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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

KZ Sachsenhausen: »Ausbildungsstätte« für SS-Leute

Reinhard Junge, Bochum

 

Vor 80 Jahren begann der Bau des Konzentrationslagers bei Berlin

 

Sachsenhausen – viele Bundesbürger haben diesen Ort Jahrzehnte lang nur mit dem gleichnamigen Stadtteil von Frankfurt (Main) verbunden, wo es zahlreiche »Äppelwoi«-Kneipen gibt. Die ARD drehte dort die beliebte Sendung »Zum Blauen Bock«, Vorläufer der heutigen »Volksmusik«-Abende, in der angesäuselte Besucher realitätsfern die heile Welt des Wirtschaftswunderlandes feierten.

Für mich lag Sachsenhausen schon als Kind ausschließlich bei Berlin. In Holland von der Gestapo verhaftet, hatte mein Vater Heinz dort vom Herbst 1940 bis zum Februar 45 »gesessen« – wie er es oft verharmlosend bezeichnete. Meine ersten optischen Eindrücke von diesem KZ stammen aus einem in Schwarz-Weiß gedrehten sowjetischen Dokumentarfilm. Er beginnt mit Ausschnitten aus Nazi-Wochenschauen. Die ersten Sequenzen zeigen die Nazi-Führung im Rausch der XI. Sommerolympiade (1. bis 16. August 1936), einem unfreiwilligen Geschenk der Weimarer Republik, die Berlin als Austragungsort 1931 gegen Barcelona durchgesetzt hatte.

Für die Nazis war das die ideale Gelegenheit, die Welt mit gigantischen Sportstätten und bestens organisierten Wettbewerben zu beeindrucken. Und »die Welt« bedankte sich: Aus der US-Mannschaft wurden (wie aus dem deutschen Team) alle Juden verbannt, und Frankreichs Athleten marschierten bei der Eröffnungsfeier mit dem Hitlergruß an den Ehrentribünen vorbei.

Schnitt zum alten Potsdamer Platz: Lustig bimmelnde Straßenbahnen und fröhliche Menschen in den Cafés, aus denen man – wie überall in Berlin – die Schilder »Juden unerwünscht« entfernt hatte. Selbst das Hetzblatt »Der Stürmer« durfte die ausländischen Touristen nicht mit antisemitischen Artikeln behelligen. Aber laut »Wikipedia« übten Hitlerjungen schon das Lied: »Nach der Olympiade / hauen wir die Juden zu Marmelade.«

Mordlust und Widerstand

Schnitt: die Leichenberge im KZ-Sachsenhausen, wie sowjetische Soldaten sie bei der Befreiung des KZs im April 1945 vorgefunden hatten. Denn parallel zu der verlogenen Olympiade begann bei Oranienburg, unweit von Berlin, aber fern aller Touristenströme, der Bau dieses gigantischen Mordplatzes. Das neue KZ sollte, wie man heute weiß, die »Allmacht« der Nazis symbolisieren und als Vorbild für alle Lager dienen, die später errichtet wurden. Vom Turm A aus konnte man den gesamten Appellplatz und die meisten der strahlenförmigen Reihen von Häftlingsbaracken mit einem einzigen Maschinengewehr erreichen. SS-Chef Himmler und Innenminister Frick überwachten den Bau des Lagers persönlich und verlegten 1938 die Verwaltung aller Konzentrationslager nach Oranienburg: Sachsenhausen sollte auch als »Ausbildungsstätte« für SS-Leute dienen.

Der sowjetische Film setzt fort mit dem Verhör eines gefangenen SS-Mannes, der im Lager mitgemordet hatte. Der Mann war deprimiert: Dass er einmal von einem dieser »Untermenschen« in sowjetischer Uniform in einem etwas harten, aber ansonsten perfekten Deutsch verhört würde – das hatte er sich in seinem verordneten Glauben an den »Endsieg« wohl niemals vorstellen können.

Ohne erkennbare Reue berichtet dieser SS-Mann von der größten Mordaktion, die je in diesem KZ stattgefunden hat: Im Sommer 1941 wurden in einer eigens dafür gebauten Genickschussanlage etwa 17.000 sowjetische Kriegsgefangene ermordet – »heimtückisch«, um einen von den Nazis erfundenen Begriff zu benutzen. Denn die Opfer hatten bis zum Schluss den Eindruck, ärztlich untersucht zu werden: zuerst auf die Waage, dann an die Messlatte für die Körpergröße. Dass sich dort eine kleine Schießscharte für den Pistolenschützen öffnete, konnten die Gefangenen nicht bemerken. – Mich hat, als ich den Film zum ersten Mal sah, die Disziplin des sowjetischen Offiziers beeindruckt. Voller Selbstbeherrschung erforschte er alle Details über die Ermordung seiner Genossen, obwohl es in seinem Innern lodern musste.

