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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Kein Russland, weder Leningrad noch Moskau!

Alexander Tschakowski (Romanauszug)

Am 8. September 1941 schlossen die deutschen faschistischen Truppen den Belagerungsring um Leningrad. Am 27. Januar 1944 brach die Rote Armee die Belagerung. Etwa eine Million Menschen bezahlten die Blockade mit ihrem Leben. Alexander Tschakowski setzte den Verteidgern der Stadt an der Newa mit seinem Roman »Die Blockade« [1] ein bleibendes Denkmal. Zugleich beschrieb er die Barbaren, die noch lange nicht ausgestorben sind. Von ihnen handelt der nachfolgende Auszug aus dem Roman Tschakowskis.

Hitler nahm aus der Hand seines Adjutanten ein schwarzsilbern funkelndes Eisernes Kreuz entgegen und heftete es Danwitz an den Uniformrock. [...]

»Mein Führer!« sagte Danwitz leise und mit einem offenen Blick in Hitlers Augen. »Ich habe diese Auszeichnung nicht verdient. Meine Abteilung ist zurückgegangen, mein Panzer wurde außer Gefecht gesetzt, und ich mußte mit Brandwunden ins Lazarett ...,« [...]

»Sie haben sich tapfer geschlagen«, sagte Hitler nachsichtig. »Und dieser Tage werden Sie Gelegenheit haben, sich der Auszeichnung würdig zu erweisen. Nehmen Sie Platz.«

Er deutete auf einen Sessel. Dann erging er sich im Salonwagen, schlurrte mit den Füßen über den flauschigen Teppich.

»Mir liegt an Leningrad!« Er blieb vor dem Sessel stehen, in dem Danwitz saß. »Doch war es bisher nicht zu nehmen. Ich will wissen, warum nicht?«

»Aber Feldmarschall von Leeb ...«, begann Danwitz, wurde aber von Hitler unterbrochen.

»Ich weiß, was von Leeb denkt, Generalen fehlt es immer nur an Soldaten, Geschützen und Flugzeugen. Mich interessiert jetzt nicht die Meinung von Leebs; ich will Ihre Meinung hören, die Meinung des Frontkämpfers. Und wissen Sie, warum? Weil ich diesen Krieg nicht für von Leeb führe, sondern für Sie. Von Leeb ist alt, Sie sind jung. Sie sind interessiert an einem schnellen Sieg. Es wird Ihr Sieg sein. Ich frage Sie als Frontoffizier, als Truppenführer, der den Gegner kennt: Warum wurde Leningrad bisher nicht genommen? Ich habe Ihnen aufgetragen, mein Auge, mein Ohr zu sein. Jetzt wünsche ich, daß Sie mir Ihre Meinung sagen, alles sagen, was Sie gesehen und gehört haben. Von Hoepner, Reinhardt, von Leeb. Alles!«

Danwitz schwieg. Aber während Hitler meinte, der Major wage nicht, seinen höchsten Vorgesetzten zu kritisieren, bewegten Danwitz ganz andere Gedanken.

Da steht er vor mir, der Mann, der Führer, in dessen Dienst ich mein Leben gestellt habe, dachte er. Ein Satz von ihm, ein Wort genügt, mir die Fragen zu beantworten, die mir schon seit Tagen keine Ruhe lassen. Ich habe niemand, weder Frau noch Freund. BIoß ihn, den Führer. Vor ihm darf ich nichts geheimhalten. Diese ganzen Tage habe ich mir das unwahrscheinliche Glück gewünscht, ihm erneut zu begegnen. Und nun hat sich dieser Wunsch plötzlich erfüllt. Weshalb spreche ich dann nicht? Was fürchte ich? Was habe ich für Bedenken?

»Warum antworten Sie nicht, Danwitz?« fragte Hitler mit einer gewissen Gereiztheit. Er wünschte, der Maior möge ihn in der Vermutung bestärken, daß die Rückschläge der letzten Wochen zu erklären seien aus dem Unvermögen von Leebs, Hoepners, Reinhardts, Mansteins, egal wessen, wenn sich bloß ein Indiz für jemandes Schuld fand.

Danwitz indessen fühlte sich von Hitler aufgefordert, seine Zweifel darzulegen.

Er sprang auf.

»Mein Führer!« sprach er mit vor Erregung flackernder Stimrne. »Ist es nicht möglich, daß wir den Gegner unterschätzt haben? Ich weiß nicht, was ihn bewegt – Angst, Verzweiflung, eingedrillter Gehorsam oder bolschewistischer Fanatismus. Jedenfalls leistet er Widerstand. Ich versuche immer zu begreifen, was in ihm vorgeht. Er leistet auch dann Widerstand, wenn Widerstand sinnlos ist. Kämpft auch eingekesselt weiter. Kämpft, wenn wir ihm zahlenmäßig doppelt und dreifach überlegen sind. Sprengt sich in der Einkreisung mitsamt Bunkern in die Luft, jawohl, schießt bis zur letzten Granate und sprengt sich dann in die Luft. Auf jeden Gefangenen, den wir machen, kommen drei, die sich die letzte Kugel in die Stirn jagen. Ich frage mich immer: warum?«

»Kann das lhres Erachtens als Entschuldigung dienen?« begann Hitler fast drohend. Danwitz jedoch, ganz im Banne seiner Gedanken, bemerkte Hitlers Ton nicht.

