»Lieber tot als behindert«?
Dr. Ilja Seifert, Mitglied des Parteivorstands der Partei DIE LINKE
»Lieber tot als behindert«, höre ich neuerdings immer mal wieder jemanden sagen. Sei es in »Sterbehilfe«-Debatten, sei es in Lifestyle-Talks, sei es unter Jugendlichen, sei es unter Rentnern: Unter Behinderungen »leiden«, das will niemand.
Gleichzeitig bilden jetzt – Ende Juni 2016 – Frauen und Männer einen »Freundeskreis der Gedenkstätte T4«. Ihnen ist es wichtig, daß nicht »vergessen« wird, mit welch erbarmungsloser Kaltherzigkeit seinerzeit rund 300.000 Menschen umgebracht wurden. Einfach so. Weil sie »nutzlos litten«.
Zwischen 1939 und 1942 nahmen Nazis das »lieber tot als behindert« in Deutschland ganz praktisch: Ihr »Euthanasie«-Programm richtete sich gegen »unnützes Leben«. Ganz systematisch. Generalstabsmäßig. In der Berliner Stadtvilla am Tiergarten 4. Dafür definierte man es als »lebensunwert«. Und schon war die Ermordung »unnützer Esser«, von »Idioten«, »Geisteskranken« und »Krüppeln« eine »gute Tat«: Man »befreite« sie ja von ihrem »ewigen Leiden«. Man »gönnte« ihnen den »guten Tod«.
Gewissensbisse vor Gaskammern?
Wer sollte bei solch »edlem« Tun Gewissensbisse haben? Es waren überwiegend Ärzte, die die tödlichen – oder sollte ich sagen: todbringenden? – Diagnosen stellten. Auf der Reichsärzteführer-Schule im idyllischen Alt Rehse bei Neubrandenburg bildete man sie extra dafür aus. In ausgesuchten »Heilanstalten« – z.B. Pirna-Sonnenstein, Hadamar, Brandenburg – arbeiteten die Gaskammern und die Krematorien.
Doch! Einige gab es. Wenige, aber immerhin. Sie hörten nicht nur auf ihr Gewissen, sondern äußerten auch vernehmlich Protest. Das war seinerzeit durchaus mutig. Einer dieser Aufrechten war der Münsteraner Bischof Alexander Graf von Galen.
Manchmal brachte man die Opfer nicht einfach um. Manchmal »benutzte« man sie auch erst mal als »Testobjekt«, um hier nicht von »Versuchskaninchen« oder »Laborratte« zu reden. Sie »litten« ja sowieso. Da konnte man doch rasch auch mal austesten, ab welcher Dosierung ein neuentwickeltes Medikament tödlich ist.
Ein Bischof, christliche Gebote und Mut
Bischof von Galen predigte im Sommer 1941 dreimal sehr kritisch gegen Machenschaften der Nazi-Führung. Er prangerte die Enteignung von Klöstern an. Er verwahrte sich gegen »unkeusche« Kleidung. Er kritisierte, daß Jugendliche gegen ihre Eltern erzogen wurden. Kurzum: Er sah die christlichen Gebote stark gefährdet. So auch das fünfte: »Du sollst nicht töten!«. Und das belegte er ausdrücklich mit den Morden – ja, so nannte er das – an Insassen psychiatrischer Heil- und Pflegeanstalten.
Das »lieber tot als behindert« bekommt so einen recht eigenartigen Klang. Keines der Opfer war gefragt worden. Jedes lebte sein Leben. Aus meiner heutigen Perspektive wahrscheinlich ein äußerst bescheidenes, sehr fremdbestimmtes. Aber immerhin: das Leben. Mit Höhen und Tiefen. Mit Freuden und Kummer.
Wenn sich jetzt – erst oder schon jetzt? – ein Freundeskreis zusammenfindet, der die Arbeit der jungen T4-Gedenkstätte unterstützend begleitet, ist ein Grund für diese Aktivität die Befürchtung, daß menschenverachtendes Kosten-Nutzen-Denken in Bezug auf Teilhabeermöglichung, freie Persönlichkeitsentfaltung und Selbstbestimmung auch schwerst- und mehrfachbehinderter Menschen längst noch nicht endgültig überwunden ist.
Irreführende Bilder
Weil auch die irreführenden Bilder sowohl in journalistischen Darstellungen als auch in politischen Verlautbarungen und demzufolge auch im Alltagsbewußtsein immer wieder reproduziert werden: Da »leiden« Menschen ununterbrochen an ihrer Behinderung. Nein! Sie leben mit ihr. Sie ist Teil ihrer Persönlichkeit. Da sind Menschen »an den Rollstuhl gefesselt«. Nein! Sie nutzen ihn als ihr wichtigstes Hilfsmittel. Er gibt ihnen (Bewegungs-)Freiheit. Da sind Menschen »leistungsgemindert« oder gar »-unfähig«. Nein! Sie passen nur nicht in das Schema kapitalistischer Erwerbsarbeit. Sie erbringen keine »wirtschaftlich verwertbare Leistung«. Na und?! Sie sie deshalb keine Menschen? Babys »erwirtschaften« auch (noch) nichts. Haben sie deshalb keine oder weniger Würde?
Bischof von Galen beschwört am 3. August 1941 in der Lambertikirche mehrfach das Bild vom weinenden Jesus. Er weint, weil er sein Volk und seine Stadt Jerusalem leiden sieht. Und der katholische Priester fragt, ob der Allwissende nicht auch schon das Leiden in der Zukunft – also seiner, des Bischofs, Gegenwart – sieht und auch deshalb weint. Das Leid, das denen zugefügt wird, die unschuldig und wehrlos sind.
Fremdnützige Forschung an einwilligungsunfähigen Menschen?
Heute führen wir Debatten über »Sterbehilfe«, anstatt Sterbende zu begleiten. In einigen Nachbarländern wird der Begriff »Euthanasie« schon wieder hoffähig, wenn »Töten auf Verlangen« gemeint ist. In der vorgeburtlichen Diagnostik wird – nahezu flächendeckend – nach »Abweichungen« von »normaler Entwicklung« gesucht. Immer mit dem Impetus, Leiden verhindern zu wollen. Aber: Was – bitteschön – ist die »Norm für Mensch«? Ganz aktuell plant das Bundesgesundheitsministerium, fremdnützige Forschung an Menschen zuzulassen, die nicht einwilligungsfähig sind. Natürlich nur »ganz schonend« und nur wenn es gar nicht anders ginge. So ein stark demenzieller Mensch oder ein Komapatient merkt doch sowieso nichts (mehr). Und viele, viele andere könnten aus den Forschungsergebnissen unendlich großen Nutzen ziehen …
Mehr von Ilja Seifert in den »Mitteilungen«:
2015-07: Frühe Denkschrift – spätes Gedenken
2014-10: »Euthanasie« – ein guter Tod?