Dass Sachsenhausen nicht ein Synonym für Schunkelfeiern blieb, war eines der wichtigsten Anliegen der Überlebenden. Das »Sachsenhausen-Komitee für die Bundesrepublik« [1] erstellte in den 1960er Jahren mit den primitiven Mitteln des vordigitalen Zeitalters eine Wanderausstellung, die danach in vielen Städten gezeigt wurde. Beim Beschriften der Tafeln an unserem Wohnzimmertisch erfuhr ich mehr, als meine Mitschüler und unsere Lehrer wussten: Von den rund 200.000 Häftlingen starben zwischen 1936 und 1945 etwa 65.000. Viele von ihnen waren die Opfer reiner Mordlust. So wurden Neuzugänge schon am Tor von Prügelkommandos empfangen und bis zur Einweisung in ihre Häftlingsblocks immer wieder von SS-Leuten brutal traktiert.

Von den 83 Gefangenen, mit denen mein Vater am 4. Dezember 1940 ins Lager kam, wurde ein Jude gleich am Eingang erschlagen. Acht weitere Männer stürzten sich aus Angst vor weiteren Qualen schon in der ersten Nacht nach der Ankunft in den elektrisch geladenen Drahtzaun. Heinz Junge schreibt in seinen Erinnerungen: »Selbst die SS kann nicht so schnell töten, wie Neue von der Gestapo eingeliefert werden.« [2]

Neben den Juden wurden auch »Zigeuner« oft schon am Tor erschlagen, Zeugen Jehovas mit Vorliebe auf der Schuhprüfstrecke zu Tode gequält. Denn diese Menschen weigerten sich, ihre Henker mit »Heil Hitler« zu grüßen, sondern riefen, stöhnten und flüsterten bis zum Tod: »Gelobt sei Jesus Christus«. Für meinen Vater zählten sie zu den Tapfersten.

Auch an Homosexuellen, die einen rosafarbenen Winkel an der Jacke tragen mussten, tobten sich die Mordlustigen aus. In einer gezielten Aktion wurden im Sommer 1942 in wenigen Wochen zweihundert von ihnen auf einem Außenkommando umgebracht.

Etwas Hilfe konnten die politischen Häftlinge jenen jungen Tschechen und Polen geben, die nach der Besetzung Prags und der Eroberung Warschaus in großer Zahl nach Sachsenhausen deportiert wurden. Unter ihnen waren sehr viele Lehrende und Studenten – die Nazis wollten die geistige Elite dieser Länder auslöschen. Sie wurden in ihren Blocks oft so ähnlich empfangen, wie mein Vater es im Dezember 1940 erlebt hat:

Vor Block 17 fordert ein Häftling die Neuen auf: »Emigranten, Hochverräter, Spanienkämpfer rechts raus!« Obwohl kein SS-Mann zu sehen ist, denkt mancher, dass eine neue Teufelei geplant ist. (…) Wir kommen alle an einen Tisch: »Hier könnt ihr beruhigt sein, ihr seid einigermaßen sicher. Ihr seid unter Kameraden. Ich bin ‚Hochverräter‘. (…) Das Brot vor euch betrachtet als Zeichen der Solidarität. Wer Zigaretten raucht, bekommt einige. Das ist alles von den Kameraden gesammelt. Wenn ihr einmal Geld empfangen könnt, helft ihr den anderen Kameraden.« Am Nachbartisch beginnt eine Gruppe tschechischer Studenten ein lustiges Lied zu singen: »Das ist zu eurer Begrüßung.« [3]

Ein Teil der westdeutschen Wanderausstellung dokumentierte auch die Aubeutung der Häftlinge in der Industrie. Vor allem während des Krieges vermietete die SS Gefangene an Firmen wie DEMAG oder Heinkel. Dort mussten die unterernährten Menschen Panzer oder Flugzeuge bauen, mit denen ihre Heimatländer zerstört wurden. So wurden sogar die Opfer der Nazis zur Teilnahme an ihren Verbrechen gezwungen.

Die in der Verwaltung des Lagers eingesetzten politischen Gefangenen nutzten jede Gelegenheit zur Hilfe. Oft wurden besonders gefährdete Gefangene mit den Papieren toter Kameraden ausgerüstet und in Nebenlager abgeschoben, wo sie niemand erkennen und verraten konnte. Über die in der Industrie ausgebeuteten Häftlinge gab es Kontakte zu Widerstandsgruppen in Berlin. So gelang es auch, ein kunstvoll angefertigtes »Lagerliederbuch« in die Schweiz und eine dem SS-Mann »Pistolen-Schubert« entwendete Waffe »nach draußen« zu schmuggeln. Aber vor allem hoffte man im (illegalen) Internationalen Lagerkomitee, bei günstiger Kriegslage das Lager selbst befreien zu können. Es wurden Waffen ins Lager geschmuggelt und Radios gebaut, um informiert zu sein.