»Nein, mein Führer, nicht als Entschuldigungl Ich bin bereit mir eine Kugel durch den Kopf zu jagen, weil ich gewichen bin! Doch Sie haben von mir die Wahrheit verlangt, und ich habe sie ausgesprochen. Sagen Sie« – und das mit Verzweiflung in der Stimme –, »womit der Widerstand des Feindes gebrochen werden kann! Ein Wort von Ihnen, und mir wird alles klar sein. Bloß ein Wort!«

Im ersten Moment hätte Hitler am liebsten losgebrüllt, Danwitz zum Schweigen gebracht, ihn geschlagen. Der von ihm dermaßen geförderte Major kam ihm mit denselben Zweifeln, die in verschleierter, abgeschwächter Form auch schon in der Wolfsschanze geäußert worden waren.

Aber vor ihm stand ein ihm ergebener Mann, sein Paladin, zu allem entschlossen, und dieser Gedanke gewann die Oberhand.

Der Paladin harrte der Befehle. Harrte des magischen Wortes. Wohlan, er sollte dies Wort hören.

»Mit rücksichtsloser Härte!« schleuderte er Danwitz ins Gesicht. »Wir müssen so hart sein, daß wir die Welt schaudern machen! Wir müssen diese ganzen Jammergesetze der alten Welt mit ihrer jüdisch-christlichen Überlieferung zertreten! Wir müssen dieses Geschling von unseren Füßen schütteln! Wenn man mir sagt, wir wollen ein neues, Deutschland ergebenes Polen, so antworte ich, nein, ich will überhaupt kein Polen. Es gibt gar kein Polen. Es gibt bloß Land, das Deutschland gehört und das leider noch die nächsten Jahre von Polen bevölkert sein wird! Mag die polnische Arbeitskraft noch eine Weile bleiben – dann Punkt, Schluß! Wenn man mir von einem künftigen Staatengebilde Rußland spricht, von einer deutschfreundlichen Regierung, so antworte ich: Nein! Ich will kein Rußland, weder ein feindlich noch freundlich gesonnenes, ich will nur den östlichen Raum. Deswegen auch werde ich nie eine Kapitulation annehmen, weder von Leningrad noch von Moskau! Ich werde sie dem Erdboden gleichmachen, sie in Staub und Asche, in riesige Krater verwandeln!« Er verstummte, schnaufte, die Hände in der Luft krampften sich zur Faust und entspannten sich wieder.

Danwitz rührte sich nicht. Er war schon geneigt zu sagen, daß seine Soldaten und er ohnehin mit grenzenloser Härte vorgingen. Er dachte an die vielen, die sie an Telegraphenmasten und Bäumen aufgehängt oder lebendig in Brunnen geworfen hatten, er wollte sagen, daß er nicht wüßte, mit welcher Art Härte die Russen abzuschrecken, in die Knie zu zwingen seien, hielt sich aber zurück. Er hatte jetzt nur einen Gedanken – so rasch wie möglich zur Truppe und alles tun, um den Führerbefehl auszuführen.

»Leningrad muß in kürzester Zeit genommen werden«, begann Hitler erneut. »Zu diesem Zweck gehe ich sogar so weit, die Heeresgruppe Mitte zu schwächen. Der neue Angriff wird beginnen, sobald von Leeb die Kräfte umgegliedert hat. Haben Sie eine Bitte, Danwitz?«

»Nur eine. Ich bitte unverzüglich zu meiner Einheit zurück zu dürfen.«

»In Ordnung, Sie können gehen.« Hitler nickte.

Danwitz ging zur Tür, blieb dort stehen, machte eine zackige Kehrtwendung, riß den rechten Arm mit der verbundenen Hand hoch und rief: »Heil, mein Führer!«

Er blieb mit erhobener Hand stehen, weil Hitler langsam auf ihn zukam. Der Führer trippelte fast, es sah aus, als habe er auf dem flauschigen Teppich Schwierigkeiten mit den Füßen.

Sein Blick, aus tiefen Augenhöhlen, saugte sich stechend an Danwitz fest.

»Wohlgemerkt, mit rücksichtsloser Härte!« erklärte er mit gepreßter Stimme und wiederholte: »Mit rücksichtsloser Härte!«

Anmerkung

[1]  3 Bände, Verlag Volk und Welt, Berlin 1975.