Keine Union, kein Segen: Die "Währungsunion" vor 20 Jahren
Prof. Dr. Harry Nick, Berlin
Die mit Stichtag 1. Juli 1990 vollzogene Währungsunion verdient ihren Namen so wenig wie der Anschluß der DDR an die BRD den Namen "Vereinigung" verdient. Diese Übernahme der Währung der BRD noch zu Lebzeiten der DDR war deren faktische Beerdigung. Sie war der wichtigste Ausgangspunkt, das zentrale Moment in der Übernahme der Wirtschafts- und Sozialordnung der BRD. Die politischen Prozeduren ihrer Vorbereitung und ihrer Ausführung waren für die Noch-DDR demütigend, geradezu delegitimierend, ihre Folgen für die ostdeutsche Wirtschaft verhängnisvoll. Sie war ein Musterbeispiel für das Primat der Politik über die Ökonomie, das an politischen Wegscheidungen auch erhebliche wirtschaftliche Verluste in Kauf zu nehmen bereit ist.
Eine Sturzgeburt
Alle wirtschaftlichen Bedenken über eine schnelle Währungsunion auch in den eigenen Reihen der herrschenden politischen Elite wurden in den Wind geschlagen. Entgegen selbst den Vorstellungen der Bundesbank, von Unternehmerverbänden wie des Deutschen Industrie- und Handelskammertages, des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, beschloß die Bundesregierung am 7. Februar 1990 "angesichts der Dramatik der Entwicklung in der DDR" zur unmittelbaren Vorbereitung einer Währungsunion überzugehen. Nicht nur die DDR-Regierung, auch der Präsident der Bundesbank, Pöhl, der sich noch am Vortage gegen eine übereilte Währungsunion ausgesprochen hatte, war von der Regierung nicht gefragt worden!
Das Verlangen des Großteils der Bevölkerung der DDR nach der D-Mark war außerordentlich stark. Damit war für sie die Vorstellung von Reisefreiheit, vom Ausbruch aus der Mangelwirtschaft, vom Zugang zu einem besseren Angebot an Waren und Dienstleistungen verbunden. Dieses Verlangen wurde politisch mißbraucht, Wege für schrittweises Befriedigen solchen Verlangens wurden nicht gesucht, über die voraussehbaren Folgen einer schnellen Währungsunion wurde nicht aufgeklärt. Nicht zu Unrecht wurde die Währungsunion eine "Schock-ohne-Therapie" genannt. Hätte es einen demokratischen Diskurs der Ostdeutschen über die Währungsfrage gegeben, die Aufklärung über die Folgen einer schnellen Übernahme der BRD-DM eingeschlossen, hätte sich wohl eine Mehrheit für einen allmählichen, schrittweisen Zugang zu konvertibler Währung ausgesprochen. Die da riefen "Kommt die DM nicht zu mir, komme ich zu ihr" waren eine Minderheit. Was nicht nur der Herr Gauck nicht wissen will: Noch Anfang Dezember 1989 hatten sich 73 Prozent der Befragten für die Souveränität der DDR ausgesprochen, 71 Prozent wollten an der grundsätzlichen Idee des Sozialismus festhalten, 27 Prozent waren für einen gemeinsamen Staat mit der BRD. In einer anderen Umfrage Ende Dezember 1989 sprachen sich 69,2 Prozent für eine Vertragspartnerschaft und die gleichzeitige Souveränität beider deutscher Staaten aus, 55,7 Prozent waren für eine europäische Föderation mit der DDR als selbständigem Staat, 14,3 Prozent für eine Föderation mit der BRD und der DDR als Bundesland, 9,2 Prozent für eine bedingungslose Angliederung an die BRD (Berliner Zeitung 19. Dezember und 4. Januar 90). Christa Luft, Wirtschaftsministerin in der Modrow-Regierung, meint, daß es bis Ende Januar 1990 eine gewisse Chance für eine Alternative zur schnellen Währungsunion gegeben hat, die aber zu keiner Zeit von der DDR-Seite aus eigener Kraft hätte eingelöst werden können.
