Kurt Goldstein
Sprecherrat und Redaktion
Am 24. September 2007 verloren wir Kurt Goldstein. Daß er nicht mehr unter uns ist, erfüllt uns mit Schmerz. Er fehlt. Wie sehr vermissen wir ihn gerade im Streit um das Wesen des Antisemitismus, der seit der Rede Gregor Gysis anläßlich des 60. Jahrestages der Gründung Israels in der Partei schwelt. Doch Klagen hilft nichts. Wir werden seinem Vermächtnis treu bleiben; dem Streben nach Sozialismus und Frieden und dem glühenden Kampf gegen Faschismus. Kurt ist bei uns mit seinen Gedanken. Er gehörte, wie auch heute seine Margot, zur Kommunistischen Plattform, und in vielen Ausgaben unserer "Mitteilungen" ist nachzulesen, was Kurt Goldstein zu den politischen Fragen der Gegenwart und Geschichte zu sagen hatte, wie er eingriff in die politischen Auseinandersetzungen seiner Partei. Ihm zum Gedenken und uns zur Verpflichtung dokumentieren wir in dieser Ausgabe Auszüge aus Artikeln, Reden, Interviews und einen Beitrag zu den friedenspolitischen Prinzipien der Partei, den Kurt Goldstein initiiert und vertreten hat.
Aus: Der größte Friedhof in der ganzen Welt
Rede bei der Gedenkfeier des Internationalen Auschwitz-Komitees am 25. Januar 2005 imDeutschen Theater in Berlin in Anwesenheit des Bundeskanzlers der BRD, veranstaltet von ehemaligen Häftlingen des Lagers.
Auf Befehl Hitlers begann die Wehrmacht eine letzte Offensive am 16. Dezember 1944 in den Ardennen. Es gelang zunächst, die alliierten Truppen zu überraschen und zum Zurückweichen zu zwingen.
Das veranlaßte den englischen Regierungschef Churchill, sich am 5. Januar 1945 in einem Telegramm an den sowjetischen Regierungschef Stalin mit dem Ersuchen zu wenden, die für Anfang Februar vorgesehene Offensive der Roten Armee vorzuziehen, um die Verbündeten in den Ardennen zu entlasten. Das geschah. Die Weichsel-Oder-Offensive der sowjetischen Streitkräfte war so wuchtig, daß die Lagerführung am 18. Januar in aller Eile die Evakuierung der Lager anordnete. In Fußmärschen wurden wir Häftlinge bei 10 bis 15 Grad Frost über tief verschneite Straßen gen Westen getrieben. Wer nicht mehr mitmarschieren konnte, wurde von den begleitenden SS-Leuten erschossen. Es wurde im Freien übernachtet. Wer morgens beim Kommando "Antreten" nicht mehr hochkam, wurde erschossen. Das war der Todesmarsch vom Januar 1945.
Ich war in einer Kolonne, die beim Abmarsch von Jawischowitz ca. 3.000 Mann stark war. Als wir am 22. Januar in Buchenwald registriert wurden, waren wir nicht ganz 500 mehr tot als Lebendige. Die kameradschaftliche, gerade liebevolle Weise, wie uns die Buchenwald-Capos in den ersten Stunden behandelten, half uns ins Leben zurück. Dafür sei ihnen gedankt.
Das ist jetzt 60 Jahre her. ...
Wenn ich heute in unserem Vaterland erlebe, daß Nazis auf den Straßen demonstrieren dürfen und das höchste deutsche Gericht diese Aufmärsche wegen der Meinungsfreiheit schützt, dann sage ich: Für uns ist das geradezu eine unmenschliche Tat, wir leiden darunter. "Mitteilungen", 2/2005, S. 1f
Aus: Der sozialen Demagogie der Rechten den Kampf um soziale Rechte entgegensetzen
Von 69 Unterzeichnern unterstützter Text Kurt Goldsteins.
Soziale Verwerfungen, die "Verteidigung deutscher Interessen am Hindukusch" und ein in alle Poren der Gesellschaft eindringender Geschichtsrevisionismus, dessen unabdingbarer Begleiter der Antikommunismus ist – das sind die Hintergründe, vor denen alte und neue Nazis ihren Einfluß erweitern und vertiefen, ...
