiellen Migranten die Möglichkeit zu geben, dort zu arbeiten, wo sie zuhause sind, so López Obrador.
Mit dem Tren Maya, dem Maya-Zug, sollen auf einer Strecke von ca. 1.500 km die wichtigsten Sehenswürdigkeiten indigener Kultur in fünf Bundesstaaten leichter zugänglich gemacht und Städte verbunden werden. Der Zug soll nicht nur Touristen, sondern mit unterschiedlichem Preisgefüge auch Passagiere und Güter befördern. Für Umweltaktivisten, Menschenrechtler und Anthropologen ist er Zerstörung von Natur und Lebensraum indigener Völker, für López Obrador ein wichtiger Baustein im Entwicklungskonzept für die von bisherigen Regierungen vernachlässigten Regionen mit vorwiegend indigener Bevölkerung.
Zum Wohle aller, zuerst die Armen
Ein Fünftel der Mexikaner zählt sich zu den indigenen Völkern, 73,2 Prozent von ihnen leben in Armut, 31,8 Prozent in extremer Armut. Da die Not in den ländlichen Regionen am größten ist, sollen alle Projekte auch zuerst den Menschen dort zugutekommen. Freiwillige Helfer der Partei Morena gehen von Haus zu Haus, um den Bedarf zu ermitteln. Jedes Wochenende besucht der Präsident ländliche Bundesstaaten und stellt die Vorhaben der Regierung vor. Die schwer zugänglichen Gemeinden werden mit neuen Straßen verbunden und mit Internet versorgt, Gesundheitszentren errichtet. Auf einer Fläche von einer Million Hektar werden Holz- und Nutzbäume gepflanzt, Bauern erhalten Kredite und zugesicherte Preise für den Verkauf von Mais, Reis, Kaffee, Bohnen, Getreide und Milch. In Planung ist der Bau von 100 Universitäten in den ländlichen Regionen.
Die Politik der Regierung, die eine kostenlose Bildung und Gesundheitsversorgung anstrebe, ziele ab auf einen Wechsel der »produktiven Matrix«, erläutert die Generalsekretärin der Partei Morena Yeidckol Polevnsky auf einer internationalen Konferenz der Partei der Arbeit PT, kleine Partnerin der Regierungskoalition. Neben Großprojekten wie die Freihandelszone liege das Augenmerk der Regierung auf Hilfen für kleine und mittlere Unternehmen, da diese die Stütze der Wirtschaft seien. Ziel sei die Selbstversorgung mit Lebensmitteln.
Wenn sie unter den diversen Bezeichnungen wählen könnte, mit der die Presse die neue Regierung bedenkt, würde sie Guevaristin und Castristin bevorzugen, sagt sie unter Applaus der Teilnehmer. Einen ihrer ersten Antrittsbesuche hat sie in Kuba gemacht.
Die mexikanische Außenpolitik, so der Präsident in seinem Rechenschaftsbericht, zeichne sich aus durch die Prinzipien der Nichteinmischung, Gewaltfreiheit, Recht auf Selbstbestimmung und Achtung der Menschenrechte. Davon zeugt die international beachtete Initiative zum Dialog, die Mexiko gemeinsam mit Uruguay in der Krise um Venezuela auf den Weg gebracht hat.
Roswitha Yildiz ist Mitglied im Arbeitskreis Lateinamerika der Partei DIE LINKE. Anfang April 2019 nahm sie auf Einladung an einem internationalen Seminar der mexikanischen Partei der Arbeit (PT) teil.