Sozialdemokratische Agitation für eine schnelle Währungsunion
Befürwortung einer schnellen Währungsunion mit entsprechenden Begründungen kam vornehmlich von der SPD, insbesondere von Frau Ingrid Matthäus-Meier, der damaligen finanzpolitischen Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion:
- ein günstigerer Zeitpunkt, eine günstigere makroökonomische Konstellation für die Währungsunion seien nicht vorstellbar; die BRD befände sich in einer exzellenten wirtschaftlichen Verfassung, ihr Leistungsbilanzüberschuß 1989 betrug etwa 150 Mrd. DM,
- der Zugang zu westlichem Waren- und Leistungsangebot würde eine schnelle Anhebung der Leistungsmotivation der Bevölkerung in der DDR bewirken, ihr Zukunftsvertrauen stärken,
- der Abwanderung vor allem von Jugendlichen, Facharbeitern und Angehörigen der technischen und medizinischen Intelligenz in die westlichen Bundesländer könne anders nicht Einhalt geboten werden,
- die schlagartige Beseitigung der Engpässe in der Wirtschaft – sowohl bei Investitionsgütern wie bei Zulieferungen und Material – würde sehr schnell bedeutende Produktivitätshemmnisse beseitigen,
- für westliche Kapitalbeteiligungen und Neugründungen würden sofort alle Konvertibilitäts- und Transferprobleme entfallen, was einen sehr schnellen und starken Zustrom westlichen Kapitals zur Folge haben würde, der zudem wegen der zunächst etwa nur halb so großen Nettoeinkommen in der DDR kräftig stimuliert werden würde,
- die traditionellen intensiven Wirtschaftsbeziehungen der DDR zur Sowjetunion und den anderen Ländern Osteuropas würden der Wirtschaft Ostdeutschlands gegenüber westdeutschen, westeuropäischen Unternehmen auch auf längere Sicht wichtige Wettbewerbsvorteile sichern, den wirtschaftlichen Aufschwung in Ostdeutschland fördern.
Besonders große Erwartungen wurden an die schnelle Entwicklung mittelständischer Unternehmen geknüpft; hier wurde ein regelrechter Gründungsboom erhofft, in dessen Ergebnis nach Einschätzung des Bundeswirtschaftsministeriums in kurzer Frist mindestens eine halbe Million neuer Arbeitsplätze entstehen sollten.
Die Einführung der D-Mark könnte "der Startschuß für ein Wirtschaftswunder in der DDR sein", so Matthäus-Meier.
Die Warner vor einer schnellen Währungsunion haben recht behalten
Von einem ostdeutschen Wirtschaftswunder könnte man höchstens in dem Sinne reden, daß es für den wirtschaftlichen Absturz Ostdeutschlands nach der Währungsunion in der neuzeitlichen Geschichte Europas kein zweites Beispiel gibt.
Die Industrieproduktion in Ostdeutschland entwickelte sich 1990 wie folgt (in Prozent zum jeweiligen Vorjahresmonat):
Januar 95,0 Juli 56,3
Februar 97,1 August 48,1
März 98,3 September 49,2
April 97,6 Oktober 47,9
Mai 92,6 November 51,1
Juni 86,5 Dezember 45,8
Innerhalb nur eines Monats verringerte sich die Industrieproduktion eines ganzen Landes um ein Drittel. Allein hierfür gibt es in Friedenszeiten kein zweites Beispiel in der Geschichte der Neuzeit.
Gleicherweise beispiellos war auch der dramatische Einbruch der landwirtschaftlichen Produktion. Ende 1991 gegenüber Ende 1989 betrugen die Rückgänge wie folgt: Rinder um 43%, Schweine um 61%, Schafe um 69%. 13% des Ackerlandes waren im Wirtschaftsjahr 1990/91 stillgelegt.
