Keine Steilvorlagen liefern! Ein Briefwechsel
Ellen Brombacher, Waltraud Tegge
In gut einem Vierteljahr wird vor allem die veröffentlichte Meinung den 60. Jahrestag der Ereignisse um den 17. Juni 1953 nutzen wollen, um ihrem Ziel näher zu kommen, die DDR zu delegitimieren und um der LINKEN im Wahlkampf zu schaden. Wir sollten unseren politischen Gegnern keine Steilvorlage liefern. Das betrifft auch die Begriffswahl. Ausgehend von einem Landessprecherratspapier der KPF Mecklenburg-Vorpommern hat sich Ellen im Auftrag des Bundessprecherrates an die KPF-Landessprecherin Waltraud Tegge gewandt und hierauf von Waltraud eine Antwort erhalten. Beides dokumentieren wir. Bundessprecherrat
Liebe Waltraud, Eure Stellungnahme zum ersten Entwurf des Wahlprogramms habe ich mit Interesse gelesen. Vieles, vor allem die Orientierung auf einen konsequenten Oppositionswahlkampf, deckt sich mit dem, was der Bundessprecherrat dem Parteivorstand in Vorbereitung der Vorstandssitzung vom 9./10. 02. 2013 zu selbigem Thema mittgeteilt hat.
Eure Bedenken hinsichtlich des Parteitagstermins teile ich eher nicht. Ich weiß - Ihr seid da gebrannte Kinder. Aber mir scheint, es ist etwas anderes, ob man direkt auf einen geschichtsträchtigen Tag geht, oder sich in dessen Nähe befindet. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass irgendjemand ein Interesse daran hat, im Juni eine innerparteiliche Auseinandersetzung vom Zaun zu brechen. Wäre das der Fall, so ließe sich das ebenso - beispielsweise - am 1. oder 28. Juni bewerkstelligen.
Ich beschäftige mich momentan mit Literatur rund um den 17. Juni 1953; habe Stefan Heyms "5 Tage im Juni" noch einmal gelesen, mir aus Werner Mittenzweis Brechtbiografie den Abschnitt zu diesem Datum noch einmal zu Gemüte geführt und habe vor einiger Zeit "Das Vertrauen" von Anna Seghers oder auch "Was geschah am 17. Juni" von Hans Bentzien gelesen. Bei ihnen allen finden sich ähnliche Herangehensweisen. Nirgendwo sind die Ereignisse dieses Tages und aus der Zeit, die dem 17. Juni vorausging, verkürzt beschrieben und bewertet, und wir sollten das heute auch nicht tun. Besonders nachdenklich hat mich folgende Äußerung Brechts gemacht: "Ich habe drei Jahrzehnte lang in meinen Schriften die Sache der Arbeiter zu vertreten versucht. Aber ich habe in der Nacht des 16. und am Vormittag des 17. Juni die erschütternden Demonstrationen der Arbeiter übergehen sehen in etwas sehr anderes als den Versuch, für sich die Freiheit zu erlangen." Mittenzwei kommentiert hierzu: "Für ihn war der 17. Juni weder nur der ‘faschistische Putsch’ noch der ‘Volksaufstand’. Beide Definitionen schienen ihm einseitig, weil sie die Verwandlungen ignorierten, die innerhalb zweier Tage vor sich gegangen waren" … "Die Parolen", so schrieb Brecht an Suhrkamp, "verwandelten sich rapide. Aus ‘Weg mit der Regierung!’ wurde ‘Hängt sie!’, und der Bürgersteig übernahm die Regie." "Besonders", so Mittenzwei, "empörte Brecht, dass Demonstranten Faschisten aus dem Gefängnis befreiten, wo sie wegen ihrer Verbrechen gegen die Menschlichkeit saßen, so in Halle die ehemalige Kommandeuse von Ravensbrück, die ‘anfeuernde Reden auf dem Marktplatz’ hielt". Und noch einmal Brecht an Suhrkamp: "… machen wir uns nichts vor: Nicht nur im Westen, auch hier im Osten Deutschlands sind ‘die Kräfte’ wieder am Werk. Ich habe an diesem tragischen 17. Juni beobachtet, wie der Bürgersteig auf die Straße das ‘Deutschlandlied’ warf und die Arbeiter es mit der ‘Internationale’ niederstimmten. Aber sie kamen, verwirrt und hilflos, nicht damit durch."