Ignorieren wir nicht die geschichtlichen Erfahrungen. Nehmen wir das ernst. Nicht zuletzt die PDS steht in der Tradition des Antifaschismus. Gerade wir sind zur politischen Auseinandersetzung mit den Wurzeln des Faschismus verpflichtet. Gerade von uns wird erwartet, daß wir der sozialen Demagogie der Rechten den ernsthaften Kampf um soziale Rechte entgegensetzen. Mit uns gibt es weder Geschichtsrevisionismus noch eine Schlußstrichmentalität.
"Mitteilungen", 11/2004, S. 7
Aus: Keinen Türspalt öffnen
Ein Antrag des Interbrigadisten und Auschwitzhäftlings Kurt Goldstein an den bevorstehenden PDS-Parteitag in Gera, Anlage: Überlegungen vor dem Geraer Parteitag.
Als Soldat in den spanischen Interbrigaden und als Auschwitzhäftling gibt es für mich besonders zwei Grundwerte: den Antifaschismus und den konsequenten Friedenskampf. Wir wollen in möglichst breiten Bündnissen gegen sich verstärkende faschistische Tendenzen kämpfen. Dabei müssen wir zugleich um die Frage streiten, ob die zu weitgehende Kompromißbereitschaft bei der Beteiligung der PDS an Regierungskoalitionen nicht zu einem Verschleiß führen könnte, der mittelfristig die Gefahr des Rechtspopulismus und Neonazismus in der BRD erhöht. Es muß verantwortungsbewußt geprüft werden, welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind.
Wir dürfen in einem überarbeiteten Programm keinen Deut von der konsequenten Forderung im geltenden Programm abweichen: "Die PDS tritt dafür ein, Krieg und militärische Gewalt zu ächten und für immer aus dem Leben der Völker zu verbannen. Wir lehnen Denken und Handeln in Abschreckungs-, Bedrohungs- und Kriegsführungskategorien ab. Wir treten für die schrittweise Beseitigung aller Streitkräfte ein."
Um es unumwunden zu sagen: Käme es hier zu Versuchen, das 93er Programm und den entsprechenden Münsteraner Beschluß auszuhebeln, entschiede das womöglich über das Schicksal der Partei. junge Welt, 24. August 2002 und "Mitteilungen", 9/2002, S. 3
Aus einem Podiumsgespräch zu aktuellen Fragen des Antifaschismus
Dritte Tagung der 12. Bundeskonferenz der Kommunistischen Plattform am 12. März 2005 in Weimar.
Ich hab neulich ein Gespräch im Fernsehen mit der Moderatorin Maischberger gehabt. Ich hab ganz bewußt in diesem Gespräch erzählt, daß ich 1933 im Februar einem Nazi aufs Maul gehauen hab. Ich stand dort an der Theke. Der kam mit einem Glas Bier rein und fragte die Wirtstochter: Hilde, werden bei dir auch Säue getränkt? Das habe ich das erste Mal bewußt überhört. Als er das ganz laut noch einmal wiederholte – und das habe ich dort im Fernsehen so erzählt – hab ich den Aschenbecher, der dort auf dem Tisch stand, genommen, und weil man frechen Kindern manchmal auch auf den Mund schlägt, hab ich dem den Aschenbecher aufs Maul gehauen und dann lag er vor mir. Ich hab das ganz bewußt erzählt, weil ich deutlich machen wollte, daß es Situationen gibt, wo man auch Gewalt anwenden muß und Gewalt anwenden darf. Aber man muß das nicht zum Prinzip machen, muß nicht immer, wenn man Demonstrationen hat, diese mit einer Schlägerei mit der Polizei beenden – das muß nicht sein. Es ist besser, wenn es nicht so ist. Aber es gibt Situationen, wo man auch Gewalt anwenden muß. "Mitteilungen", 4/2005, S. 3
Aus: Geschichtsdebatte jenseits von Vorurteilen
Diskussionsbeitrag zur Geschichtsdebatte, Berliner Landesparteitag am 11. März 2007.