Die Hoffnung darauf, daß es für die ostdeutsche Wirtschaft von Vorteil sein werde, daß ihr, im Unterschied zu den anderen ehemals sozialistischen Ländern Europas, der andere und leistungsfähigere Teil der nationalen Wirtschaft hilfreich zur Seite stehen und eine besonders schnelle wirtschaftliche Angleichung befördern könnte, erfüllten sich nicht. Im Gegenteil: Die sofortige und totale Öffnung Ostdeutschlands für die westdeutsche Wirtschaft war für die ostdeutsche Wirtschaft verhängnisvoll; ihr Niedergang war größer und vollzog sich schneller als in allen anderen ehemals sozialistischen Ländern.
Das westdeutsche Kapital verhielt sich keineswegs wie ein "scheues Reh"; es kam schnell, massiv, rabiat, eben markt-konform. Die marktnahen Bereiche Handel, Banken, Versicherungen wurden in der Tat zügig modernisiert, ausgebaut; die produzierenden Bereiche wurden als Konkurrenten plattgemacht; manche eben nicht, weil sie "marode", sondern weil sie auf den Weltmärkten auch zu DDR-Zeiten relativ erfolgreich waren.
Betrug der Anteil beider deutscher Staaten am Osthandel vor der Wende jeweils etwa fünfzig Prozent, so betrug der Anteil Ostdeutschlands 1994 fünf Prozent und der Westdeutschlands 95%.
Und die Westflucht der Ostdeutschen war nach der Wende unvergleichlich größer als vor der Wende. "Kommt die Arbeit nicht zu mir, laufe ich zu ihr!"
Eine falsche Analogie
Das Vertrauen darauf, daß nach der Währungsunion, allein durch das Wirken der Marktkräfte, in Ostdeutschland ein zweites Wirtschaftswunder sich ereignen würde, wurde immer wieder mit dem Verweis auf das westdeutsche Wirtschaftswunder nach der Währungsreform vom Juni 1948 gerechtfertigt. Diese Analogie war aber grundfalsch.
Erstens war die Währungsreform von 1948 nicht wie die Währungsunion von 1990 mit einer Umwälzung der sozialökonomischen Grundlagen der Gesellschaft, namentlich der Eigentumsverhältnisse, verbunden. Die aus dem Dritten Reich überkommenen Eigentumsstsrukturen wurden – sieht man von dem Zwischenspiel gewisser Konzernentflechtungen ab – übernommen. Das Gebot des Artikels der Hessischen Landesverfassung, der die Überführung der Grundstoffindustrie in öffentliches Eigentum fordert – hierfür hatten sich in einer Volksbefragung im Juni 1946 über 70 Prozent ausgesprochen – war niemals erfüllt worden. Andererseits ist in der BRD auch nicht annähernd so hemmungslos privatisiert worden wie nach dem Ende der DDR in Ostdeutschland.
Zweitens war die Bundesrepublik zur Zeit der Währungsreform auf die Bedingungen der Marktwirtschaft wirtschaftlich viel besser gerüstet als die DDR zur Zeit der Währungsunion. Vor der Währungsreform befand sich die westdeutsche Wirtschaft gewissermaßen in den Startlöchern, es waren Vorräte an Waren wie auch an Produktionskapazitäten angehäuft, die eben nur auf diesen Start warteten, dann einen starken Produktions- wie Nachfrageschub ermöglichten, der schnell und kräftig die gesamte wirtschaftliche Entwicklung stimulierte. In der DDR befand sich die Wirtschaft 1990 keineswegs in den Startlöchern; sie war im Gegenteil einer plötzlichen lawinenartigen Invasion von Warenströmen aus wirtschaftlich weit überlegenen Regionen völlig ungeschützt ausgeliefert.
