Kein Heim ersetzt die Familie
Interview mit Prof. Dr. Eberhard Mannschatz
Über die Sozialpädagogik in der DDR, Makarenko und die internationale Community
Es hat in der DDR nur einen einzigen Lehrstuhl für Sozialpädagogik gegeben, Sie waren der einzige Professor für diesen Fachbereich. Was ist aus diesem nach der Wende geworden?
Da es in Berlin drei solcher Lehrstühle gab - an der Humboldt-Universität im Osten und jeweils einen an der Freien Universität und der Technischen Universität im Westen –, war man 1991 der Auffassung, dass einer zu viel sei. Eine nicht unbedingt falsche Einschätzung. Der an der Humboldt-Universität wurde jedoch nicht einmal evaluiert, sondern schlicht geschlossen. Ich wurde, keineswegs unfroh, mit 64 Jahren emeritiert, zwei Kollegen ebenfalls, zwei andere Mitarbeiter wurden von der TU übernommen.
Was mich wundert ist der Umstand, dass in der DDR diesem Zweig der Pädagogik so wenig Aufmerksamkeit gewidmet worden ist. Oder täuscht der Eindruck?
Keineswegs. Das hing mit dem Wunderglauben zusammen, dass mit dem weiteren Voranschreiten der sozialistischen Gesellschaft die sozialen Konflikte verschwinden und die Familien allein klarkommen würden. Überall würde eitel Harmonie herrschen. Sozialpädagogik hilft – abstrakt formuliert – jungen Menschen, die benachteiligt und ausgegrenzt sind oder Probleme haben, ihren Platz in der Gesellschaft zu finden. Und da sich dafür in der DDR angeblich alle gesellschaftlichen Institutionen, insbesondere die Volksbildung, zuständig fühlten, schien kein Bedarf für eine Sozialpädagogik zu bestehen.
Dennoch wurde 1966 an der Humboldt-Universität der Bereich Sozialpädagogik installiert, was dieser Annahme zu widersprechen schien.
Sagen wir so: Die Partei und die Minister für Volksbildung und Hochschulwesen hatten nichts dagegen, einen solchen Lehrstuhl zu schaffen, aber sonderlich unterstützt haben sie ihn in der Folgezeit nicht. An der Akademie für Pädagogische Wissenschaften gab es nie ein Institut für Sozialpädagogik. Unser Bereich blieb ein Solitär in der Wissenschaftslandschaft, und mehr als fünf Planstellen gab es nie. Im übrigen habe ich die Gründung des Lehrstuhles seinerzeit selbst beantragt. Elf Jahre habe ich als Honorarprofessor wöchentlich drei Stunden Vorlesungen gehalten, neben meiner Tätigkeit als Abteilungsleiter im Volksbildungsministerium, bis ich 1977 hauptamtlich an die Universität wechselte.
Wie kamen Sie zu Ihrem Beruf, Ihrer Berufung?
Ich wurde 1950 an das gerade gegründete Deutsche Pädagogische Zentralinstitut geschickt, aus dem später die Akademie der Pädagogischen Wissenschaften hervorging. Direktorin war seinerzeit Elisabeth Zaisser, Volksbildungsminister war Paul Wandel. Der erteilte mir den Auftrag, in Zusammenarbeit mit ausgewählten Heimleitern und Kreisreferenten für Jugendhilfe eine Konzeption für die Jugendhilfe und Heimerziehung zu entwerfen, was ich auch tat. Das wiederum führte dann dazu, dass ich überraschend 1951 zum Abteilungsleiter für Jugendhilfe im Volksbildungsministerium berufen wurde, was ich de facto ein Vierteljahrhundert blieb – mit Unterbrechungen: nämlich einem Praxisjahr in einem Jugendwerkhof auf eigenen Wunsch und drei Jahren wissenschaftlicher Aspirantur.
Wie war die Lage in der Heimerziehung der DDR?
In der DDR gab es ca. 600 Heime: Kinderheime für Schulpflichtige, wobei diese Kinder die jeweilige Ortsschule besuchten, sodann Jugendwohnheime mit Besuch von betrieblichen Ausbildungsstätten und mit Berufsschule, desweiteren einige Kinderheime mit eigener Heimschule und etwa 150 Kinderheime in kirchlicher Trägerschaft sowie schließlich die Jugendwerkhöfe, in denen berufliche Qualifizierung angeboten wurde. Auf Grund der begrenzten Aufenthaltsdauer in den Jugendwerkhöfen und auch des Bildungsstandes der Jugendlichen handelte es sich dabei nur um »Anlernberufe«, die in heimeigenen Werkstätten gelehrt wurden und deren Profil begrenzt war. Zudem stand nicht in jedem Falle fest, dass die Jugendlichen nach ihrer Entlassung in ihrer jeweiligen Region diesen Beruf auch ausüben können. Wir richteten also zeitweilig kleine Jugendwerkhöfe an Großbaustellen ein. Dieser Versuch wurde bald aufgegeben, denn es stellte sich heraus, dass die Betriebe trotz Zusicherung weniger an Ausbildung als an Arbeitskräften interessiert waren. Eine mit den Organen für Berufsbildung ausgehandelte Variante, dass «unsere» Jugendlichen in Lehrlingswohnheimen mit erweiterter pädagogischer Betreuung aufgenommen werden sollten, kam nicht mehr zum Tragen.