Ähnliches beschreibt Stefan Heym in seinem Roman, der leider in der DDR erst 1990 herausgegeben wurde, auch deshalb, weil er der in der DDR üblichen, verkürzten Darstellung der Ursachen für den 17. Juni 1953 nicht entsprach. Auch Heym lässt keinerlei Zweifel daran aufkommen, dass der Westen die miesen Stimmungen, die durch prinzipielle Fehler von Partei und Regierung entstanden waren, instrumentalisierte, und sich besonders jener bediente, die als Nazis die DDR hassten, und sie - ebenso wie der kapitalistische Teil Deutschlands - liquidiert sehen wollten. Aber er reduziert die Ereignisse nicht auf diese Tatsachen. Heyms Hauptfigur des Romans Witte äußert in einem Gespräch im Rahmen der Betriebsgewerkschaftsleitung: "Wir haben zu wenig darüber nachgedacht … dass sich auch Widersprüche entwickeln können, zwischen der Masse der Arbeiter und ihrem Vortrupp, der Partei. In einem solchen Fall gerät alles in Gefahr, was wir aufzubauen unternommen haben, und auch der Feind hakt ein. Die verschiedenen Mängel und Beschwerden, alte und neue, werden benutzt werden, um Forderungen zu erheben, die sich anhören, als wären sie im Interesse der Arbeiter."
1989 das Déjà-vu, auch, und vielleicht nicht zuletzt, weil wir uns stetig zu wenig Gedanken darüber machten, welche Widersprüche sich entwickeln und wie sie, gemeinsam mit der Klasse, mit der Bevölkerung gelöst werden können.
Am 16. Juni 1953 sprach Walter Ulbricht auf der Tagung des Berliner Parteiaktivs. In aller Offenheit redete er über begangene Fehler: "… ab Sommer 1952 wurde Kurs genommen auf den beschleunigten Aufbau des Sozialismus … Eine Reihe Planaufgaben, die für die Jahre 1954 und 1955 vorgesehen waren, wurden auf das Jahr 1953 vorverlegt, und Aufgaben, die im Fünfjahrplan überhaupt nicht vorgesehen waren, wurden zusätzlich beschlossen. … Der Versuch, die aus dem falschen Kurs entspringenden Widersprüche zu lösen, führte zu einer Reihe fehlerhafter Maßnahmen, zu verschärften Methoden der Eintreibung der Ablieferungsrückstände, verschärften Methoden der Steuererhebung, was dazu führte, dass viele Einzelbauern nicht mehr an der ordnungsgemäßen Weiterführung ihrer Wirtschaften interessiert waren. Es wurden Überspitzungen im Sparsamkeitsregime durchgeführt, wie z.B. die Beschränkung der Fahrpreisermäßigungen für Arbeiter, Schwerbeschädigte, Schüler, Lehrlinge usw., Verschlechterungen auf dem Gebiet der Sozialversicherung, Entzug der Lebensmittelkarten für einen großen Teil des Mittelstandes, eine unzureichende Belieferung der Privatindustrie und der Handwerksbetriebe mit Rohstoffen, die Sperrung langfristiger Kredite für Einzelbauern und Privatunternehmer und anderes. Die Fehler korrigierte die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik durch ihre Beschlüsse vom 11. Juni …" Es ist "… nach wie vor richtig, die Arbeitsproduktivität zu erhöhen, aber es ist falsch, auf administrativem Wege Normerhöhungen zu verfügen. Deshalb hat das Politbüro der SED in seiner heutigen Sitzung beschlossen, der Regierung vorzuschlagen, die Anordnung … auf obligatorische Erhöhung der Arbeitsnormen aufzuheben." Ulbricht bezeichnete die Methoden des Administrierens als das Grundübel und schlussfolgerte, die Garantie dafür, dass solch fehlerhafte politische Linie nicht wiederholt würde, läge "in der weiteren Festigung der Verbindung der Parteiführung und der Partei mit den Massen und offenen Entfaltung der Selbstkritik und Kritik von unten …"
Dass für Gegner der DDR, die es in heute üblichen Geschichtsdarstellungen gar nicht gegeben hat, all dies ein gefundenes Fressen war und der RIAS als "kollektiver Propagandist und Organisator" die Stimmung aufpeitschte und ihr eine in Größenordnungen DDR-feindliche Richtung verlieh, verwundert nicht. Welch verheerende Rolle der RIAS spielte, wird aus der Erinnerung des seinerzeit als Rundfunk-Journalist tätigen Egon Bahr ersichtlich, der vom amerikanischen Programmdirektor gefragt wurde: "Wollen Sie den 3. Weltkrieg auslösen?" Die scharfmacherische Rolle besonders des RIAS entsprach der Linie Adenauers, der bereits am 5. März 1952 im Nordwestdeutschen Rundfunk erklärt hatte, das Ziel sei "nicht nur die Sowjetzone, sondern das ganze versklavte Europa östlich des Eisernen Vorhangs zu befreien." In dieser Situation des Kalten Krieges war es zu erwarten, dass den Sozialismus hassende, noch vor kurzem den Faschismus tragende Kräfte unter falscher Flagge die Situation ausnutzten. Darüber darf ebenso wenig geschwiegen werden, wie über unseren eigenen Anteil an den Ereignissen des 17. Juni 1953.