Der Exportboom in der Folge des Korea-Krieges (1950-1953), der die wirtschaftlichen Kräfte der Vereinigten Staaten, dem damals wirtschaftlich weit überlegenen Land, in hohem Maße gebunden hatte, kam vor allem Westdeutschland zugute. Westdeutschland verfügte nach Kriegsende über einen großen und relativ modernen Kapitalstock. Durch Kriegszerstörungen waren 17,4% des industriellen Anlagevermögens (1936=100) verlorengegangen, die Investitionen im Zeitraum 1936-1945 betrugen aber 75% im Verhältnis zum Anlagevermögen, die Abschreibungen 37,2%; so daß das Bruttoanlagevermögen der westdeutschen Industrie 1945 120,6% im Vergleich zu 1936 betrug, also um ein Fünftel größer war. Aber es war auch verjüngt worden: 1935 waren 9% des industriellen Anlagevermögens unter 5 Jahre alt, 1945 waren dies 34%; unter 10 Jahre alt waren es jeweils 29% bzw. 55%. [1] Der Rückgang der industriellen Produktion nach dem Kriege war wahrscheinlich weniger auf die Zerstörung materieller wirtschaftlicher Substanz im Kriege zurückzuführen als auf die allgemeinen Nachkriegswirren, auf die Unterbrechungen von Verkehrsverbindungen; deshalb wurde auch das industrielle Vorkriegsniveau (in Ostdeutschland früher als in Westdeutschland, trotz einsetzender Reparationen) relativ schnell wieder erreicht (1948; in Westdeutschland erst im 4. Quartal 1949).
Drittens wurde die Marktwirtschaft in Westdeutschland nach der Währungsreform keineswegs von einem Tag zum anderen eingeführt:
- Große und wichtige Bereiche der Wirtschaft wurden über Jahrzehnte durch staatliche Subventionen gestützt und durch Zölle geschützt: Der Bergbau, die Stahlindustrie, der Schiffbau und vor allem die Landwirtschaft (noch Ende der achtziger Jahre stammten 30 Prozent der bäuerlichen Einkünfte aus dem Staatshaushalt). Es gab für wirtschaftlich beeinträchtigte Lagen erhebliche Zuschüsse ("Zonenrandgebiete", Westberlin).
- Nach der Währungsreform blieben Preisvorschriften für einen großen Teil der Wirtschaft in Kraft: für Kohle, Koks, Elektroenergie, Gas, Wasser, Walzwerk- und Schmiedeerzeugnisse, Waschmittel, für viele Nahrungs- und Genußmittel. Für Mieten wurden Höchstpreise festgesetzt, die Mietpreisbindung wurde erst in den sechziger und siebziger Jahren sukzessive gelockert bzw. aufgehoben.
- Der gesamte Außenhandel wurde nach der Währungsreform über viele Jahre streng reglementiert. Als 1950 die Gefahr einer Zahlungsunfähigkeit der BRD heraufzog, wurde mit der Neuregelung der Einfuhrbewilligungen (16. 10. 1950) ein wirksamer Schutz gegen die Überschwemmung Westdeutschlands mit Importwaren errichtet.
- Die Konvertierbarkeit der DM wurde auch nicht mit der Währungsreform, sondern reichlich zehn Jahre später (per 31. 12. 1958) eingeführt, als die wirtschaftlichen Konsequenzen überschaubar und vor allem bewältigbar waren. Selbst im Saarland wurde die DM erst drei Jahre nach Eingliederung dieses Landes 1957 in die Bundesrepublik eingeführt, obwohl damit keineswegs ein Wechsel in der gesamten Wirtschaftsverfassung verbunden war. Es wurde mit Frankreich eine Übergangszeit von drei Jahren vereinbart, in welcher der Franc als Zahlungsmittel im Umlauf blieb.
Wäre die Währungsparität von DDR-Mark zur DM schrittweise, entsprechend der steigenden Leistungskraft der ostdeutschen Wirtschaft, verändert worden, hätte es diesen wirtschaftlichen Einbruch nicht, jedenfalls bei weitem nicht in diesem Ausmaße, geben müssen.