Die DDR gibt es seit knapp siebzehn Jahren nicht mehr. Die Sowjetunion, ohne die es für uns keinen antifaschistischen Neubeginn gegeben hätte und ohne die ich nicht mehr lebte, existiert nicht mehr. Machen die historischen Verdienste der Sowjetunion die Repressionen unter Stalin ungeschehen? Wie könnte das sein? Ich erinnere mich an das Entsetzen, mit dem ich vom bittren Schicksal meiner Frau Kenntnis nahm. Margots Vater war im Hotel Lux 1937 verhaftet und 1939 ermordet worden. Ihre Mutter mußte 1940 mit ihr und dem Bruder nach Deutschland zurückkehren. Margot war zwölf Jahre und kam in ein Umerziehungslager der Nazis. So etwas dürfen gerade Sozialisten und Kommunisten nicht vergessen. Diese moralische Verpflichtung steht nicht im Widerspruch zur Anerkennung der Tatsache, daß die Welt besser aussah, als der Kapitalismus in Europa mit einer wenn auch in vieler Hinsicht sehr unzulänglichen gesellschaftlichen Alternative konfrontiert war. Und noch etwas: Nicht weniger als an unverzeihliche Praktiken und an schlimme, von uns begangene Dummheiten erinnere ich mich daran, mit welchem Haß wir vom Westen bekämpft wurden.
So viel, liebe Genossinnen und Genossen, im Telegrammstil zu den Grunderfahrungen meines Lebens. Ich bin weder bereit, so zu tun, als sei der gewesene Sozialismus in der Sowjetunion oder in der DDR ein makelloses Unterfangen gewesen, noch bin ich bereit, antikommunistische Vorurteile zu bedienen. Diese Vorurteile bestimmen die veröffentlichte Meinung und werden auch von manchen Linken kolportiert. Die Geschichtsdebatte in unserer Partei sollte jenseits dieser Vorurteile erfolgen.
Vorgetragen von Rainer Rau, "Mitteilungen", 4/2007, S. 7/8
Aus: Das Totschlagargument
Interview der Zeitschrift "antifa" mit Kurt Goldstein
Heute wird der Vorwurf des Antisemitismus als Totschlagargument benutzt, um jede Kritik an Scharons Politik zum Schweigen zu bringen. Dieser Mißbrauch stellt geradezu eine Beleidigung für die von den Nazis ermordeten Juden dar. Zur Erinnerung: Der Antisemitismus der Nazis hat zu Verbrechen geführt, die es in der Menschheitsgeschichte noch nicht gab. Ich bin ja selbst in Auschwitz gewesen und weiß, was der Antisemitismus der Nazis bedeutete, und das weiß man überall in der Welt. Es ist zweifellos nicht richtig, irgendwelche Vergleiche zwischen den Nazis und der Politik Scharons zu ziehen. Menschen, die das tun, sind sich der Einmaligkeit der Verbrechen der Nazis nicht bewußt. Aber man muß sich auch darüber klar werden, daß das, was den Palästinensern in ihrem eigenen Land vom israelischen Militär angetan wird, auf die Anklagebank des Kriegsverbrechertribunals in Den Haag gehört. Es ist sicher auch so, daß Antisemiten die Untaten von Scharon nutzen, um Antisemitismus zu schüren. Aber dagegen müssen sich auch die wenden und wenden sich ja auch, die Scharon in aller Deutlichkeit kritisieren. Bundespräsident Johannes Rau hat sich vor kurzem in einem Interview mit diesem Problem befaßt. Man kann ihm da nur zustimmen, daß man die berechtigte Kritik an der Politik Scharons nicht diskreditieren darf, indem man sie als Antisemitismus bezeichnet.
Das Gespräch führte Achim Becker. "antifa", 6/2002, S. 7 und "Mitteilungen", 7/2002, S. 7
Aus: Keine Reden aus dem Fenster
Die Monatszeitschrift "antifa" sprach mit Kurt Goldstein über die "Antisemitismuskonferenz" der OSZE am 28./29. April 2004 in Berlin.
Da ist jetzt im Schulbuch-Verlag Klett eine Broschüre herausgekommen, die überschrieben ist "Vor Antisemitismus ist man nur noch auf dem Mond sicher. Antisemitismus und Antiamerikanismus in Deutschland". In dieser Broschüre spricht Frau Kahane von dem "modernen Antisemitismus, der an einigen Stellen deutliche Überschneidungen mit dem Antiamerikanismus zeigt". An anderer Stelle heißt es: "Antisemitische und antiamerikanische Ressentiments vermengen sich zunehmend und werden Teil der politischen Artikulation von Teilen der Protestbewegungen wie den Globalisierungsgegnern oder der Friedensbewegung." Nach dieser Auffassung wären die Leute, die sich auf Demonstrationen gegen den Irak-Krieg gewandt haben, Antisemiten und Antiamerikaner. So will man alle Kritik an der USA-Administration und an der Regierung Israels abwürgen.
"antifa", Juni/Juli 2004, S. 22. Die Fragen stellte Achim Becker. "Mitteilungen", 7/2004, S. 10