Wir sind, gerade auch wegen unserer Niederlage 1989/90, verpflichtet, den alten schlimmen Fehler nicht zu wiederholen, komplexe Prozesse auf das zu verkürzen, was uns in den Kram passt. Wenn wir eine sachliche Diskussion über den 17. Juni wollen, dann sollten wir diese nicht von vornherein durch die Begriffswahl - in Eurem Papier wird der 17. Juni auf den Begriff Konterrevolution reduziert - erschweren. Sprechen wir über die Tatsachen und gelangen wir so zu Charakterisierungen, die den historischen Abläufen wirklich gerecht werden.
Liebe Waltraud, Dir dies zu schreiben, war mir ein Bedürfnis. Und das angesprochene Problem ist mir so wichtig, dass ich den Brief mit Friedrich, Jürgen und Thomas abgestimmt habe. Sie unterstützen ihn, so wie er ist.
Mit herzlichen, solidarischen Grüßen
Ellen, Berlin, den 10. Februar 2013
Liebe Ellen, vielen Dank für deinen umfassenden Brief zum Thema 17. Juni 1953. Ohne Zweifel ist er inhaltlich sehr interessant und bestätigt mir vieles, was ich zu diesem Datum bisher in Erfahrung bringen konnte.
Als Kind habe ich zwar diese Zeit in der DDR erlebt, aber in einer Kleinstadt in Mecklenburg und im Alter von 10 Jahren habe ich da nicht viel mitbekommen. Auch wurde im Elternhaus nicht viel über Politik geredet.
Deinen Buchhinweisen möchte ich ein weiteres Buch hinzufügen, welches ich zu DDR-Zeiten mit großem Interesse gelesen habe. Es ist der Roman-Zyklus von Erik Neutsch "Der Friede im Osten". Dort findet man ebenfalls viel interessantes Wissen über unsere DDR-Geschichte.
Wenn wir trotzdem die Terminwahl für den Bundesparteitag kritisch sehen, hat das schon wie Du vermutest mit unseren Erfahrungen in Mecklenburg-Vorpommern zu tun. In der Vergangenheit ging DIE LINKE, auch schon zur PDS-Zeit, sehr unsensibel mit geschichtsträchtigen Daten um. Dies führte leider auch zu Parteiaustritten, über deren Begründungen einfach nicht weiter nachgedacht wurde. So gesehen wurde der Begriff "Konterrevolution" unbedacht gewählt und sagt doch sehr wenig über die Geschehnisse aus.
Eine wirkliche Sicht auf die Geschehnisse im geteilten Deutschland können wir nach meinem Dafürhalten ohnehin erst erlangen, wenn nicht nur die Archive der DDR, sondern auch die der BRD zur Einsicht und Forschung freigegeben werden. Bis dahin wird sicher noch viel Zeit vergehen.
Der neue Angriff auf Gregor Gysi beweist uns wieder einmal, dass gerade im Wahljahr alles unternommen wird, um DIE LINKE. und ihre Politiker zu diskriminieren und damit den Wiedereinzug einer kritischen Oppositionspartei zu verhindern. Dazu brauchen sie wirklich kein besonderes Datum. Nochmals vielen Dank für Deine Zeilen.
Mit ebenso herzlichen und solidarischen Grüßen
Waltraud, Neustrelitz, den 12. Februar 2013