Mein politischer Weg, kurvenreich und voller Widersprüche
Reiner Kotulla
Mein politischer Weg, kurvenreich und voller Widersprüche
Von Reiner Kotulla
An Ereignisse im vierten Lebensjahr, so sagt man, erinnert sich in der Regel ein erwachsener Mensch. Das war im April 1945.
Meine Mutter, den Kinderwagen, in dem das Notwendigste verpackt war, vor sich herschiebend, mich an der Hand, auf dem Weg vom Luftschutzbunker in die Prinz-Adalbert-Straße von Berlin-Karlshorst. Aus einem Fenster des vierstöckigen Hauses schlugen Flammen, ein unauslöschbares Bild. „Das war dein Kinderzimmer“, sagte sie zu mir. Dann, spätabends, auf dem Weg zur Gartenlaube, wo wir Unterschlupf gefunden hatten, das Siegesfeuerwerk der Roten Armee, da hatte die Mutter bitterlich um Deutschland geweint.
Mein Vater, 1946 aus britischer Gefangenschaft heimgekehrt, war Nazi geblieben, hatte nun Angst vor den „Russen“. Am 1. September 1947 wurde ich eingeschult. Da begann mein Vater, mir von seinen Überzeugungen und Heldentaten zu erzählen: Wie er seinerzeit mit seinem SA-Sturm in den roten Wedding gezogen war und dort mit dem Schulterriemen am Handgelenk, am Ende waren zwei große stählerne Karabinerhaken, auf die Kommunisten eingeprügelt hatte.
Anders als Vater und Mutter entwickelte sich Tante Edith, Schwester meiner Mutter, die mit meinen Eltern, trotz häufigen politischen Streits, eine innige Beziehung unterhielt. Die war berufstätig, arbeitete auf der Trabrennbahn, von wo sie hin und wieder Hafer mit nach Hause brachte, aus dem wir Suppe machten. Für sie war ich wie ein Sohn. Sie brachte mir praktisch das Essen mit Messer und Gabel bei. Aus Überzeugung war sie in die SED eingetreten.
Als ich zehn Jahre alt war, also 1951, trat ich heimlich der „Pionierorganisation Ernst Thälmann“ bei, versteckte, bevor ich nach Hause kam, das blaue Halstuch immer rechtzeitig in meiner Hosentasche. Edith, später Kaderleiterin im Friedrichstadtpalast, hat niemals versucht, mich politisch zu beeinflussen. Kultur hat sie mir vermittelt, war oft mit mir ins Theater gegangen.
Wenn wir Jungs mit dem Fahrrad in der Wuhlheide unterwegs waren, fanden wir Flugblätter aus Pergamentpapier, damit sie lange hielten, so groß wie eine Postkarte, dicht bedruckt mit Informationen zur politischen Situation in der „Zone“. Genau kann ich mich noch an eine Aufforderung am Schluß eines Textes erinnern: „Streut Sand in die Getriebe und Zucker in die Benzintanks!“ Unterschrieben war der Text von einer „Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit“. Mit vierzehn Jahren erhielt ich die Jugendweihe. Als ich im RIAS hörte, wie hoch der Schrottpreis für Kupfer und Blei in Westberlin lag, klauten wir Kumpels Buntmetalle und verkloppten sie drüben. Hawaiihemd und Koreamütze waren dort gerade in.
Viel später erst erkannte ich die dahinter steckende Taktik dieses Hetzsenders. Keine direkte Aufforderung: „Schädigt das SED-Regime, klaut Buntmetall“. Sondern: „Das Kilo Kupfer kostet heute 3 Mark fünfzig“. Das waren, so rechneten wir nach dem Schwindelkurs, fast 20 Ostmark. Mein Vater achtete zwar darauf, daß ich in Deutsch gute Noten erarbeitete, in Russisch sah er in den Fünfen, die ich nach Hause brachte, einen Ansatz von Widerstand gegen das kommunistische Regime.
Am 1. September 1955 begann ich eine Lehre im KWO. Ich machte gerne mit bei Ernteeinsätzen, nahm an schönen Ferienlageraufenthalten auf Rügen teil, trat der GST, Abteilung Segelfliegen bei, spielte auf dem Platz beim Betriebsklubhaus „Erich Weinert“ Tennis, und doch glaubte ich mehr an das, was mein Vater mir politisch vermittelte. Es zog mich nach Westberlin.
Am 29. Mai 1958 holte ich im Lohnbüro des VEB Kabelwerk Oberspree mein Gehalt ab, setzte mich in die S-Bahn und fuhr nach Moabit zu einer Tante. In der Wohnung dort warteten bereits meine Eltern auf mich, saßen auf gepackten Koffern.
Ein paar Tage später flogen wir von Tempelhof nach Frankfurt/Main, wo uns Verwandte meines Vaters mit dem Auto abholten und nach Saarbrücken brachten, wo sie wohnten. Es folgten drei Jahre politischen Tiefschlafs. Arbeiten, Kaufen, Tanzen und Mädchen.