Keine realistische Alternative?
Nein, auch zur schnellen Währungsunion habe es keine realistische Alternative gegeben, behauptet Wolfgang Schäuble in einem Interview mit dem Neuen Deutschland, erschienen am 18. Mai 2009. In Wahrheit hat es vor der Währungsunion eine lebhafte Diskussion darüber gegeben, wie eine schrittweise ordnungspolitische und realwirtschaftliche Angleichung Ostdeutschlands hätte geben können, bei welcher die Währungsunion nicht am Anfang, sondern am Ende dieses Prozesses hätte stehen sollen. Die Überlegungen reichten bis in sehr konkrete Detailfragen. Zum Beispiel:
- Wie könnte bei offenen Grenzen und unterschiedlichen Währungen, wenn auch für eine Übergangszeit, eine ertragreiche wirtschaftliche Kooperation, eine Modernisierung der DDR-Wirtschaft erreicht werden?
- Wie könnte für diese Übergangszeit ein limitierter Zugang zur DM für die DDR-Bevölkerung ermöglicht werden?
- Sollte in der DDR noch vor der Währungsunion eine Währungsreform mit dem Ziel durchgeführt werden, den Geldüberhang kräftig zu reduzieren? – sollte der Wechselkurs der DDR-Mark freigegeben werden?
- Sollte ein gespaltener Wechselkurs – hoher Kurs für Importeure und Reisende, niedriger Kurs für DDR-Exporteure – eingeführt werden?
- Sollte ein zwischenstaatlich vereinbarter "amtlicher" fester Wechselkurs von D-Mark zur DDR-Mark festgelegt werden? Dies erschien als der beste Weg zur notwendigen Konvertibilität der DDR-Mark. Dabei hätte für eine gewisse Zeit die Umtauschbarkeit von Devisen differenziert gestaltet werden sollen: Volle Konvertibilität für Ausländer, bestimmte Beschränkungen der Konvertibilität für kurzfristige Kapitalexporte und für die Bevölkerung.
Praktische Erfahrungen, die für die genauere Markierung der Wege in ein wirtschaftliches Neuland unentbehrlich gewesen wären, hat es nicht gegeben. "Alternativlos" ist das mit Abstand wichtigste Unwort auch für die Währungsunion.
Der Streit um den Umtauschkurs
Der Umtausch der DDR-Mark gegen die D-Mark der BRD erfolgte für alle Flußgrößen – laufende Zahlungen wie Löhne, Renten, Mieten – im Verhältnis 1:1, für die Bestandsgrößen – Schulden und Guthaben, Vermögenswerte – um Verhältnis 2:1. Sparguthaben und Bargeld wurden bis zu 4.000 DDR-Mark je Person im Verhältnis 1:1 umgetauscht. Staatsvertrag wie Einigungsvertrag sahen vor, daß die im Verhältnis 2:1 umgetauschten Sparbeträge später im Verhältnis 1:1 umgerechnet und die Differenz aus den Verkaufserlösen der Treuhandanstalt den Sparern erstattet werden sollten. Das ist nie geschehen; mit der Begründung, daß die Treuhandanstalt durch Verkauf der volkseigenen Betriebe keine Erlöse, sondern Verluste erzielte.
Über die Höhe der Umtauschkurse wurde und wird bis auf den heutigen Tag gestritten. In seinem 2009 im Aufbau Verlag veröffentlichten Buch Wunder muß man ausprobieren bezeichnet Reinhard Höppner, später Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt den damaligen Umtauschsatz von 1:2 als größte politische Fehlentscheidung im Einigungsprozeß. Dieser Kurs hätte 1:4 sein sollen; dann wären die DDR-Altschulden halb so groß ausgefallen.
