Luther wollte mehr
Gespräch mit dem katholischen Theologen Eugen Drewermann, Interview: Horsta Krum, Berlin
Horsta Krum: Das Jahr 1517 mit dem Thesenanschlag, so schreiben Sie in Ihrem Buch »Luther wollte mehr« [1], ist nicht der Beginn dessen, was wir heute Reformation nennen.
Eugen Drewermann: Nein. Luthers Thesenanschlag ist eine Einladung zu einer akademischen Diskussion ...
… hat aber doch für große Aufregung gesorgt.
Gewiss. Luther prangert den Reichtum der römisch-katholischen Kirche an. Aber das haben vor ihm schon andre getan: die Katharer in Südfrankreich, die Waldenser in Lyon und dann in Norditalien, Jan Hus in Prag. Der Höhepunkt in Luthers Leben, der Wendepunkt der Kirchengeschichte, ist vier Jahre später: der Reichstag zu Worms.
Dorthin geht er, weil er eintreten muss für eine Wahrheit, hinter die er nicht mehr zurück kann. Die Kirche hat die Botschaft Jesu verfälscht in einen Popanz der Angst. Und das alles nur aus Macht- und Geldgier. Dagegen muss er aufstehen, weil er etwas von der Botschaft Jesu verstanden hat.
Können Sie uns etwas Genaueres sagen über die Wahrheit, die Luther entdeckt hatte und für die er in Worms gerade stand?
Es ist im Grunde einfach. Das Bibelstudium führte Luther zu der Botschaft Jesu zurück, und er fasste das, was er neu entdeckte, in drei Begriffe: Glaube, Gnade und Schrift. Fangen wir mit der Schrift an: In 1.500 Jahren ist die römische Kirche mit Siebenmeilenstiefeln unter faulen und verlogenen Ausreden vor der Botschaft Jesu weggelaufen. Zurück zur Bibel also, und zwar ohne die von Rom autorisierte Auslegung.
Den Glauben hat Luther neu definiert als eine personale Beziehung, die nicht durch Priester und Dogmen reglementiert ist, sondern auf Vertrauen gründet. Und da sind wir schon beim dritten Wort: Gnade. Es ist der Kern dessen, was wir Anfang des 16. Jahrhunderts aus der Feder Martin Luthers »Reformation« nennen: die Wiederentdeckung, dass Menschen frei und ohne Angst leben können aus Vertrauen und Vergebung.
Dadurch hat Luther dann ja auch die Bauern in ihrem Kampf gegen die Unterdrückung ermutigt.
Ja, Luther hat in seiner Schrift gegen den Zinswucher die Reichen angeklagt, die die Armen gnadenlos ausbeuten. Was den Bauern geschieht, kann nicht Recht heißen, hat mit Gnade nichts zu tun. Allerdings hören wir, je länger es dauert, dass Luther von der Gnade auf höchst ungnädige Weise redet: Er wird die Fürsten bestärken, den Bauernaufstand niederzuschlagen, er wird seinen Mitstreiter Thomas Müntzer verurteilt sehen wollen, statt zu begreifen, dass ihm die Bibel Recht gibt in seinem Anspruch.
Dann wäre ja mit Luther doch Staat zu machen, und zwar von denen, die unseren Staat machen: unsere Politiker, allen voran die christlichen; und dann die Kirchen, die diesen Staat tragen, allen voran die Militärseelsorger. Sie alle benutzen Luther und zeigen uns, dass die wiederentdeckte Gnade doch recht systemstabilisierend sein kann.
Nein, so einfach sollten wir es uns nicht machen. Es hat keinen Sinn, Luther historisch zu betrachten und auszuklamüsern: da hat er das gesagt, und da steht auch etwas davon. Es ist wie in der Atomphysik: Wir können einen Vorgang punktuell festmachen in Zeit und Raum. Aber wir verstehen ihn erst richtig als Trägerwelle von einem Impuls, der uns erreicht. So ist es mit Luther, beispielsweise mit dem Begriff Gnade, die, so Luther, alle Bereiche des Lebens durchzieht. Das müssten wir mit Luther längst weiterentwickelt haben. Dass wir's nicht tun, ist unterhalb des Formats, in dem er dachte und lebte.
In diesem Sinne könnte, sollte doch eine Kirche, die sich auf Luther beruft, eine selbständige Meinung auch in politischen Dingen haben ...
… indem sie beispielsweise laut Nein sagt zur Griechenlandpolitik unseres Finanzministers. Da ist es egal, ob Griechen medizinisch versorgt werden können, egal wie viele Leute auf der Straße krepieren.
Das hat aber doch eine Geschichte: die protestantische Kirche hat sich Luthers Argumente gegen die Bauern und für die Fürsten zu eigen gemacht. Das stellen Sie dar in Ihrem Buch.