Die SS versuchte, mit Hilfe von Spitzeln und Mordaktionen diesen Widerstand zu ersticken. So wurden am 11. Oktober 1944 bekannte Häftlinge, 24 Deutsche und 3 Franzosen, erschossen. Über 1000 andere Häftlinge wurden bis Februar 45 in den vermeintlich sicheren Tod ins KZ Mauthausen geschickt, viele Tausend Entkräftete kurz vor der Befreiung auf Todesmärsche gezwungen. Bei der Befreiung im April 1945 fand die Sowjetarmee nur noch etwa 3.000 Häftlinge im Lager vor – viele von ihnen zu krank und entkräftet, um noch an einen Aufstand denken zu können.

Über den Faschismus aufklären

Viele derer, die mit Glück und auf Grund der Solidarität überlebten, spielten später in ihren Heimatländern eine wichtige Rolle als Politiker oder Kunstschaffende: Norwegens Ministerpräsident Einar Gerhardsen, der Luxemburger Minister und Schriftsteller Pierre Gregoire, der CSR-Präsident Antonin Zapotocky, die Schriftsteller Karl Veken und Jurek Becker, der Verleger Peter Suhrkamp und der (in der BRD boykottierte) Maler Hans Grundig waren »Sachsenhausener«. Viele von ihnen waren in ihrem Wirken von dem Gedanken erfüllt, dass es nie wieder Krieg und Faschismus geben solle. Zu ihnen gehörte auch der Regisseur Bernhard Wicki, dessen Antikriegsfilm »Die Brücke« (1959) mich schon als Jugendlichen sehr beeindruckte.

Eine Wiederholung der Geschichte zu vermeiden – dieses Ziel prägte auch das Sachsenhausen-Komitee für die Bundesrepublik Deutschland, das seine Ausstellung in den 60er und 70er Jahren in vielen Städten zeigte. Besonders gefördert wurde dieses Unternehmen von dem Kölner Verleger Reinhold Heinen, dem hessischen Landtagspräsidenten Georg Buch und Franz Ballhorn, dem Vorsitzenden der Katholischen Sportjugend DJK; Männer wie sie ließen sich auch im Kalten Krieg nicht davon abbringen, zusammen mit Kommunisten über die Gräueltaten des Faschismus aufzuklären.

Ich selbst habe das Lagergelände zum ersten Mal bei der Eröffnung der Nationalen Mahn- und Gedenkstätte der DDR im April 1961 besuchen können – und dafür sogar am Tag davor und danach schulfrei bekommen. Auch das war damals keine Selbstverständlichkeit. Mit welchen Gefühlen die ehemaligen Häftlinge damals durch das Lagertor gingen, konnte ich als Jugendlicher nicht ahnen, geschweige denn nachempfinden. Aber ich war stolz, auf der Ehrentribüne auch meinen Vater zu entdecken. Und mir wurde auch ein bedeutsamer Unterschied klar: Wie bescheiden im Vergleich zu dieser Gedenkstätte und den vielen tausend Gästen der Eröffnungsfeier unsere Anstrengungen im Westen waren, die Wahrheit über den Faschismus zu verbreiten.

Vor 1990 habe ich die Gedenkstätte noch mehrfach mit Gruppen von Jugendlichen aus der BRD besuchen können. Die DDR förderte diese Reisen, während in der BRD viele Jahre lang vor allem Mauerbesichtigungsfahrten nach West-Berlin finanziell unterstützt wurden.

Angesichts der neonazistischen Welle, die unser Land zurzeit erfasst, stellt sich die Frage, was all diese Anstrengungen bewirkt haben. Dafür gibt es sicher viele Ursachen. Aber am Anfang stand gewiss auch die Propaganda gegen den »verordneten« Antifaschismus der DDR, ganz so, als hätte die DDR im Gegensatz zur BRD alles falsch gemacht. Wir Antifaschisten dürfen gerade deswegen nicht aufhören, die Wahrheit zu verbreiten – auch in den »sozialen Medien«, mit denen wir viele Jugendliche erreichen können, die das Lesen und Zuhören verlernt haben.

 

Anmerkungen:

[1] Siehe auch: Reinhard Junge, Zur Geschichte der Sachsenhausen-Komitees: Ein nachdenkenswertes Jubiläum, Mitteilungen der KPF, Heft 4/2013 – Red.

[2] Ich hoffe, Heinz Junges Memoiren bis 2017 soweit ordnen zu können, dass sie zumindest als eBook erscheinen können.

[3] Heinz Junges Memoiren.

 

Mehr von Reinhard Junge in den »Mitteilungen«: 

2015-11: »… treu zu dienen.«

2013-04: Zur Geschichte der Sachsenhausen-Komitees: Ein nachdenkenswertes Jubiläum