Wie hoch ein ökonomisch begründeter Wechselkurs hätte sein sollen, ist nicht annähernd ermittelbar. Einen staatlich geregelten Wechselkurs beider Währungen gab es nicht. Der DDR-interne Umrechnungskurs DM:DDR-Mark für die Devisenerlöse bzw. für zu begleichende Devisenausgaben der Betriebe, der so genannte Richtungskoeffizient, betrug zuletzt 1:4,5. Die Umtauschsätze Westberliner Wechselstuben schwankten um 1:5, zeitweise auch bis zu 1:10. Die Kaufkraftparitäten beider Währungen, die eigentlich ausschlaggebend für die Ermittlung der Wechselkurse sein müßten, wurden überwiegend mit 1:1 geschätzt. Gerade aber diese Paritäten sind wegen sehr großer Unterschiede in den Preisstrukturen nicht ermittelbar. Die Güter und Leistungen für die Befriedigung des Grundbedarfs und die "nicht handelbaren" Güter und Leistungen wie Mieten, Energiepreise, Nahverkehr hatten in der DDR sehr viel niedrigere, technische Konsumgüter sehr viel höhere Preise. Eine Rentnerin machte nach der Angleichung der Tarife der Ostberliner Verkehrsbetriebe an das Westniveau folgende Rechnung auf: Früher konnte ich für meine Monatsrente von 600 Mark 3.000 Fahrten bezahlen, jetzt nur noch 300.
Nach der Währungsunion gerieten alle DDR-Betriebe in die Verlustzone. Sollten sie erhalten bleiben und folglich zum Ertragswert – zum herrschenden Zinsfuß kapitalisierte Gewinnerwartung – bewertet werden, mußten sie verschenkt und eventuell noch ein Verlustausgleich gezahlt werden. Erhebliche Lohnsenkungen und/oder viel geringere DDR-Mark- Verrechnung gegen die DM hätten dies verhindern können. Die DDR-Mark sei in der Währungsunion erheblich aufgewertet worden. Man kann es auch anders sehen: Die ohnehin in der DDR zu niedrig bewerteten Anlagevermögen der Betriebe noch einmal finanziell zu halbieren, war eine eklatante Unterbewertung und war eine der Ursachen für die niedrigere Ausstattung mancher aus den Kombinaten ausgelagerter neuer Betriebe mit Eigenkapital.
Die Ursache dafür, daß alle DDR-Betriebe nach der Währungsunion mit Verlust arbeiteten, lag an ihrer im Vergleich zu den westdeutschen Betrieben niedrigeren Produktivität bei gleichen Preisen für ihre Erzeugnisse und für Energie und bezogene Materialien. Auch darin, daß ihre Produktions- und Leistungsprofile den weltwirtschaftlichen Gegebenheiten nicht angepaßt waren. Nur ein längerfristiger Aufhol- und Anpassungsprozeß hätte den wirtschaftlichen Absturz Ostdeutschlands verhindern können. Die etwa zwei Drittel erhaltungsfähigen Betriebe hätten vor ihrer Privatisierung saniert, modernisiert werden müssen. Die Mittel hierfür hätten aus den Erlösen einer so geordneten Privatisierung gewonnen werden können.
Fazit
Die Währungsunion vom 1. Juli 1990 war ein Eckstein, aber auch nur einer der Steine eines Konzepts. Wenn man dieses Konzept darauf hätte ausrichten wollen, den Endsieg im Kalten Krieg zu exekutieren, die Ostdeutschen zu demütigen, die westdeutsche Klientel des Großkapitals zu bedienen, hätte es wirtschaftlich und sozial in der Tat keine Alternative zu der verfolgten Politik geben können: Schnelle Währungsunion, Privatisierung vor Sanierung, Erfindung so genannter "DDR-Altschulden", "Rückgabe vor Entschädigung". Was hätte dies für ein Bild gemacht, wenn zum Beispiel die Treuhandanstalt einen Privatisierungserlös zwischen 600 Milliarden und einer Billion DM erzielt hätte?!
Anmerkung:
[1] Werner Abelshauser: Wirtschaftsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Suhrkamp Verlag Frankfurt/M. 1983, S. 22
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