Auch bei den Katholiken gab es während des ersten Weltkrieges unglaubliche Gebete, mit denen man die Soldaten an die Front hetzte. Es gab protestantische und katholische Gebete, die man nur als Blasphemie bezeichnen kann, auch im zweiten Weltkrieg. Es gab keinen Widerstand in höchsten Kreisen, wo diese Lästerungen der Botschaft Jesu als solche bezeichnet worden wären.
In Ihrem Buch ziehen Sie die Linie weiter und erinnern beispielsweise an den Prediger der US-Air Force: Als Hiroshima bombardiert wurde, redete der von »Gott, der unserer Streitkraft die Macht gegeben hat, sich in den Himmel zu erheben.«
Seit Kaiser Konstantin im 4. Jahrhundert ist es immer so geblieben, dass Staat und Kirche eine Einheit bilden: Immer ist Gott auf unserer Seite, so auch bei George W. Bush, der den Irak mit Krieg überzieht.
Auch die Auslandseinsätze der Bundeswehr werden von deutschen Militärseelsorgern begleitet und bestärkt. Wie schon in den Jahrhunderten davor, sehen sich die Protestanten durchaus in der Tradition Luthers. Aber diese Staatsservilität, so sagen Sie in Ihrem Buch, hat Luther nicht verschuldet.
Nein, er ist lediglich mitbeteiligt, indem er das Verhältnis von Staat und Kirche, wie es seit dem 4. Jahrhundert besteht, neu formuliert. Aber statt über Luther zu polemisieren, sollten wir das, was er hätte sagen können, ja sogar hätte sagen müssen, nun endlich selber zu Gehör bringen. Von mir aus im Namen Luthers, aber jedenfalls im Namen Christi.
Dann hätten wir, so schreiben Sie, den Protestantismus mit seinem Bezug auf die Bibel, in reiner Klarheit vor uns. Und tatsächlich gibt es ja ein ernstes christliches Bemühen um soziale Gerechtigkeit; im Umgang mit Flüchtlingen gebrauchen Sie das Wort »Barmherzigkeit«.
Aber mit den Grundfragen setzen sich die Kirchen nicht auseinander: Was machen wir mit der Militarisierung der Außenpolitik, mit der Vergeudung von gigantischen Geldmitteln, die den Armen immer wieder fehlen, was machen wir mit der Dressur von heranwachsenden Siebzehnjährigen als Drohnenpiloten und als Massenmörder mit dem heutigen technischen Gerät? In all dem sehe ich die Kirchen untätig und vollkommen angepasst.
Im Sinne Luthers?!
Nein, wir müssten Luther als Interpreten der Botschaft Jesu zu Wort kommen lassen: Alles, was ohne Gnade ist, hat mit dieser Botschaft nichts zu tun. Und hinzufügen müssten wir: weil es darauf hinausläuft, Menschen mit gutem Gewissen töten zu sollen.
Ich kann nicht so schnell darüber hinweggehen, dass Luther doch ein gutes Gewissen hatte, als die aufständischen Bauern totgeschlagen wurden und Thomas Müntzer hingerichtet wurde.
Luther hat – das ist ein Stück Tragik in seinem Leben – die Reinheit des eigenen Ansatzes überleben müssen, ohne die Verfälschungen, Verwässerungen und Missverständnisse noch abtragen zu können. Er konnte nur auf seine Weise reagieren, hilflos, gebrochen und widersprüchlich.
Und dann beschreiben Sie Luther als jemanden, der einen Stein ins Wasser wirft ...
… und sieht, wie sich die Wellen um die Einschlagstelle formen und an den Uferwänden zurückbrechen. Dass er den Stein geworfen hat, ist groß an ihm, und ihm darin gleich zu werden, ist sein bleibender Auftrag.
Ihr Luther-Buch ist so inhaltsreich, dass wir hier nur einiges andeuten können. Was wäre Ihnen noch wichtig?
Was mir als Psychoanalytiker am Herzen liegt: Wie das, was Luther dachte und lebte, dem einzelnen Menschen helfen kann, sich aus seiner Lebens- und Todesangst zu befreien, aus dem Zweifel und der Verzweiflung, die Luther ja selber erfahren hat, immer wieder, bis zu seinem Lebensende.
Anmerkung:
[1] Eugen Drewermann: »Luther wollte mehr« – Der Reformator und sein Glaube, Verlag Herder, 2. Auflage 2017, 320 Seiten, 19,99 Euro, ISBN 978-3-451-37566-8.
Mehr von Horsta Krum in den »Mitteilungen«:
2017-07: Die Römische Inquisition
2017-01: Einer, der störte
2016-11: Die Sturmglocke zu Lyon