Dann die Einberufung zur Bundeswehr. Ein Wunschtraum meines Vaters ging damit in Erfüllung. Zum ersten Urlaub nach Hause, im Dezember 1961, hatte ich die Uniform angezogen, um ihm eine Freude zu machen. Ich durfte sie nicht ausziehen, weil am Abend die Verwandten besucht werden sollten.
In der Nacht sangen sie, und ich bin sicher, daß ich, hätte ich den Text gekannt, mitgesungen hätte: „Es zittern die morschen Knochen der Welt vor dem großen Krieg.“ Beim Bund machte ich Karriere, schlug die Unteroffizierlaufbahn ein. Jeden Morgen um halb zehn NATO-Pause in der Kantine; Kaffee, Zigarette, Bildzeitung.
Im letzten Drittel meiner zwölfjährigen Dienstzeit dann die ersten Anzeichen von Veränderung, das war in den späten sechziger Jahren. Da ich ein wenig englisch sprechen konnte, kommandierte man mich an eine US-Ausbildungskompanie in Kirchgöns, in der Nähe von Gießen. Dort wurden US-Unteroffiziere ausgebildet, die im Kriegseinsatz in Vietnam zum Sergeanten befördert worden waren.
Wenn ich abends im Club mit ehemaligen Vietnamkämpfern zusammensaß, wurde oft über diesen Krieg gesprochen. Manches verstand ich nicht, nur soviel, daß dort viel Grausames geschah. Die Soldaten zeigten sich gegenseitig Fotos, mit denen sie ihre „Heldentaten“ dokumentiert hatten, so wie man sich Urlaubsfotos zeigt. Auf einem der Bilder sah ich einen Haufen übereinandergestapelter Leichen, „Vietkong“, erklärte der Soldat mir, der vor den Toten stand, einen Fuß auf dem Leichenberg, die Arme nach oben gestreckt, Zeige- und Mittelfinger zum „V“ gespreizt. Wieder bei meiner Einheit, begann es mich zu ärgern, wenn deutsche Offiziere vor einer Vietnamkarte standen und USA-Fähnchen einsteckten, die deren Siege markieren sollten.
Plötzlich überkamen mich Erinnerungen. Edith schickte mir zum Geburtstag „Die Abenteuer des Werner Holt“. „Willy muß Kanzler werden“, und ich trat der SPD bei. Im Sommersemester 1972 begann ich mit dem Studium: Geschichte, Politik und Germanistik. Ich wollte Lehrer werden. Bald interessierte mich die Arbeit der verfaßten Studentenschaft, und ich wurde Mitglied im Sozialdemokratischen Hochschulbund (SHB). Langzeitwirkung nennt man das wohl.
„Wer oder was ist der Staat?“ lautete das Thema eines Schulungsabends. In einem Politikseminar brachte ich die dort gelernte Definition an. „Der Staat ist das Machtinstrument einer jeweils herrschenden Klasse“. Durch andere Erfahrungen war ich auf eine entsprechende Reaktion des Seminarleiters gefaßt.
„Wissen Sie“, sagte der, „der Marxismus ist für mich ein rotes Tuch“. Später bewunderte ich meine Schlagfertigkeit, die sonst nicht zu meinen Stärken gehörte. „Für mich auch, Herr Professor.“ Einige haben gelacht und Beifall geklopft. Da wußte ich, daß ich mich von dem nicht würde prüfen lassen können. Im Rahmen der Ersten Staatsprüfung für das Lehramt an Realschulen schrieb ich meine Examensarbeit zum Thema „Die Darstellung des 17. Juni 1953 in Schulbüchern des Landes Nordrhein-Westfalen“.
Ich las Stefan Heyms „Fünf Tage im Juni“ und fand eine meiner Ansicht nach realistische Einschätzung der damaligen Ereignisse. Im Rahmen der Staatsprüfung hatte ich vor der Prüfungskommission eine Geschichtsstunde zu halten, Thema: „Der Fall Barbarossa“. Ich nannte es anders, „Der Überfall der Hitlerfaschisten auf die Sowjetunion“. Das wirkte sich dann negativ auf die Noten aus.
Ich wurde Lehrer an einer Realschule in Siegen und bald Vertrauenslehrer der Schüler. Nicht lange war ich Fachberater Geschichte, denn kurz nach einem Referat, das ich vor Kollegen hielt, entließ man mich wieder aus dieser Funktion, weil ich es gewagt hatte, die Geschichte der DDR auch aus ihrer Sicht darzustellen.
Dann geschah etwas, was mich nicht mehr schweigen lassen konnte, der NATO-Krieg gegen Jugoslawien. Der Anlaß war da, ich trat aus der SPD aus. 2004 trat ich der PDS bei. Obwohl selbst Soldat gewesen, trete ich heute dafür ein, daß von deutschem Boden nie wieder Krieg, sondern nur noch Frieden ausgehen darf. Ich bin der Meinung, daß die antifaschistisch-demokratischen Veränderungen im Osten Deutschlands und das spätere Bestreben der DDR, eine sozialistische Gesellschaft zu gestalten, in berechtigtem Gegensatz zur Weiterführung des Kapitalismus in Westdeutschland standen. Auch deshalb bin ich letztlich bei der Kommunistischen Plattform gelandet und habe kurz darauf die KPF Hessen gegründet.