Und Torgau?
Das war ein Sonderfall, der reichlich Furore gemacht hat und noch immer macht. Es handelte sich um die einzige Einrichtung mit dem Charakter »Geschlossene Unterbringung« in der DDR, im Unterschied zu vergleichbaren Einrichtungen in der Bundesrepublik vor und nach der Vereinigung. Nach Torgau gab es keine Direkteinweisungen. Für maximal sechs Monate gelangten in diese Einrichtung Jugendliche, die aus Jugendwerkhöfen wiederholt ausgerissen sind und auf ihrem »Weg in die Freiheit« gelegentlich Ordnungswidrigkeiten oder Straftaten begangen hatten. Also zum Beispiel ein Moped oder im Konsum geklaut haben. Damit wurden sie ein Fall fürs Ministerium des Inneren und tauchten auch dort in der Kriminalitätsstatistik auf. Das heißt, sie fielen aus der Zuständigkeit des Ministeriums für Volksbildung. Das Innenministerium wollte aber, dass diese Fälle im Bereich der Volksbildung verblieben und drängte auf eine geschlossene Einrichtung. Sechs Jahre lang leisteten wir als Fachabteilung – übrigens gemeinsam mit der Volksbildungsministerin Margot Honecker – Widerstand, auch öffentlich. Man kann dazu meine Beiträge in unseren seinerzeitigen Fachzeitschriften »Jugendhilfe« und »Pädagogik« der 1960er Jahre nachlesen. Dann entschied der Ministerrat den Streitfall. Wir haben zumindest erreichen können, dass es nur bei einer Einrichtung blieb. Eine nach der Wende erschienene Dissertation, in der die Vorgeschichte von Torgau akribisch recherchiert und nachgezeichnet ist, bestätigt meine Schilderung.
Was hatte es mit den »Sonderheimen« auf sich?
Dabei handelte es sich um einen Verbund von zwei Einrichtungen für psychologische Diagnostik und Therapie, ausschließlich für Kinder aus unseren Heimen. Die damalige Bezeichnung »Kombinat der Sonderheime« war dümmlich und dem Umstand geschuldet, dass in der DDR-Wirtschaft Kombinate gebildet worden sind.
Manche ehemalige Heiminsassen berichten heute von fortgesetzten Übergriffen, von Drangsal und Demütigung.
Ich bin weit davon entfernt, alle diese Berichte als falsch zurückzuweisen. Tatsache bleibt: Nicht das Heim war das Unglück und der Schicksalsschlag, der das Leben eines jungen Menschen veränderte, sondern der Verlust der Eltern oder die erlebte Verwahrlosung in Familien, die Jugendämter zwang, Kinder aus ihrer Umgebung zu nehmen. Kein Heim, so sehr sich die Mitarbeiter auch mühen, kann die Familie ersetzen. Aber die DDR-Heime waren nicht die »Hölle«, als die sie heute mitunter dargestellt werden.
Ist Ihnen jemals eine Beschwerde auf den Schreibtisch gekommen?
Nein, konkret nicht. Nun will ich gern einräumen, dass ich nicht alles erfuhr. Übergriffe wurden auf der örtlichen Ebene disziplinarisch verfolgt. Dafür waren die Kreis- und Bezirksschulräte mit ihren Referaten Jugendhilfe zuständig. Sofern etwas ruchbar wurde, ergriffen sie entsprechende Maßnahmen: Belehrungen, Verweise, Kündigungen, Antrag auf gerichtliche Bestrafung.
Ich erinnere mich allerdings, dass die Leitung des Volksbildungsministeriums einmal eine Überprüfung aller Durchgangsheime durch die Hauptschulinspektion anordnete, wegen der Meldung von Vorkommnissen. Die Überprüfung ergab keine Mängel, kein Fehlverhalten. Zu einem späteren Zeitpunkt wurde eine umfassende Inspektion aller »Spezialheime« durchgeführt, die Mängel und Fälle von Fehlverhalten feststellte, woraufhin die Beobachtung und Anleitung dieser Einrichtungen intensiviert wurde.
Woran oder an wem orientierten Sie sich bei Ihrer konzeptionellen Anleitung?
Vornehmlich an dem sowjetischen Reformpädagogen Anton Semjonowitsch Makarenko.
Weil das die Sowjets wünschten?
Quatsch. Weil überall nach dem Krieg fortschrittliche Pädagogen, nicht nur die Reformpädagogen der Weimarer Zeit, die die Hitlerdiktatur überlebt hatten, nach neuen Wegen in der Erziehung suchten und »Neueinsteiger« wie ich sich an ihnen orientierten. Makarenkos Buch »Weg ins Leben« wurde von vielen mit großem Interesse und begeisterter Zustimmung gelesen. Makarenko hatte »auf der grünen Wiese« einen Neuanfang gewagt. Er wollte Kindern und Jugendlichen ohne Zwang und ohne hierarchische Autorität »beamteter« Erwachsener den Weg ins Leben ebnen, sie mit Achtung, Aufrichtigkeit und Vertrauen begleiten. Sein Erziehungsprinzip war die Einheit von verinnerlichter Disziplin, Selbstverwaltung und nützlicher Arbeit. Er nahm hierfür theoretische Anleihen bei Rousseau, Pestalozzi und anderen Humanisten.
Makarenko hat in seiner Gorki-Kolonie nach dem Ersten Weltkrieg und dem Bürgerkrieg verwaiste und verwahrloste Kinder und Jugendliche aufgenommen, die auch straffällig geworden waren. Er schuf die erste koedukative pädagogische Einrichtung der Sowjetunion, deren Kern die Resozialisierung war. Wir hatten nach dem Zweiten Weltkrieg eine ähnliche Situation. In der Bundesrepublik begann man sich in den 1960er Jahren intensiv mit Makarenkos Ansatz zu beschäftigen, an der Universität Marburg wurde an der Forschungsstelle für Vergleichende Erziehungswissenschaft eine entsprechende Arbeitsgruppe gebildet.
Ist Makarenko noch zeitgemäß? Einer der Schlüsselbegriffe bei ihm lautet »Kollektiverziehung«.
Sein Erziehungsprinzip »Ich fordere dich, weil ich dich achte!« erscheint mir unverändert nützlich bei der Erziehung. Aber natürlich konnten und wollten wir Makarenko nicht Eins zu Eins übernehmen. Uns ging es um seine pädagogischen Auffassungen, die sich verallgemeinern und damit auch bei uns anwenden ließen. Ich räume ein, dass wir uns bei der Interpretation seiner »Lehre« mitunter ein wenig vergaloppiert haben.
Ärgert es Sie, wenn – wie bei der Heimproblematik – die DDR pauschal verdammt wird?
Natürlich. Aber ich sage ehrlich, dass ich mit 90 Jahren des Kämpfens ein wenig müde bin. Ich möchte nicht, wie in Vergangenheit wiederholt geschehen, von Kamerateams vor meiner Wohnung aufgelauert und von nassforschen Journalisten, die von der Materie keine Ahnung haben, öffentlich gemaßregelt werden. Das habe ich alles durch und möchte es nicht noch einmal erleben. Wer frei von Sünde ist, werfe den ersten Stein, heißt es in der Bibel. Da sind mir zu viele Pharisäer unterwegs.
Gab es nach dem Mauerfall Kontaktaufnahme zu westdeutschen Kollegen?
Kontakte gab es schon zuvor. Gäste nicht nur aus der BRD besuchten unsere Heime. Und es gab nach der Wende durchaus hoffnungsvolle Ansätze, dass sich Fachleute aus Ost und West zusammensetzten und ihre Erfahrungen kritisch austauschten. Denn da wie dort hatten sich pädagogische Ansätze verändert, hatte es eine Entwicklung gegeben. Dieser Dialog wurde von kleinkarierten Wichtigtuern, eingefleischten Antikommunisten und DDR-Hassern aus ideologischen Gründen abgewürgt.
Sie waren viele Jahre auch Vizepräsident der Fédération Internationale des Communautés Educatives, der Internationalen Gesellschaft für erzieherische Hilfen.
Ja, sie ist 1948 von der UNESCO in der Schweiz gegründet worden. Der Schwerpunkt der Tätigkeit dieses Netzwerkes liegt in der Verbesserung der außerfamiliären Erziehung, also Heimerziehung, Jugendhilfsmaßnahmen, Jugendwohlfahrt. Es gab in der FICE trotz Hallstein-Doktrin zwei deutsche Sektionen. In die von der Organisation entwickelten Qualitätsstandards und Richtlinien flossen auch Erfahrungen aus der DDR ein, worauf ich durchaus stolz bin.
Interview: Frank Schumann
Quelle: www.neues-deutschland.de/artikel/1068427.ddr-heimkinder-kein-heim-ersetzt-diefamilie.html